Literatur Ist der Kapitalismus nur ein Zufallsprodukt?

Der Kapitalismus ist die logische Folge aller vorherigen Gesellschaftsformationen - das ist zumindest bislang herrschender Konsens. Die Wirtschaftshistorikerin Joyce Appleby bricht in ihrem Buch mit dieser Vorstellung.

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Die unbarmherzige Revolution von Joyce Appleby ist im Murmann Verlag erschienen. Quelle: handelsblatt.com

Wenn es um die Philosophie der Geschichte geht, sind sich Marxisten und Liberale seltsam einig: Beide Geistesströmungen sehen in der Entwicklung des Kapitalismus die logische und universelle Folge aller vorangegangenen Gesellschaftsformationen. Marxisten und Liberale unterscheiden sich lediglich in der Frage, ob mit dem Kapitalismus das „Ende der Geschichte“ (Francis Fukuyama) erreicht – oder eine weitere Revolution programmiert ist: der Übergang zum Sozialismus und Kommunismus.

Die amerikanische Historikerin Joyce Appleby bricht in ihrem Buch „The Relentless Revolution“, das nächste Woche in Deutschland unter dem missverständlichen Titel „Die unbarmherzige Revolution“ erscheint, radikal mit diesen Vorstellungen. Für sie ist der Kapitalismus nichts anderes als ein Zufall der Geschichte. Seine Entstehung sei eben nicht die logische Folge der europäischen Entwicklung, sondern „eine aufsehenerregende Abweichung von den Normen, die viertausend Jahre lang geherrscht hatten“. Und auch mit der Idee eines universellen oder zumindest europäischen Frühkapitalismus räumt sie gründlich auf: Ihrer Meinung nach konnte die neue Wirtschaftsordnung nur unter den Bedingungen entstehen, wie sie im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert in England herrschten. Nur dort und nirgends sonst.

Nur weil sich der Kapitalismus in England als überaus erfolgreich erwies, so schreibt Appleby, kopierten ihn andere Nationen. Erst die jungen Vereinigten Staaten von Amerika, dann Deutschland und andere europäische Nationen. Doch außerhalb der angelsächsischen Sprach- und Geisteswelt sei der Kapitalismus eben immer eine Kopie geblieben, die „ihre Fremdheit nie ganz verlor“.

Ähnlich wie Jerry Z. Muller in seinem spektakulärem Buch „The Mind and the Market“ (2002) begreift Appleby den Kapitalismus keineswegs als bloße Produktionsweise, sondern als „kulturelles System“ mit spezifischen Gesellschaftstraditionen, die in Ländern wie Deutschland schlicht nicht vorhanden waren.

Die Historikerin beerdigt in den ersten Kapiteln ihres Buchs so manchen Mythos, der sich in unseren Köpfen festgesetzt hat. Falsch sei beispielsweise die These, die Ausweitung des Handels in der Neuzeit habe zwangsläufig zur Entwicklung des Kapitalismus geführt. Die erfolgreichste Handelsnation des 16. und 17. Jahrhunderts, die Niederlande, verpasste schlicht die Entwicklung des Frühkapitalismus und holte sie erst hundert Jahre später nach. Und andere erfolgreiche Seefahrervölker wie die Portugiesen und Spanier gehörten sogar zu den eindeutigen Verlierern der neuen Gesellschaftsordnung.

Viel wichtigere Triebkräfte der kapitalistischen Revolution am Ende des 18. Jahrhunderts waren nach Meinung Applebys der Produktivitätssprung in der englischen Landwirtschaft und die Besonderheiten des britischen Adels. England brach mit neuen Kulturpflanzen und Ackerbaumethoden als erste Nation endgültig aus dem jahrtausendealten Zyklus von Missernten und Hungersnöten aus. Und das besondere Erbrecht auf der Insel begünstigte die Entstehung einer neuen Klasse von Menschen, die sich nicht länger auf ihrer adligen Herkunft und dem angestammten Landbesitz ausruhen konnten, sondern mit einem Startkapital Geld verdienen mussten.

