Immobilienkrise in den USA Verzweiflungstaten bei Hausbesitzern und Banken

Die Finanzkrise kann nur entschärft werden, wenn sich die Keimzelle der Probleme, der US-Immobilienmarkt, endlich stabilisiert. Noch gibt es dafür keine Anzeichen. Die Folgen sind katastrophal – für Verbraucher und Banken.

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Die Immobilienkrise in den USA Quelle: AP

Auf dem Vorplatz des Supreme Court im New Yorker Stadtteil Jamaica in Queens steht fast vier Meter hoch das „Wheel of Justice“, das Rad der Gerechtigkeit. Ein Zitat von Benjamin Cardozo, Oberster Richter während der Weltwirtschaftskrise der Dreißigerjahre des 20. Jahrhunderts, ziert den Rand der mit Grünspan überzogenen Skulptur: „The Cry of Distress is the Summons to Relief “ – der Notruf ist die Aufforderung zur Hilfe.

In Not befinden sich wieder viele Amerikaner – wenn auch noch nicht ganz so schlimm wie zur Zeit der Großen Depression. Heute ist hier in Jamaica, wie jeden Freitag um elf Uhr, Termin für Zwangsversteigerungen. Vor dem Gerichtssaal 25 im ersten Stock drängeln sich Anwälte, Bankvertreter, Rechtspfleger, einige Schnäppchenjäger. Eine Afroamerikanerin, Mitte 30, im roten Anorak und mit einer Norwegerpudelmütze, spricht einen Mann an, der mit Tesafilm Kopien von Beschreibungen der zur Versteigerung kommenden Häuser an einer Marmorkante der Wand befestigt. „Ich habe erst vor einer Woche erfahren, dass das Haus, in dem meine beiden Kinder und ich wohnen, heute versteigert werden soll“, klagt sie mit sorgenvollem Blick. Sie habe doch pünktlich die Miete bezahlt, sie könne den Vermieter nicht erreichen. „Was passiert nun?“, will sie wissen. Wenn sie Pech hat und das Haus heute unter den Hammer kommt, erklärt ihr der Mann, könne es gut sein, dass sie schon in zwei oder drei Wochen ihre Wohnung räumen muss. Helfen kann ihr niemand – trotz ihres Notrufs.

Auch Mieter stehen auf der Straße

Der Tsunami an Zwangsversteigerungen, der über Amerika fegt, fordert viele Opfer. Hausbesitzer vor allem, aber auch Mieter, die – anders als in Deutschland – kaum vor dem sofortigen Rauswurf geschützt sind, wenn der Vermieter seine Raten nicht mehr zahlt. Tausende Familien verlieren ihr Heim, landen auf der Straße, müssen bei Verwandten unterschlüpfen. Nachbarn sehen den Wert ihrer eigenen Immobilien wegschmelzen, wenn ganze Wohnviertel verfallen. Das drückt auf die Stimmung – und auf den Konsum, der mehr als zwei Drittel der Wirtschaft trägt. So schrumpften die Ausgaben der US-Verbraucher im vierten Quartal 2008 auf ein Jahr hochgerechnet um 4,3 Prozent.

Die Banken, die leichtfertig Hypotheken vergeben oder Pakete gekauft haben, in denen miese Kredite gebündelt waren, müssen weitere Milliarden abschreiben – und kommen mit der Bearbeitung der Pleitefällen nicht mehr nach. Für die Termine bei Gericht müssen sie Pensionäre aktivieren.

Häuserpreise fallen immer tiefer

Mittlerweile sind 20 Prozent der Schuldner minderwertiger Hypotheken (Subprime) mit Zahlungen mehr als 90 Tage im Rückstand. Mit rund 3,2 Millionen Zwangsversteigerungsverfahren mussten sich die US-Banken 2008 herumschlagen. Wenn die Hauspreise weiter nachgeben, könnte diese Zahl bald auf über zehn Millionen steigen. Seit seinem Hoch gab der S&P Case-Shiller Hauspreisindex für die zehn größten US-Städte um 28 Prozent nach. Sollten die Übertreibungen der Boomphase zurückgedreht werden und der Index wieder auf den Wert 100 von Anfang 2000 fallen, müssten die Hauspreise um weitere 38 Prozent nachgeben. Ein unrealistisches Szenario?

