Ausland: Estland: Euro-Mitglied Nr. 17

In wenigen Tagen wird Euroland zwar nicht stabiler, aber immerhin ein kleines bisschen größer: Die Republik Estland übernimmt die Gemeinschaftswährung. Im nördlichsten der drei baltischen Staaten leben 1,3 Millionen Menschen, die viel Platz haben auf einer Fläche, die deutlich größer ist als etwa die Nordrhein-Westfalens  mit über 16 Millionen Einwohnern. Die bisherige estnische Währung, die Krone, war seit 1992 zum festen Wechselkurs von 1:8 an die D-Mark gebunden. Entsprechend war der Euro seit 1999 unverändert für 15,65 Kronen zu kaufen. Schon darum haben die Esten keinen Zweifel, dass ihnen die Aufnahme in die Euro-Zone zusteht. Was viele Europäer überraschen wird: Die meisten Esten freuen sich darauf. Für sie ist die neue Währung der Schlusspunkt von 20 Jahren dramatischer Wandlung. Foto: dpa

Bild: dpa

Seit der Unabhängigkeit 1991 sieht sich die einstige Sowjetrepublik als kapitalistisches Musterland, neben dem sämtliche großen westeuropäischen Länder wie Planwirtschaften aussehen. Die Unternehmen des Landes, sofern sie die Wende überlebten, waren nach wenigen Jahren privatisiert, auf weltweiten Rankings der Wirtschaftsfreundlichkeit rangieren die Esten seit Jahren in der Spitzengruppe.

Als ihr Staat 2004 EU-Mitglied wurde, bedeutete das die Übernahme von Zöllen, Handelsquoten und Normen, die den Esten geradezu sowjetisch vorkamen. Der Weg nach Europa hat sich aber gelohnt. Und es wirkt geradezu symbolisch, dass die Hauptstadt Tallinn gleichzeitig mit der Einführung des Euro jetzt für ein Jahr zur Kulturhauptstadt Europas wird. Foto: dpa

Bild: dpa

Der Beitritt zur Europäischen Union verstärkte ein Wirtschaftswunder, das Anfang des Jahrtausends begonnen hatte. Von 2001 bis 2008 wuchs die estnische Wirtschaft um durchschnittlich acht Prozent im Jahr. Aus der Nachbarschaft an der Ostsee kamen die meisten Investoren: Finnische und schwedische Unternehmen entdeckten das Nachbarland mit den bei allen Lohnsteigerungen immer noch geringen Löhnen und der wirtschaftsfreundlichen Regierung. Im Sommer bringen Fährschiffe Massen finnischer Tagestouristen in zwei Stunden nach Tallinn mit seinen immer noch billigen Einkaufsmöglichkeiten. Foto: Laif

Bild: Laif

In der Hauptstadt Tallinn entstand in den vergangenen zehn Jahren östlich der berühmten Altstadt eine eindrucksvolle Bürohaus-Landschaft. Trotz des Wohlstandsgefälles fühlen sich die Esten viel eher als östlicher Teil Skandinaviens denn als westlicher Teil der ehemaligen Sowjetunion.

Die Abhängigkeit von Schweden und Finnland hatte in der Wirtschaftskrise seit 2008 sogar ihr Gutes: Die nach dem Ende der Sowjetherrschaft in den Neunzigerjahren gegründeten, unsoliden einheimischen Banken waren längst den Filialen schwedischer und finnischer Geldhäuser gewichen. Eine Bankenkrise à la Irland war in Estland darum undenkbar.

Foto: Kermer/Wikimedia Commons

Bild: Kermer/Wikimedia Commons

Seit Ende 2008 deckte die Weltkrise trotzdem die Probleme des Wirtschaftswunders in dem kleinen Reformstaat auf: Estland hatte zuvor 76 Prozent seines Bruttoinlandsprodukts exportiert. Das brach jetzt weg. Hinzu kam, dass die hier investierenden internationalen Konzerne in Estland schneller und leichter Arbeitsplätze abbauen und ganze Werke schließen konnten als bei sich zu Hause oder in anderen etablierten Industriestaaten. 2009 sank das Bruttoinlandsprodukt im Jahresvergleich um mehr als 14 Prozent, Immobilienpreise sanken deutlich, die Arbeitslosigkeit stieg von etwa fünf auf 15 Prozent vor einem Jahr. Trotz der langsamen Konjunkturbelebung, der deutlich gesunkenen Lohnkosten und der angebotsorientierten Wirtschaftspolitik gibt es derzeit sogar um die 18 Prozent Arbeitslose.

Der Rückgang der Wirtschaftsleistung und die Explosion der Arbeitslosigkeit traf Estland ähnlich schwer wie das benachbarte Lettland. Es gab aber einen großen Unterschied: Der estnische Staat war kaum verschuldet und brauchte darum auch keine Hilfe vom IWF. Vielmehr setzte die Regierungskoalition von Marktliberalen und Nationalkonservativen 2009 einen Sparkurs von geradezu griechischen Dimensionen durch: Senkung von Beamtenbezügen, Entlassungen im öffentlichen Dienst, Rentenkürzungen, gleichzeitig aber auch Steuersenkungen und Lockerung des Kündigungsschutzes.

