Frauen und Karriere Hört auf, euch zu optimieren, bis der Arzt kommt!

Frauen wollen viel erreichen und arbeiten hart – trotzdem fühlen sie sich oft frustriert und ohnmächtig. Die Philosophin Rebekka Reinhard empfiehlt ihnen statt der üblichen unerschütterlichen Nettigkeit eines: Macht.

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, „Die Frau von heute ist ziemlich tüchtig“, schreibt die Philosophin Rebekka Reinhard. „Sie neigt dazu, sich (für andere) zu optimieren, bis der Arzt kommt.“ Quelle: Getty Images

München Die Frau von heute ist ziemlich tüchtig. Sie neigt dazu, sich (für andere) zu optimieren, bis der Arzt kommt. Die Macht ihres Chefs mag groß sein – viel größer ist die Macht, die sie auf sich selbst ausübt. Die Philosophin Rebekka Reinhard plädiert dafür, aus solchen Konventionen auszubrechen, anstatt sich vom „Normalen“ unterjochen zu lassen. Wer an der vorhandenen Welt leidet, tut gut daran, sich eine neue zu schaffen. Wie, beschreibt Reinhard in diesem Gastbeitrag, den sie exklusiv geschrieben hat für unsere Initiative Leader.In zur Vernetzung erfolgreicher Frauen und Männer aus der Wirtschaft.

„Es steht fest, dass es Frauen gibt, deren Gehirn ebenso groß ist wie das irgendeines Mannes“, schrieb der britische Philosoph und Frauenfreund John Stuart Mill 1869. „Ich weiß, dass ein Mann, der mehrere menschliche Gehirne gewogen hat, erklärt hat: Das schwerste, welches man bis dahin gefunden ... sei das einer Frau gewesen.“

Inzwischen hat die Forschung einige Fortschritte gemacht. Heute wissen wir, dass die moderne Frau nicht nur zu erstaunlichen Denkleistungen fähig ist, sondern zu weit mehr. Es gibt heute Konzernlenkerinnen, Bundeskanzlerinnen, Friedensnobelpreisträgerinnen – und ab 2016 (davon gehen wir doch aus!) eine Präsidentin der Vereinigten Staaten von Amerika. Aber nehmen wir die, der die Zukunft gehört, doch einmal etwas genauer unter die Lupe: die moderne Frau.

Stellen wir die philosophische Grundfrage: Was ist die moderne Frau? Ein hochkomplexes, hochintelligentes Wesen, das durch Kompetenz, Engagement und Empathie besticht! Die Frau, von der wir reden, will beruflich hoch hinaus, sie will eine verlässliche Partnerin, großartige Mutter und/oder treue Freundin sein – und sie möchte stets gut aussehen dabei. Sie ist nicht nur hochambitioniert, sie kann auch viel. Sie ist mächtig. Oft, ohne es zu wissen.

Das Wort Macht stammt vom altgotischen „magan“ für „machen“ oder „können“ ab. Macht ist eine Fähigkeit. Ein Vermögen. Es ist die Potenz, Einfluss zu nehmen, etwas zu bewirken, zu gestalten, zu verändern. Wo Macht ist, ist immer auch Ohnmacht. Das Spannungsfeld zwischen Macht und Ohnmacht bestimmt nicht nur unsere beruflichen und privaten Beziehungen, sondern auch die Beziehung zu uns selbst. Was die moderne Frau braucht, ist mehr Mut zur Macht; zur Potenzialentfaltung. Denn ohne Macht kein Glück, keine Freiheit, keine Anerkennung.


Optimieren, bis der Arzt kommt

Die Frau von heute ist ziemlich tüchtig. Sie neigt dazu, sich (für andere) zu optimieren, bis der Arzt kommt. Die Macht ihres Chefs mag groß sein – viel größer ist die Macht, die sie auf sich selbst ausübt. Sie überwacht und diszipliniert sich, bis sie nicht mehr weiß, wozu. Bevor sie irgendeinen klaren Gedanken fassen kann, hat sie schon „Ja!“ gesagt. Zu ihrem Chef, ihrem Mann, ihrem Kind, ihren Freundinnen.