Kaum. Der Aktienindex S&P 500 hat von seinem Höchststand schon 56 Prozent verloren. Der Stress-Test, dem sich die 19 größten US-Banken bis Ende April unterziehen müssen, geht im schlimmsten Szenario von einem weiteren Preisrückgang bei Immobilien von 25 Prozent aus. Doch bisher ist es in dieser Krise immer schlimmer gekommen als im schlimmsten Szenario.

Längst hat der Preisverfall sich aus dem minderwertigen Segment (Subprime) bis in die Luxuskategorie ausgebreitet. In Manhattan, wo Banker lange die Nachfrage hochhielten, geben die Preise für Apartments auf der Park Avenue oder an Central Park West deutlich nach. Was wird passieren, wenn deren Boni jetzt ausfallen? Reiche Russen oder Araber, die vor einem Jahr noch die Dollar-Schwäche nutzten und für einen stabilen Markt sorgten, fallen als Käufer schon heute aus.

Immobilienpreise USA

Zudem drängen in vielen Landesteilen gerade erst fertiggestellte Immobilien, mit deren Bau während der Boomphase begonnen wurde, auf den verstopften Markt.

In Florida stehen selbst in Strandnähe Apartmentkomplexe leer, halbfertige Bauruinen verschandeln die Aussicht. In Arizona, Nevada und Kalifornien gleichen manche Neubaugebiete Geisterstädten. Rockrose Development, eine Immobiliengesellschaft aus New York, vermietet nun Luxusapartments, die eigentlich zum Verkauf gedacht waren.

Schuldner USA

Um doch noch Käufer zu finden, bot Rockrose eine Rückkaufoption an: Die Gesellschaft verpflichtete sich, in fünf Jahren die Luxuswohnungen für 110 Prozent des Kaufpreises zurückzunehmen.

Trotz solcher Köder stieg der Bestand an zum Verkauf stehenden Wohnungen in Manhattan innerhalb eines Jahres um fast 40 Prozent. Landesweit stehen nach Daten des Verbands der Immobilienbroker rund 3,7 Millionen Immobilien „For Sale“. Dieser Bestand wäre theoretisch nach zehn Monaten verkauft. Normal wären fünf Monate.

Versteigerungen USA

Rund 14 Millionen amerikanische Haushalte sind mit ihrer Hypothek bereits „unter Wasser“ schätzt Moody’s Economy. Ihre noch ausstehenden Schulden auf die Immobilie sind höher als der Wert.

Über Jahre hinweg hatten viele Amerikaner im Glauben auf ewig steigende Immobilienpreise statt zu tilgen immer höhere Kredite auf ihre Häuser aufgenommen. Von 2004 bis 2007 zogen sie nach Schätzung der Hypothekenbank Freddie Mac auf diese Weise mehr als 900 Milliarden Dollar ab. Das Haus als Geldautomat – diese Quelle für Cash ist versiegt, seit die Preise fallen.

10 Millionen Haushalten droht die Zwangsversteigerung

Welche Abschreibungen auf die Banken noch zukommen, lässt sich nur näherungsweise berechnen. Ende 2008 kostete ein US-Haus im Schnitt knapp 200.000 Dollar, rund zehn Prozent weniger als ein Jahr zuvor. Die Hypotheken auf zur Zwangsversteigerung anstehende Immobilien dürften rund 20 Prozent höher liegt, also bei 240.000 Dollar – die meisten Hauseigentümer, denen die Zwangsversteigerung droht, schulden der Bank mehr, als das Haus wert ist. Geben die Hauspreise bis zum Weiterverkauf durch die Bank nochmals um weitere 20 Prozent nach, liegt der erzielbare Verkaufspreis bei 160.000 Dollar. Zuzüglich 15.000 Dollar Kosten der Bank bekommt diese für einen Kredit von 240.000 Dollar nur eine Rückzahlungssumme von 145.000 Dollar, ein Verlust von rund 40 Prozent des Darlehens.

Kommt es in den nächsten vier Jahren zu insgesamt sechs Millionen Zwangsversteigerungen in den USA, ergäbe sich daraus ein weiterer Abschreibungsbedarf von rund 600 Milliarden Dollar. Diese Rechnung ist eher noch optimistisch, weil sie unterstellt, dass jedes zur Versteigerung anstehende oder an die Banken gefallene Haus tatsächlich einen Käufer findet. Das ist aber längst nicht so.