Abrechnung mit Marx

Auf den ersten 200 Seiten ihres Buchs liefert Appleby eine Fülle faszinierender Einblicke in die Entstehungsgeschichte einer Gesellschaftsordnung, die man als revolutionärste und erfolgreichste Geschichtsformation aller Zeiten bezeichnen kann. Obwohl sich die Historikerin als Linksliberale outet, rechnet sie mit vielen Behauptungen von Karl Marx ab.

Führte die Freisetzung von Arbeitskräften in der englischen Landwirtschaft beispielsweise tatsächlich zu einem „Heer billiger industrieller Arbeitskräfte“, wie der Revolutionär in seiner Abhandlung über „Die ursprüngliche Akkumulation des Kapitals“ schrieb? Das Gegenteil war der Fall, beweist Appleby: Der Faktor Arbeit war im frühkapitalistischen England deutlich teurer als in den europäischen Nachbarländern – ein materieller Anreiz für technische Innovationen wie die Erfindung des mechanischen Webstuhls.

Marx beschrieb die Entwicklung des Kapitalismus im „Kommunistischen Manifest“ als Urgewalt an der ökonomischen Basis der feudalistischen Gesellschaft, die ihrerseits erst einen „Überbau“ an neuen Ideen und kulturellen Vorstellungen produzierte. Appleby schildert dagegen anschaulich, dass viele konkrete Entwicklungsschritte des Kapitalismus nichts anderes waren als das Ergebnis einer philosophischen, religiösen, staatsrechtlichen und ökonomischen Debatte, die bereits im 17. Jahrhundert die englische Elite begeisterte.

Die größten Geister der Zeit – der Staatsphilosoph John Locke, der Naturwissenschaftler Isaac Newton oder der Schriftsteller Daniel Defoe – beteiligten sich an einer lebhaften Diskussion über wirtschaftliche Fragen. Die Entstehung des wichtigsten ökonomischen Werks aller Zeiten – Adam Smiths „Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations“ – ist ohne diese geistige Auseinandersetzung schlicht nicht zu verstehen.

So empfehlenswert die Lektüre dieser Kapitel in Applebys Werk auch ist, so scheitert die Autorin letztlich doch an ihrem Anspruch, eine „Geschichte des Kapitalismus“ (Untertitel des Buchs) zu schreiben. Eigentlich kann man die Lektüre des Buchs nach Kapitel 6 („Der Aufstieg Deutschlands und der Vereinigten Staaten“) getrost beenden. In den restlichen sieben Kapiteln (und damit auf weiteren fast 300 Seiten) eilt Appleby in einem wahren Sauseschritt durch die Jahrzehnte und gibt sogar noch eine Prognose für die nächsten Dekaden ab.

Von der Gewerkschaftsbewegung bis zum Terroranschlag am 11. September 2001, von zwei Weltkriegen bis zum französischen Kolonialismus in Afrika möchte die Historikerin alles, aber auch alles zwischen zwei Buchdeckel pressen. Und produziert in ihrer Eile schließlich nur noch eine hastige Ansammlung von Plattitüden, die zum Teil auch arg ideologisch gefärbt erscheinen durch die Weltsicht der amerikanischen Linken. Allerdings endet Appleby überraschenderweise nach vielen Unterkapiteln über die dunklen Seiten des Kapitalismus mit einer optimistischen Note. Der letzte Satz ihres Buches lautet: „Die (kapitalistische) Revolution setzt sich fort. Aber sie ist nicht blind.“ So ist es. 

Bernd Ziesemer ist Publizist und war lange Jahre Chefredakteur des Handelsblatt. Zuletzt erschien von ihm das Buch „Eine kurze Geschichte der ökonomischen Unvernunft“.

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