Streitfall des Tages Jedes dritte Knöllchen ist anfechtbar

In einer neuen Serie streitet Handelsblatt Online jetzt täglich für Verbraucherrechte. Denn wer nicht aufpasst, zahlt drauf. Das gilt sogar bei staatlichen Bußgeldbescheiden - die häufig fehlerhaft sind.

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Der Fall

Ein 47-jähriger Bankmanager soll in Düsseldorf mit seinem BMW die zulässige Höchstgeschwindigkeit von 50 Kilometer pro Stunde um 28 Kilometer überschritten haben. Der Bußgeldbescheid basiert auf einer Messung mit einer Laserpistole. Gegen den Bußgeldbescheid legt sein Anwalt Einspruch ein. Die Argumentation des Verteidigers: Die Beweise sind nicht geeignet, die Geschwindigkeitsmessung zu belegen. Begründung: Das Fahrzeug wurde laut Messprotokoll in einer Entfernung von 337 Meter gemessen und überholte nach den Angaben der verantwortlichen Beamtin ein anderes Auto.

In der Gebrauchsanweisung des Hersteller heißt es aber klipp und klar: Ab einer Entfernung von 300 Metern ist eine eindeutige Zuordnung der Messung auf das Fahrzeug nicht mehr möglich, wenn das Auto nicht als Einzelfahrzeug gemessen wird. Das Amtsgericht beauftragte einen Sachverständigen für Verkehrsmesstechnik. Er schloss nicht grundsätzlich aus, dass ein anderes Fahrzeug neben oder hinter dem betroffenen Fahrzeug die Messung ausgelöst hat. Konsequenz: Das Gericht sprach den Fahrer vom Vorwurf der Geschwindigkeitsüberschreitung frei. Die Kosten des Verfahrens trägt der Staat.

Die Relevanz

Fehlerhafte Messungen bei Geschwindigkeitsübertretungen sind keine Seltenheit. "Zwar sind nur fünf Prozent der Messungen nachweislich falsch oder technisch mangelhaft. Oft fehlt es aber einer korrekten Beweisführung. In 30 Prozent der Fälle ist der Bußgeldbescheid aus diesem Grund nicht gerechtfertigt", sagt Verkehrsanwalt Christian Demuth aus Düsseldorf. Ein weiteres Problem, das in der Praxis immer wieder auftaucht: "Die Messungen sind oft nicht ausreichend dokumentiert", sagt Demuth.

Der Experte

Ein erfahrener Jurist erkennt Schwächen in solchen Verfahren schnell. Dann bestehen gute Chancen, gegen einen Bußgeldbescheid vorzugehen. Dazu ist jedoch stets ein Anwalt einzuschalten. Nur er erhält Akteneinsicht und darf die entsprechende Dokumente sichten und bewerten. Er wird versuchen, die Messung anzufechten. Dabei gibt es zahlreiche Ansatzpunkte.

"Wir prüfen zum Beispiel, ob ausgebildetes Personal das Gerät bedient hat oder das Gerät zum Zeitpunkt der Messung geeicht war", erklärt Verkehrsanwalt Demuth. Weitere Punkte, die Verkehrssünder vor Strafe retten können: Der Anwalt prüft, ob beim Aufbau der Geräte die Vorgaben der Gerätezulassung und der Gebrauchsanleitung eingehalten wurden. „Gerade bei neuen Systemen kommt es immer wieder zu Problemen“, so der Anwalt. Aktuell beschäftigen sich zahlreiche Gerichte etwa mit einem relativ neuen Messverfahren namens PoliScan, so Demuth.

Unrechtmäßige Bußgelder: Was Betroffene tun sollten.

Aber auch aus rein formalen Gründen lassen sich Bußgeldbescheide anfechten. So sind nach Schätzungen von Anwalt Demuth weitere 20 Prozent der Bußgeldbescheide fehlerhaft, weil bei deren Erlass die Verjährungsfrist bereits abgelaufen sei. Ein Bußgeldbescheid oder Klage muss innerhalb von drei Monaten nach der Messung erhoben werden. Das Versenden des Anhörungsbogens unterbricht die Verjährung nur dann, wenn dessen Adressat eindeutig als Beschuldigter zu erkennen ist. "Bei bestimmten Formulierungen wird die Verjährung nicht unterbrochen", erklärt Demuth. Gute Anwälte spielen ohnehin auf Zeit. Denn liegt zwischen dem Verstoß und der gerichtlichen Entscheidung ein Zeitraum von zwei Jahren, darf nach der herrschenden Rechtsprechung kein Fahrverbot mehr erlassen werden.

Die Gegenseite

Das Ministerium für Inneres und Kommunales des Landes Nordrhein-Westfalen hat nach Anfrage von Handelsblatt zu dem Thema nicht Stellung bezogen.

Die Rechtsgrundlage

Beschuldigte in einem Bußgeldverfahren dürfen nach einem Urteil des Bundesgerichtshofs nur aufgrund "ordnungsgemäß gewonnener" Messdaten belangt werden (BGH 4 StR 627/92). Verkehrsrechtliche Bußgeldverfahren gelten als Massenverfahren. Wenn es sich dabei um "standardisierte Messverfahren" handelt, die von der Rechtsprechung als solche akzeptiert sind, kommt es zu einer Umkehrung der Beweispflicht. Der Beschuldigte muss Fehler in der Messung, der Dokumentation oder in den Beweisen nachweisen. Dafür sucht der Anwalt nach Anhaltspunkten, denen das Gericht auf einen entsprechenden Beweisantrags des Anwalts nachgehen muss (OLG Celle, Beschl. v. 31.8.2010 - 311 SsRS 54/10). 

Das Fazit

Bußgeldbescheide wegen Geschwindigkeitsüberschreitung können aus mehreren Gründen nicht korrekt sein. Mit Hilfe von spezialisierten Anwälten lassen sich die Bescheide oft anfechten. Rechtsschutzversicherungen mit den entsprechenden Einschlüssen übernehmen meist die Anwaltskosten. Es ist jedoch riskant, Unzulänglichkeiten bei den Messungen als Freifahrtschein für Raserei zu sehen: Denn in vielen Fällen halten die Ergebnisse.

Nützliche Adressen

Fachanwälte für Verkehrsrecht lassen sich über die „Anwaltsauskunft“ des Deutschen Anwaltsvereins finden. Dort sind insgesamt sind 68.000 Anwälte gelistet, die Mitglied im Verband sind. http://anwaltauskunft.de/anwaltsuche

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