Mehr als 70 Tote und unzählige Verletzte forderte der verheerende Hochhausbrand im Londoner Grenfell Tower im vergangenen Juni. Hunderte Menschen wurden obdachlos. Angesichts der apokalyptischen Bilder der brennenden Hochhausfackel bemühten sich deutsche Politiker um Beruhigung: Hierzulande sei ein Inferno wie in London schon aufgrund strenger Bauvorschriften kaum vorstellbar.
Dennoch werde man prüfen, ob Lehren aus der Katastrophe zu ziehen seien, versprach Thomas Weibel, Minister für Landesentwicklung und Vorsitzender der Bauministerkonferenz im Sommer. Vor wenigen Tagen nun trafen sich die Minister in der Lutherstadt Wittenberg, um – auch – über „Mögliche bauaufsichtliche Konsequenzen des Hochhausbrandes in London“ zu diskutieren.
Das Ergebnis der Beratungen ist ebenso knapp wie eindeutig. Nur vier Zeilen umfasst das Protokoll der Sitzung zum Tagesordnungspunkt. Man stelle fest, „dass die bauordnungsrechtlichen Regelungen in Deutschland seit Jahrzehnten sachgerecht sind“. Handlungsbedarf? Keiner!
Weiter Wildwuchs beim Hochhausbrandschutz
Von wegen. Spätestens nach Grenfell wäre es überfällig gewesen, den Brandschutz im deutschen Hochhausbau einer Kernsanierung zu unterziehen. Bis heute nämlich haben sechs von 16 Bundesländern die bereits neun Jahre alte Musterhochhausrichtlinie (MHHR), die unter anderem den Brandschutz in Wohn- und Bürohochhäusern regelt, noch gar nicht in Landesrecht überführt. Stattdessen gilt allgemeines Baurecht, das sich – günstigstenfalls – an der MHHR orientiert.
Warum die Vorgaben zwar in Berlin nicht aber in Baden-Württemberg, Niedersachsen oder Rheinland-Pfalz gelten, im Saarland schon, nicht aber in Sachsen, Sachsen-Anhalt oder Thüringen, ist nicht nachvollziehbar. Hamburg, Bayern und Nordrhein-Westfalen haben die Regelungen zumindest angepasst, dabei aber teils Abstriche bei den Anforderungen gemacht.
Es ist nicht hinnehmbar, dass strikte Vorgaben zur Sicherheit in Hochhäusern in der Bundesrepublik eine Frage des Wohnortes sind. Fachleute, wie Anja Hofmann-Böllinghaus, Vizepräsidentin der Vereinigung zur Förderung des deutschen Brandschutzes (vfdb) sieht denn auch – anders als die Minister – dringenden Handlungsbedarf: „Es ist überfällig, dass die Hochhausrichtlinie mit ihren hohen Anforderungen endlich in allen Bundesländern verbindlich eingeführt wird“, mahnt sie.
Brisante Lücke bei brennbaren Fassaden
Dazu kommt, dass die Brandexperten im Nachgang zu Grenfell durchaus auf Widersprüche im deutschen Baurecht gestoßen sind, die dringend einer einheitlichen Klärung bedürften. So sind nämlich – zur Überraschung manch renommierter Fachleute – durchaus auch in Deutschland brennbare Dämmstoffe an Hochhausfassaden zugelassen. Vorausgesetzt, sie sind komplett von nicht brennbarem Material umschlossen. Dazu zählt bisher auch Aluminium, ein Metall, das bei 660 Grad schmilzt und dann die brennbare Dämmung den Flammen aussetzt.
660 Grad, das wissen Brandschutzexperten, ist eine Temperatur, die bei Zimmer- und Gebäudebränden ohne weiteres erreicht wird. Ein Blick auf zahlreiche Hochhausbrände im Ausland in jüngster Zeit, bei denen genau solche dämmenden Metallfassaden stockwerkehoch in Flammen aufgegangen sind, unterstreicht die Brisanz ... und lässt umso mehr am Risikobewusstsein der Landesminister zweifeln.
Experten zum Thema Brandschutz
Das Zünd- und Brandverhalten der Fassaden wird noch immer ausgehend von einem zu kleinen Bemessungsbrand im Gebäudeinneren getestet. Erhebungen der Feuerwehr Frankfurt zeigten aber, dass zwei Drittel der Brände, bei denen die Fassade betroffen war, von außen entstanden sind. Solche Szenarien, etwa durch brennende Müllcontainer, PKW oder auch Brandstiftung, müssen sich künftig auch in den Vorgaben für den Bemessungsbrand der Norm-Tests widerspiegeln.