Käufer für 3,7 Millionen Häuser und Wohnungen gesucht

Im Gerichtssaal 25 des Supreme Court in Queens offenbaren die Versteigerungen auf bizarre Weise das Dilemma, in das sich die Banken mit der leichtfertigen Kreditvergabe der Boomjahre gebracht haben. Der Auktionator ruft an einem Pult stehend die Indexnummer einer Immobilie auf, nennt die Adresse und den Namen der Bank, die die Zwangsversteigerung betreibt. Ein Vertreter der Bank tritt mit einem neutralen Rechtspfleger nach vorne. Letzterer verkündet die Höhe der Grundstücksbelastung und nennt das Gebot der Bank, das meist knapp darunter liegt. „So kann die Bank erst einmal eine weitere Abschreibung vermeiden, obwohl die Immobilie bereits deutlich weniger wert sein dürfte“, flüstert einer aus dem Publikum seinem Nachbarn zu.

„Gibt es andere Gebote?“, fragt der Bankvertreter und lässt seinen Blick kurz durch den Saal schweifen, wo rund 60 Leute in schweren Lederstühlen sitzen. Niemand rührt sich. „Nein, kein höheres Gebot, die Immobilie geht an die Bank“, sagt der Rechtspfleger und überreicht einen gelben Umschlag mit Unterlagen. Keine Minute hat das Verfahren gedauert. Nur bei zwei von 30 Immobilien, die an diesem Freitag hier unter den Hammer kommen, gibt es einen Bieterwettstreit im Publikum. Die restlichen Häuser und Apartments landen allesamt ohne ein Gegengebot bei der finanzierenden Bank.

Die Liste der Kreditgeber hier in Queens, die keine Raten mehr von ihren Schuldnern bekommen hatten, liest sich wie ein Register der großen Sünder der Finanzkrise: Die Pleitebanken Indymac und Washington Mutual sind vertreten, der wegen lascher Annahmepolitik kollabierte Hypothekenfinanzierer Countrywide, der mittlerweile der Bank of America gehört. Die Citigroup natürlich, ebenso Wells Fargo, die Bank aus San Francisco, die sich mit der Übernahme von Wachovia, der einst viertgrößten US-Bank, die Finger verbrannt hat. Aber auch der einst zum Autokonzern General Motors gehörende Finanzierer GMAC Mortgage, heute im Besitz der Private-Equity-Gesellschaft Cerberus. Und sogar ausländische Geldinstitute tummelten sich leichtfertig in Queens: Die britische HSBC ist genau so betroffen wie – mit gleich mehreren Objekten – die Deutsche Bank.

Allein im Januar mussten Banken in den USA mangels ausreichender Gebote 66.777 Objekte selbst übernehmen. Im vergangenen Jahr waren es insgesamt mehr als 860.000. Laut einer Studie der Deutschen Bank gingen in 26 lokalen Märkten 77 Prozent der zum Verkauf angebotenen Häuser an die Banken. In Las Vegas etwa gehört mittlerweile jedes 17. Haus einer Bank.

Je länger Banken Häuser im eigenen Bestand halten, desto größer wird die Notwendigkeit weiterer Milliardenabschreibungen auf die Kreditportfolios. Ex-Hausbesitzer, die vor dem Rauswurf Wände mit Farbe beschmieren, Teppiche mit Säure ruinieren und alles rausreißen, was nicht niet- und nagelfest ist, mindern den Wert vieler Immobilien weiter. Von der Bank übernommene Häuser verursachen zudem Kosten für Instandhaltung und Steuern. Kommunen verpflichten Banken, die Häuser in Schuss zu halten, Gärten zu pflegen, Graffiti zu entfernen, kaputte Fenster zu ersetzen.