Sie lässt ihr schlechtes Gewissen für sich arbeiten und geht erst mal in Vorleistung. Was immer man von ihr will, sie ist zur Stelle: „Machen Sie die Präsentation fertig?“ Selbstverständlich! „Erledigst du den Haushalt?“ Klar! „Ich kann nicht mehr....“ Ich schon. Ich wasche, koche, stelle die Präsentation fertig, gewinne die Verhandlung, vergleiche die Handy-Tarife, versorge die Schwiegereltern, buche den Urlaub – ich brauche keinen Schlaf!

Ein Leben, das nicht nur andere glücklich macht, sondern auch uns, wartet nicht irgendwo geduldig da draußen auf uns, bis wir endlich soweit sind, es zu leben – es beginnt in uns selbst. Der Machtkampf zwischen stark und schwach, oben und unten ist nicht nur ein soziales Geschehen. Dieser Kampf findet auch in uns selbst statt. Kampf ist immer dann, wenn ein Teil von uns Freiheit und Anerkennung begehrt – und der andere ihm dies versagt. Frei werden oder in der Anspannungsspirale stecken bleiben? Macht oder Ohnmacht? Wer wollen wir sein?

Solange wir Kinder sind, wollen wir alles Mögliche werden. Wir scheren uns nicht um das „Man“, die Konventionen. Wir glauben, das Leben sei ein großer Spaß. Wir können es gar nicht erwarten, erwachsen zu sein und über unseren eigenen Lippenstift zu verfügen... Ist es dann endlich soweit, sind wir irgendwie enttäuscht. Schnell finden wir heraus, dass es in der Erwachsenenwelt gilt, sich zu benehmen. Sich anzupassen. Normal zu sein.

Eine normale Frau ist nett, fällt anderen nicht ins Wort und nimmt ihnen die Arbeit ab. Oder? Auch im Jahr 2015 nach Christus sind geschlechtsspezifische Stereotype nicht ausgerottet. Auch heute behandelt man uns mitunter, als könnten wir nicht bis drei zählen („Eine normale Frau denkt nicht!“) und hätten an akademischen Lehrstühlen oder in Großkonzernen nichts verloren („Eine normale Frau gehört an den Herd!“). Eine Frau, die nicht die Mutterschaft, sondern einen Vorstandsposten anstrebt, ist bestimmt nicht normal! Eine Mutter, die sich täglich in sich selbst vergräbt, Bücher wälzt, mathematische Formeln erdenkt, messerscharfe Argumente entwickelt, eine Professur für sich beansprucht, kann keine „gute“ Mutter sein! Sie muss abnormal sein!


Kritik macht frei. Kritikfähigkeit ist Macht.

Die normative Kraft überkommender Geschlechter-Stereotype ist bemerkenswert. Sie verführt die Frau von heute dazu, sich in entscheidenden Situationen unwillentlich zu benehmen, als sei sie von gestern. Aus philosophischer Sicht sind das habituell-subtile Unter-den-Teppich-Kehren des eigenen Könnens und die damit verbundene Bereitschaft, Denken und Tun an andere zu delegieren, alles andere als Bagatellen.

Wann immer wir uns der sogenannten Normalität fügen, uns von der (vermeintlichen) Expertise anderer beherrschen lassen, verharren wir in der „selbstverschuldeten Unmündigkeit“ (Immanuel Kant). Wann immer wir aus Angst, nicht mehr gemocht, zurechtgewiesen, degradiert zu werden, von unseren eigentlichen Überzeugungen Abstand nehmen, opfern wir unser kritisches Urteilsvermögen.