Dirk Aschenbrenner, Direktor der Feuerwehr Dortmund, Präsident der Vereinigung zur Förderung des deutschen Brandschutzes - vfdb
Das Problem bei der Dämmung mit "schwer entflammbaren Baustoffen" ist: Die Brandprüfungen für diese Klassifizierung bilden keinen Zimmerbrand als Brandbelastung ab, sondern nur einen kleinen Entstehungsbrand. Wir haben leider eine völlige Überschätzung der Klassifizierung "schwer entflammbar". Viele halten das für so was Ähnliches oder nur geringfügig schlechteres als "nicht brennbar". Aber es ist eben genau das: "brennbar", und wenn solch ein Baustoff brennt, dann mit der gleichen Rauch- und Wärmeentwicklung wie ein normal entflammbarer Baustoff.
Wiebke Thönißen, Brandschutzingenieurin, Tornesch
Das politische Ziel der Deregulierung im Bauwesen, das Kosten senken und Fristen verkürzen sollte, hat auch dazu geführt, dass bei Gebäuden unter der Hochhausgrenze, nun der Architekt garantieren soll, dass die Brandschutzvorgaben eingehalten werden. Das Problem ist, das Thema Brandschutz gehört bis heute gar nicht zum Pflichtlernstoff von Architekten. Also müssen sie sich die Kompetenz wieder von externen Experten zukaufen - und die Folge ist, dass das Bauen an der Stelle wieder teurer wird.
Reinhard Ries, Direktor der Feuerwehr Frankfurt
Wir stehen beim Baurecht in einem Zielkonflikt: Einerseits heißt es, Bauen ist zu teuer, der Brandschutz zu rigide. Andererseits kommt nach Vorfällen wie zuletzt in London der Vorwurf, die Schutzvorschriften seien nicht streng genug. Aber das ist letztlich eine gesamtgesellschaftliche Abwägungsentscheidung des Gesetzgebers, wie viel Risiko und zu welchen Kosten dies der Gesellschaft hinnehmbar erscheint. Diese Festlegungen werden nach öffentlicher Diskussion vom Gesetzgeber vorgenommen. Unsere Aufgabe ist es, diese bauordnungsrechtlichen Schutzziele entsprechend in technischen Vorgaben umzusetzen.
Doris Kirchner, Referatsleiterin Deutsches Institut für Bautechnik - DIBt
Wir haben rund 300 Hochhäuser in München, bei denen wir regelmäßig sogenannte Brandverhütungsschauen durchführen. Dafür gibt es einen Mitarbeiter, der jedes Jahr rund 100 Hochhäuser begutachten muss, und damit steht München bundesweit noch gut da. Die Fassade ist aber nur einer von vielen Prüfpunkten - von der korrekt schließenden Rauchschutztür bis zur Funktionsfähigkeit der Brandmeldeanlage. Was also nicht offensichtlich defekt oder falsch montiert ist, fällt nicht auf.
Peter Bachmaier, Leitender Branddirektor und Leiter der Abteilung Einsatzvorbeugung – Vorbeugender Brandschutz Feuerwehr München
Für eine Überprüfung möglicher Brandgefahren bei Fassaden werden im ersten Schritt alle Eigentümer der Hochhäuser angeschrieben mit der Aufforderung die Fassadenkonstruktion ihres Gebäudes zu begutachten und das Ergebnis an die Oberste Bauaufsicht zurückzumelden. Je nach Rückmeldung wird entschieden, ob in einem zweiten Schritt eine örtliche Überprüfung erforderlich ist beziehungsweise, ob Maßnahmen zur Gefahrenabwehr zu ergreifen sind. Die Neubewertung von Brandrisiken bei Gebäuden mit Wärmedämmverbundsystemen, die nicht in die Hochhausklasse fallen, wird zur Zeit nicht diskutiert.
Dr. Claus Woitha, Branddirektor, Vorbeugender Brand – und Gefahrenschutz Hamburg
Da ist es nur ein schwacher Trost, dass zumindest dort, wo die MHHR schon gilt, die brisanten Metall-Dämmstoff-Kombinationen nur bei Fensterprofilen, nicht aber bei Flächenverkleidungen verwendet werden sollen. Selbst das aber steht nicht einmal in der Richtlinie selbst, sondern nur in den ergänzenden Erläuterungen zum Regelwerk. Hier nicht nur bundesweit Einheitlichkeit, sondern im Detail eben auch Klarheit zu schaffen, wäre Aufgabe der Bauminister gewesen.
Die Risiken mit einem Vierzeiler zu negieren, ist mindestens fahrlässig, und auf jeden Fall brandgefährlich. Wer hierzulande in einem Hochhaus wohnt oder arbeitet, kann nur hoffen, dass die Ignoranz nicht auch bei uns irgendwann tödliche Folgen hat.