Aktivisten helfen Obdachlosen

In Miami bringt die Aktivistengruppe „Take back the Land“ obdachlose Familien in leerstehenden Häusern unter – auch wenn sie damit gegen Gesetze verstoßen. „So viele Häuser stehen leer und werden keinen Käufer finden“, sagt einer der Anführer der Gruppe, „gleichzeitig haben viele Leute keine Wohnung. Das ist einfach nicht richtig.“ Jetzt hoffen alle auf den Obama-Plan, der von Zwangsversteigerung bedrohten Hausbesitzern helfen soll. „Banken und die Richter haben in den vergangenen Wochen, wo immer es möglich war, die Zwangsversteigerung erst einmal zurückgestellt“, sagt Jason Chang, ein auf Immobilien spezialisierter Anwalt aus Brooklyn, „alle haben auf die Details gewartet, weil sich mit Staatshilfe einige Verfahren vielleicht anders lösen lassen.“

Viele Hypothekenservice-Gesellschaften, die die Raten bei den Schuldnern kassieren und weiterleiten, fürchten allerdings, dass sie von Kreditgebern und Investoren verklagt werden könnten, wenn sie, wie im Obama-Plan vorgesehen, Darlehenserleichterungen zustimmen. Weil Kredite meist verbrieft und weiterverkauft wurden, ist nur schwer zu ermitteln, wer letztendlich der Gläubiger der faulen Hypotheken ist – eine US-Versicherung, die Landesbank in Kiel, ein niederländischer Pensionsfonds?

Immobilien-Anzeigen in Quelle: AP

Ein Abebben der Versteigerungswelle kann nur ein Stopp des Preisverfalls bei US-Immobilien bringen. Im Januar gab es erste Hoffnungsschimmer: Angesichts niedriger Hypothekenzinsen und gefallener Preise wagten sich erste Käufer auf den Markt. Der Bestand an zum Verkauf stehenden gebrauchten Immobilien rutschte ab, die Zahl der Zwangsversteigerungen gab im Januar im Vergleich zum Vormonat um knapp zehn Prozent nach.

Im Vergleich zum Vorjahr ist diese Zahl allerdings immer noch um fast 18 Prozent gestiegen – und Banken und einige US-Bundesstaaten hatten ein Moratorium beschlossen, das die Januar-Zahlen drückte. Der Bestand an zum Verkauf stehenden Häusern dürfte geschrumpft sein, weil viele Verkaufswillige, die es sich leisten konnten, ihr Objekt angesichts der miesen Marktsituation zurückgezogen haben. Zudem wurden zahlreiche Objekte nicht mehr zum Verkauf, sondern zur Miete angeboten und verschwanden aus der Statistik. „Der Indikator, auf den man achten muss, sind die Verkäufe von Gebrauchtimmobilien“, sagt Lawrence Yun, Chefökonom der Nationalen Vereinigung der Immobilienmakler. Und da gab es erst vergangene Woche wieder Ernüchterung: Im Vergleich zum bereits schwachen Vorjahresjanuar gaben die Verkaufszahlen nochmals um 8,6 Prozent nach.

Verzweiflungstaten der Hausbesitzer nehmen zu

Das eigene Haus zu verlieren – das ist mehr als manche Amerikaner ertragen können. Was folgt sind Verzweiflungsaktionen. In Ocala in Florida erschoss ein Mann, dessen Haus zwangsversteigert werden sollte, seine Frau und seinen Hund, dann legte er Feuer und tötete sich selbst. In Otero County in New Mexico wurden während einer stundenlangen Schießerei mit einem Hauseigentümer, der sich verschanzt hatte, zwei Polizisten verletzt, die einen Räumungsbefehl übergeben wollten.

Der Notruf als Aufforderung zur Hilfe – dieses vom Richter Cardozo stammende und vor dem Gericht in Queens verewigte uramerikanische Prinzip – scheint in der Immobilienkrise in Vergessenheit geraten zu sein. In Akron im US-Bundesstaat Ohio schoss sich eine 90-jährige Witwe mit einem Revolver in die Brust, nachdem sie einen Räumungsbefehl für das Haus erhalten hatte, in dem sie seit 38 Jahren lebte. Ein Nachbar hörte den Schuss und fand sie blutend auf ihrem Bett liegend. Sie überlebte schwer verletzt. Die Hypothek über 45.000 Dollar auf das Haus, das nur noch deutlich weniger wert war, wurde ihr von Wells Fargo nach einem öffentlichen Aufschrei erlassen. „Du musst dich schon erschießen“, resümiert eine Nachbarin der alten Dame, „um hier Hilfe zu bekommen.“

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