Derzeit liegt die Staatsverschuldung bei sieben Prozent des Bruttoinlandsprodukts, die Neuverschuldung bei zwei Prozent und die Inflationsrate knapp über null: Die Maastricht-Kriterien erfüllt kaum ein heutiges Euro-Land so gut wie der Neuzugang. Und der Wunsch, den Euro zu bekommen, war das wichtigste Argument zur innenpolitischen Durchsetzung der strikten Politik. Im Bild: Estlands Ministerpräsident Andrus Ansip (links) und der Präsident der EU-Kommission José Manuel Barroso. Foto: AP

Bild: AP

Natürlich sind nicht alle Esten von diesem politischen Kurs überzeugt. Konservative Ökonomen befürchten, als Mitglied der Eurozone müsse Estland neben den empfindlichen Belastungen der eigenen Bevölkerung seit 2009 demnächst auch noch die Verschwendung in südeuropäischen Euro-Staaten finanzieren. Das spielt aber in der öffentlichen Diskussion keine große Rolle – im Gegensatz zur Kritik von links: Der frühere Ministerpräsident Edgar Savisaar (im Bild), derzeit Bürgermeister von Tallinn, sagt, dass „die Opfer, die vom estnischen Volk für die Einführung des Euro gefordert wurden, zu groß gewesen sind und Estland den Euro übereilt einführt“. 

40 Prozent der Esten teilen nach neuesten Meinungsumfragen Savissars Kritik, und nach der Parlamentsneuwahl im Frühjahr will er mit seiner linksliberalen Zentrumsunion die Ansip-Regierung ablösen.

Foto: Estonian Ministry of Economic Affairs and Communications/Wikimedia Commons

Bild: Estonian Ministry of Economic Affairs and Communications/Wikimedia Commons

Doch gerade wegen Ansips kritisierter Politik hat das demnächst jüngste Mitglied der Euro-Zone mit den Maastricht-Kriterien überhaupt keine Probleme. Die Inflation bewegt sich knapp über dem Nullpunkt, die Neuverschuldung in Prozent des Bruttoinlandsprodukts ist mit 1,7 Prozent geringer als in allen anderen EU-Staaten bis auf Luxemburg, die staatliche Gesamtverschuldung liegt bei 7,1 Prozent des BIP.

Kein Vergleich zu den südeuropäischen Problemländern. Nur beim Wohlstand liegt Estland mit einem jährlichen BIP von knapp 19 000 US-Dollar pro Kopf im EU-Maßstab weit hinten. Den großen Nachbarn Russland haben die Esten aber abgehängt. Foto: dpa

Bild: dpa

Estlands Achillesferse ist das ungeklärte Verhältnis zu Russland. Über ein Viertel der Einwohner und sehr viele der einheimischen Arbeitslosen sind Russen, und die sehr nationalistische Regierung in Tallinn tut nicht viel zur Milderung der Spannungen.

Andererseits leidet Russland immer noch an Phantomschmerzen wegen des Verlustes der einstigen Sowjetrepubliken. Zum beiderseitigen Schaden: Moskau blockiert den Ausbau des kleinen Grenzverkehrs, die Planung für eine vernünftige Eisenbahn- und Straßenverbindung von Russland nach Tallinn kommt nicht voran, und 2007 stand Estland am Rande einer Katastrophe, als – vermutlich russische – Übeltäter tagelang das estnische Internetsystem blockierten. Foto: dpa

Bild: dpa

Nicht weit von der russischen Grenze liegt die alte Universitätsstadt Tartu (zu Deutsch früher Dorpat). Rund um die traditionsbewusste Hochschule (im Bild) ist ein Ring von oft sehr kleinen High-Tech-Unternehmen entstanden, Estland will viel mehr in der Weltwirtschaft sein als die verlängerte Werkbank schwedischer und finnischer Konzerne, und daran wird vor allem in Tartu gearbeitet.

Die Forschungsfelder reichen von der Spezialchemie bis zur Kartographie, und zu den ökonomischen und wissenschaftlichen Ideen gesellt sich ein deutlicher Nationalstolz: Bio-Ingenieure aus Tartu haben das Genom ihrer Landsleute weitgehend digitalisert und der medizinischen Forschung zugänglich gemacht.

Foto: Dezidor/Wikimedia Commons

Bild: Dezidor/Wikimedia Commons

EE ist das E-Mail-Länderkürzel für Estland („Eesti“ in der Landessprache).Das doppelte E passt gut zu dem Super-Internetland. In Estland können die Bürger ihr Parlament vom Laptop aus wählen, es gibt kaum noch Geldtransaktionen außerhalb des E-Banking, Gesundheits- und Sozialverwaltung sind im Rahmen des E-Government völlig digitalisiert, Schüler und ihre Eltern lesen Schulnoten und Zeugnisse auf dem heimischen Laptop.

Der Internet-Telefondienst Skype stammt aus Tallinn, und in keinem der 27 EU-Länder gibt es pro Kopf mehr Internetanschlüsse als in Estland. Foto: dpa

Bild: dpa