Ats Vooglaid liebt Autos und Geschwindigkeit. Sein 350 PS starker Lotus Elise beschleunigt in fünf Sekunden von 0 auf 100 km/h. So rasant will der Jungunternehmer nun auch elektrisch Gas geben. Vor drei Monaten kaufte sich der 38-jährige Este einen BMW i3. „Das Elektroauto fährt sich wie ein Rennwagen“, sagt er. Und endlich sei auch Platz für Frau und Baby. Für den Esten ist der i3 zum Lotus „die perfekte Ergänzung“.
Angst, mit leerer Batterie am Straßenrand stehen zu bleiben, hat Vooglaid nicht. In der Regel lädt Vooglaid die Batterie des i3 nachts in seiner Garage auf. Und bei der jüngsten Fahrt war er sparsam. 14 Kilowatt hat er verbraucht, zeigt die Hersteller-App auf seinem Nokia-Smartphone an. Ein Viertel der Energie gewann er durch Bremsvorgänge zurück. 100 Kilometer für einen Euro – „eine gute Bilanz“, so Vooglaid. Auch für Überlandfahrten ist in Estland gesorgt: Alle 50 Kilometer steht eine Schnellladesäule am Straßenrand.
Die flächendeckende Lade-Infrastruktur für Elektroautos ist Estlands neuestes Vorzeigeprojekt – und damit ist der nördlichste Staat im Baltikum mal wieder einen Schritt voraus. Das kleine Land, etwa so groß wie Niedersachsen, gibt vor allem als effizienteste Bürokratie Europas auf dem Kontinent den Takt der Veränderung an. Die Verwaltung made in Tallinn könnte gar die Blaupause für die Modernisierung der Europäischen Union liefern.
5 Dinge, die in Estland digital funktionieren
Abzugsfähige Ausgaben wie Versicherungen, Kredite oder Kindergartenbeiträge übermitteln Unternehmen und Behörden direkt ans Finanzamt. Die Steuererklärung am Jahresende steht fertig im Netz, der Bürger gibt sie nur frei. Das dauert wenige Minuten. Der Staat erstattet Steuern binnen zwei Wochen.
Eine Firma zu gründen dauert kaum länger als eine Viertelstunde. Die Umsatzsteuer verrechnen die Behörden in kürzester Zeit. Und selbstverständlich unterzeichnen Unternehmen ihre Verträge per digitaler Signatur.
Jede Schule im Land ist ausgerüstet mit Computern und IT. Lehr-, Unterrichts- und Stundenpläne stehen im Netz. Eltern können rund um die Uhr die Leistungen ihrer Kinder einsehen. Die Noten von Klassenarbeiten gehen online. Das digitale Schulbuch ist längst Realität.
Seit 2005 können die Esten online wählen – per Lesegerät und ID-Karte. Votierten damals bei der Kommunalwahl nur zwei Prozent digital, waren es bei der Europawahl vor knapp zwei Monaten 31 Prozent.
Rezepte, Röntgenbilder und Diagnosen speichern Krankenkassen auf Servern. Ärzte greifen auf die Daten ihrer Patienten zu, teure Doppeluntersuchungen werden vermieden. Das System hält jede Abfrage fest. Auf Wunsch kann der Patient bestimmte Daten für den Zugriff sperren.
Seit Jahren zählt das Land mit seinen 1,4 Millionen Einwohner zum Musterknaben der EU. In den vergangenen vier Jahren wuchs es im Schnitt um vier Prozent pro Jahr – nur der südliche Nachbar Lettland entwickelte sich dynamischer. Die staatliche Schuldenquote liegt bei zehn Prozent des Bruttoinlandsprodukts. In der Finanzkrise unterstützte Estland das Rettungsprogramm der EU für Griechenland, obwohl die Südeuropäer ein höheres Einkommen pro Kopf erzielen als die Esten. Das Land arbeitet, statt zu murren – und ist eine Hochburg der ALDE, wie sich die Allianz der Liberalen und Demokraten im Europaparlament nennt.
Konkurrenz zu SAP
Die Menschen machen den Unterschied. Leute wie Vooglaid, der zusammen mit Partnern 2000 das erfolgreiche Unternehmen Directo gegründet hat und in Nordeuropa dem deutschen Softwarekonzern SAP Konkurrenz macht. Für ihn und seine Mitbürger ist die Verknüpfung mit der digitalen Welt eine Grundvoraussetzung für alles Neue im Land. Vooglaid reguliert Heizung und Ladevorgang im i3 per App, wertet seine Stadtfahrten aus und sucht bei Überlandfahrten die nächste Ladesäule im Internet. Der Staat subventioniert den Kauf eines Elektroautos mit bis zu 18 000 Euro. Nach zähem Start machten es ihm inzwischen mehr als 600 Bürger nach. Vooglaid will damit auch „einen ökologischen Beitrag leisten“.
Neue Technologien haben es einfach in Estland, vor allem, wenn sie digital sind. Seit Jahren setzt der Staat Maßstäbe beim E-Government. Das Land garantiert jedem Bürger eine Netzidentität, die jeder in Form seines Personalausweises mit sich trägt. E-Estonia nennt der Staat die Strategie, die öffentliche Verwaltung zu digitalisieren. Und Taavi Kotka ist der IT-Kopf der Regierung. „Es gibt ein Grundrecht auf Internet“, sagt Kotka. Über Kartenlesegeräte, die per USB an den Computer gesteckt werden, und über die Eingabe des persönlichen Codes autorisieren die Esten ihren Datenverkehr mit dem Staat.