Kritik macht frei. Kritikfähigkeit ist Macht. Die Macht, „tolerierbar“ von „indiskutabel“ zu unterscheiden – und die Konsequenzen daraus zu ziehen. Die moderne Frau ist nicht (nur) normal. Sie kann vieles sein. Ehefrau, Mutter, working mom, single mom, Feministin, Konservative, Pionierin, Künstlerin, Philosophin, Angestellte, Aufsichtsrätin, Präsidentin, Tänzerin. Sie ist mächtig. Wir sind mächtig: „Über Macht verfügt niemals ein einzelner“, schreibt Hannah Arendt. Macht basiert auf einem „Wir“ – aber dieses „Wir“ fängt in uns selbst an; beim Dialog zwischen uns und unserem Gehirn.

„Ein Weg von 1000 Meilen beginnt mit dem ersten Schritt“, sprach Laotse. Der Weg der machtwilligen Frau von heute – und das gilt es an dieser Stelle zu betonen – beginnt mit der Befriedigung ihrer Grundbedürfnisse: Schlafen und Essen. Gewiss, mit leerem Magen und tief verschatteten Augen kann man ziemlich gut funktionieren. Die klaren Gedanken, kritischen Urteile, bahnbrechenden Ideen bleiben allerdings aus; und auf diese kommt es eben an.


Die wahrhaft Mächtige votiert gegen das Müssen

Denken ist nicht gleich „Denken“. Denken heißt nicht Grübeln. Es heißt auch nicht, permanent die anderen im Sinn haben, ständig über der vermeintlichen Exzellenz anderer zu brüten. Was, Anke ist um 14 Prozent perfekter als ich? Muss ich da nicht noch einen Gang zulegen? Durchaus nicht. Die wahrhaft Mächtige votiert gegen das Müssen. Denn Müssen ist Ohnmacht. Macht heißt, eigene Gedanken zu denken, und nicht die der anderen.

Es heißt, zu wissen, wofür man lebt und so zu handeln, wie es den eigenen Zielen und Werten entspricht. Aber was, wenn einem sein „Wofür“ unbekannt ist? Ich empfehle, in Biographien mächtiger Frauen zu schmökern: von Christine de Pizan (alleinerziehende Mutter und Dichterin im Frankreich des Hundertjährigen Krieges) zu Ada Lovelace (Entwicklerin des ersten Computer-Algorithmus), von Mary Wollstonecraft (Philosophin und „Hyäne im Petticoat“) zu George Sand (Bestsellerautorin und Männerschwarm im Herrenanzug). Angesichts der Entschlossenheit, Hartnäckigkeit, Cleverness und Liebesfähigkeit jener längst verstorbenen Damen ist Staunen wohl die einzig angemessene Reaktion. Was Frauen im Mittelalter, im 18. oder 19. Jahrhundert vermochten, warum vermögen wir das nicht? Wo bleibt unser Mut?

Als Philosophin plädiere ich für einen strategischen Nonkonformismus. Es ist immer besser, den (wenigstens temporären) Ausbruch aus dem System zu wagen, statt sich vom „Normalen“ unterjochen zu lassen. Wer an der vorhandenen Welt leidet, tut gut daran, sich eine neue zu schaffen. Wie? Es gibt so viele Möglichkeiten jenseits der Ohnmacht. Niemand kann uns verbieten, anders zu sein. Etwas Neues zu wagen, für eine Idee zu streiten, ein Unternehmen zu gründen, die Erde zu erforschen... Oder: einen Salon ins Leben zu rufen – wie Madame de Staël und andere weibliche Größen im Umkreis der philosophischen Aufklärung.

Wenn wir wollen, wenn es uns interessiert, können wir mit Gleichgesinnten diskutieren, debattieren, musizieren, lachen und unsere Gedanken befreien. Wir könnten es tun. Es steht in unserer Macht, uns zu verändern. Die zu werden, die wir sind.

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