Türkei nach dem Putschversuch "Es kommen täglich Maßnahmen hinzu, die einem Rechtsstaat widersprechen"

Nach dem Putschversuch berät die türkische Regierung über verschärfte Maßnahmen im Kampf gegen die Gülen-Bewegung. Von Seiten der Bundesregierung heißt es, diese Entwicklungen seien "zutiefst besorgniserregend".

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Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan. Quelle: REUTERS

Nach der Niederschlagung des Putsches in der Türkei beraten Staatsführung, Regierung und Militär über neue Maßnahmen im Kampf gegen die Bewegung des Predigers Fethullah Gülen. Der Nationale Sicherheitsrat kam am Mittwoch in Ankara zu einer Sondersitzung unter dem Vorsitz von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan zusammen. Anschließend wollte Erdogan eine Sitzung des Kabinetts leiten. Erdogan hatte zuvor angekündigt, bei den Sitzungen werde eine „wichtige Entscheidung“ fallen. Zu Details äußerte er sich nicht.

Vize-Ministerpräsident Nurettin Canikli sagte nach Angaben der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu, die neuen Maßnahmen sollten dazu dienen, dass der Staat noch effektiver von Anhängern der Gülen-Bewegung „gesäubert wird“. Es werde aber „keinen Ausnahmezustand“ oder dergleichen geben. Canikli versicherte, alle Maßnahmen würden sich im Rahmen des Rechtssystems bewegen.

Im Sicherheitsrat sind neben Erdogan und Ministerpräsident Binali Yildirim auch Kabinettsmitglieder und Militärführer vertreten, darunter Armeechef Hulusi Akar. Akar war von den Putschisten aus den Reihen des Militärs gefangen genommen und später befreit worden. Die Ratssitzung im Präsidentenpalast begann mit mehr als zweistündiger Verspätung, wie die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu meldete.

Seit dem Putschversuch mit mehr als 260 Toten geht die Regierung mit harter Hand gegen mutmaßliche Gülen-Anhänger vor. Zehntausende Staatsbedienstete wurden suspendiert, mehr als 8500 Menschen festgenommen. Mindestens 24 Fernseh- und Hörfunksendern mit angeblicher Gülen-Nähe wurde die Lizenz entzogen. Erdogan macht Gülen für den Putschversuch verantwortlich und fordert die Auslieferung des Predigers, der in den USA lebt.

Der Hochschulrat untersagte Dienstreisen des gesamten Lehrpersonals ins Ausland. Lehrpersonal im Ausland ohne zwingenden Aufenthaltsgrund werde aufgefordert, baldmöglichst in die Türkei zurückzukehren, meldete Anadolu. Staatliche und private Universitäten sollten Mitarbeiter aus dem Lehrkörper überprüfen, ob sie Verbindungen zur Gülen-Bewegung haben, und gegebenenfalls dem Hochschulrat melden. Das gelte auch für ausländisches Lehrpersonal.

Aus Regierungskreisen hieß es, es handele sich um eine vorübergehende Maßnahme. Damit solle die Flucht von „mutmaßlichen Komplizen der Umstürzler in Universitäten“ verhindert werden. „Bestimmte Einzelpersonen“ würden verdächtigt, in Kontakt mit den Putschisten aus den Reihen der Streitkräfte gestanden zu haben.

"Zutiefst besorgniserregend"

Die Festnahmen, Schulschließungen und Suspendierung von Zehntausenden Soldaten, Polizisten, Richtern und Lehrern in der Türkei alarmiert die Bundesregierung. Die Maßnahmen, die der türkische Staat seit dem Putschversuch am Wochenende ergriffen habe, seien "zutiefst besorgniserregend", sagte Regierungssprecher Steffen Seibert am Mittwoch. Bundeskanzlerin Angela Merkel habe bereits in einem Telefonat mit dem türkischen Präsident Recep Tayyip Erdogan am Montag ihre Besorgnis zum Ausdruck gebracht. "Es kommen täglich Maßnahmen hinzu, die einem Rechtsstaat widersprechen und das Gebot der Verhältnismäßigkeit außer acht lassen", sagte Seibert.

Die Kanzlerin habe bereits in ihrer ersten Reaktion auf den Putsch gesagt, dass der Umgang mit den Verantwortlichen dem Rechtsstaat eine Möglichkeit biete, sich zu bewähren, sagte Seibert. Dem Putsch hätten sich die Menschen in der Türkei und alle im Parlament vertretenen Parteien entgegengestellt: "Diese Menschen verdienen es doch allesamt, dass ihnen der Rechtsstaat erhalten bleibt." Ein Sprecher des Auswärtigen Amtes ergänzte, man könne erwarten, dass ein Land, das der EU beitreten wolle, sich an die europäischen Regeln und Normen halte.

Die US-Ratingagentur Standard & Poor's hat den Ausblick für die Kreditwürdigkeit der Türkei wegen der politischen Turbulenzen nach dem Putschversuch herabgestuft. Die Agentur kappte am Mittwoch den Ausblick auf "negativ" von bislang "stabil". Zur Begründung nannte die Agentur die zunehmende Polarisierung der Politik in dem Nato-Staat. Die türkische Lira fiel zum Dollar nach der Ausblick-Herabstufung auf ein Rekordtief von 3,077.

Nach dem Putschversuch sei mit einer Periode der erhöhten Unsicherheit zu rechnen, schrieben die Experten. Das könnte Investoren davon abhalten, ihr Geld in der Türkei anzulegen.

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