WirtschaftsWoche: Herr Asserate, Ihr neues Buch heißt "Deutsche Tugenden". Wollen Sie mit dem markigen Titel provozieren?
Asserate: Im Gegenteil, mir liegt daran, die Deutschen mit ihrer Kultur zu versöhnen, ihnen zu sagen: Schaut mal, hier gibt es Traditionen, die es wert sind, gepflegt zu werden. Wobei ich gar nicht behaupte, dass es sich bei Tugenden wie Fleiß oder Zivilcourage um exklusiv deutsche Eigenschaften handelt. Ich beschreibe genau genommen universale Tugenden, von denen einige allerdings, gerade durch die Brille des Auslands, als typisch deutsch angesehen werden.
An welche denken Sie da?
Natürlich an die sogenannten preußischen Tugenden, an Ordnungsliebe, Pünktlichkeit und Sparsamkeit. Aber auch an den Perfektionsdrang der Deutschen, an ihren Erfindergeist, ihren Sinn für alles, was funktioniert. Lauter Eigenschaften, die weit zurückreichen in die deutsche Geschichte.
Bis wohin?
Bis in die Zeit der mittelalterlichen Zünfte. Etwas zünftig zu bearbeiten hieß, seine handwerkliche Könnerschaft zu beweisen. Im 19. Jahrhundert wurde daraus das Gütesiegel Made in Germany. Kaiser Wilhelm II. gab die Parole aus: "Mit Volldampf voraus." Das Deutsche Reich wollte den Rivalen England wissenschaftlich-technisch überholen.
Und dieser Ehrgeiz wirkt bis heute fort?
Sie können heute noch einen Afrikaner fragen, was er mit Deutschland verbindet, dann wird er Ihnen garantiert sagen: Zuverlässigkeit, Präzision, technische Perfektion. Ein Drucker im Kongo weiß, dass eine Druckmaschine aus Heidelberg vielleicht zehnmal teurer ist als eine chinesische. Trotzdem wird er das deutsche Fabrikat vorziehen, weil er schon von seinem Vater gehört hat, dass das keine billige Ware ist, sondern Wertarbeit, die 100 Jahre hält.
Stecken in solchen Zuschreibungen nicht immer auch Klischees und Stereotypen?
Schon, aber auch etliche Körnchen Wahrheit. Nehmen Sie nur die Sache mit der Pünktlichkeit. Vor einiger Zeit hatte ich geschäftlich in Afrika zu tun und schickte von Deutschland aus, weil es nicht anders ging, zunächst ein Fax. Nach einer Woche hatte ich immer noch keine Antwort und rief bei der zuständigen Firma an: Haben Sie mein Fax nicht erhalten? Meine deutschen Geschäftspartner werden langsam nervös. Doch, hieß es, selbstverständlich haben wir das Fax erhalten. Und dann: Ihr Deutschen habt die Uhren, und wir Afrikaner haben die Zeit. Das ist typisch: Die Afrikaner kennen das deutsche Pünktlichkeitsideal, glauben aber, sie seien die Herren der Zeit. Ein fataler Irrtum.
"Mach dich nicht so klein, so groß bist du nicht"
Woher kommt dann die Reserve der Deutschen gegenüber allem, was als typisch deutsch gilt?
Ich glaube, aus einem Gefühl tiefer Verunsicherung, aus einem Mangel an kollektiver Identität. Ich habe es noch erlebt, wie Ende der Sechzigerjahre meine Kommilitonen auf einem Ausflug ins Elsass ihre Herkunft verleugneten. Während ich auf Nachfrage stolz bekannte, Äthiopier zu sein, behaupteten meine deutschen Freunde unisono, sie kämen aus Österreich. Ich war schockiert. Die Selbstkritik der Deutschen ging bis zum Selbsthass. Heute erinnert mich diese Selbstverleugnung an ein jüdisches Sprichwort: Mach dich nicht so klein, so groß bist du nicht.
Sie wollen sagen, dass die Deutschen sich insgeheim ganz wohlfühlten in der Rolle der bösen Buben der Geschichte?
Es gibt auch so etwas wie einen deutschen Sündenstolz, eine protestantische Lust an der Selbstkasteiung. Nach einer Lesung aus meinem Buch über die Manieren meldete sich vor Jahren eine ältere Dame und rief mir erregt zu: Wie können Sie nur uns Deutsche lieben! Nun, immerhin haben diese Schuldgefühle dazu geführt, dass die Deutschen sich ihrer Vergangenheit gestellt haben. Der Umgang der Deutschen mit der NS-Diktatur erscheint mir jedenfalls exemplarisch. Nur zum Vergleich: Kein einziger italienischer Faschist ist für den Völkermord 1936 in Äthiopien verurteilt worden.
Verstehen Sie Ihr Buch auch als Beitrag zur Normalisierung?
Durchaus. Ich habe es nicht zuletzt für Ausländer geschrieben, die wissen wollen: What makes a German tick? Wie denkt der Deutsche? Welche Tugenden leiten den ehrbaren hanseatischen Kaufmann? Was heißt heute noch Treu und Redlichkeit? Für manche Ohren mag dieses Tugend-Paar schrecklich altmodisch klingen, dabei bezeichnet es etwas Fundamentales: Das gegenseitige Vertrauen, die Sicherheit gemeinsamer Regeln, den Anstand, ohne den wirtschaftlicher Austausch auf Dauer nicht möglich wäre.
Neben Tugenden wie Pflichtgefühl...
...was, bitte schön, nicht mit Kadavergehorsam verwechselt werden darf...
...nennen Sie auch Anmut und Humor. Beide gelten nicht gerade als Spezialdisziplinen der Deutschen.
Trotzdem sind sie mir immer wieder begegnet in Deutschland. Die Anmut sehr einprägsam auf einem Foto von August Sander, das drei "Jungbauern im Sonntagsstaat" darstellt und nebenbei zeigt, dass Anmut nichts mit Stand oder Klasse zu tun hat. Man findet sie überall. Bei einer Marktfrau im Rheingau, in der Ouvertüre zu Mozarts "Hochzeit des Figaro", aber auch im modernen Design. Und für Humor und Situationskomik hat uns nicht zuletzt Loriot die Sinne geschärft.
"Anmut und Sinn für Komik sind mir immer wieder begegnet"
Es heißt, die Bundesrepublik habe bis heute Schwierigkeiten mit der politischen Selbstdarstellung.
Ja, das merkt man allenthalben. Zumal beim Militärischen. Etwa wenn ein Staatsgast die Ehrenformation vor Schloss Bellevue abschreitet. Da spüre ich beim Publikum immer ein gewisses Unbehagen. Dabei hätten die Deutschen allen Grund, stolz zu sein auf ihre Armee, die weltweit anerkannt ist durch ihre UN-Einsätze.
Sie sind ein Freund der Provinz, auch der deutschen Gemütlichkeit, die gern als hinterwäldlerisch geächtet wird.
Das halte ich für ein typisches Intellektuellenvorurteil. Ich zitiere gern den Schriftsteller Oskar Maria Graf, der von Hitler aus Bayern nach New York vertrieben wurde und gesagt hat: Provinziell muss die Welt werden, dann wird sie menschlich.
Was ist für Sie deutsche Provinz?
Das butzenscheibenhafte, romantische Deutschland, das ich als Junge in meinen Schulfibeln kennengelernt habe. Das Deutschland des Biedermeier mit seinen spitzen Giebeln, und aus jedem Giebelfenster streckt ein Mann mit schlohweißen Haaren seinen Kopf heraus, der deutsche Denker und Dichter...
Die Spitzweg-Idylle.
Ja, aber es ist dieser scheinbar weltentrückte, in der Provinz stecken gebliebene deutsche Dichter und Denker, der die ganze Welt in Gedanken erfasst hat. Wie der Dichter und Philologe Friedrich Rückert, der zeitlebens seiner fränkischen Heimat treu geblieben ist. Dieser Mann hat 44 Sprachen gelehrt. Seine äthiopische Grammatik wird immer noch bewundert, seine Übersetzung des Koran gilt bis auf den heutigen Tag als eine der besten.
Die Kleinstadt als Inbegriff deutscher Tugenden
Wer heute etwas werden will, lässt die Provinz schleunigst hinter sich.
Ja, ja, die alte Angst des Aufsteigers, als zurückgeblieben und spießig zu gelten. Ich habe die Kleinstadt immer als Inbegriff deutscher Tugenden wahrgenommen. Und vergessen Sie bitte nicht: Produkte von Weltgeltung entstehen in der deutschen Provinz, in Glashütte, Freudenstadt oder Herzogenaurach.
Sie outen sich auch als Anhänger des Dienstgedankens. Dienen Manager heute nicht mehr ihren Unternehmen?
In manchen Führungsetagen der deutschen Wirtschaft dient man vor allem sich selber. Wenn im alten Rom der Triumphator Einzug hielt und im offenen Wagen durch die jubelnde Menge fuhr, hatte er immer einen Sklaven hinter sich im Wagen, der den Lorbeerkranz über seinem Kopf hielt und ihm ständig ins Ohr flüsterte: Vergiss nicht, du bist nur ein Sterblicher... Diesen kleinen Mann im Ohr würde ich unseren Managern wünschen.
Wer von Tugenden spricht, darf von Lastern nicht schweigen: Wie konnte es dazu kommen, dass eine der führenden Industrienationen der Welt sich so hemmungslos der Liebe zur Natur verschrieben hat?
Selbstverständlich bin auch ich für den Schutz unserer Umwelt. Aber die Naturverehrung treibt hierzulande merkwürdige Blüten. Wir haben es mit einer Art Ökoidolatrie zu tun. Statt dem christlichen Gott dient man Mutter Erde – trennt den Müll und konvertiert zum Vegetarismus.
Weil das angeblich so gesund ist.
Sicher, Naturverehrung und Fitnesskultur gehören zusammen. In einer neuheidnischen Gesellschaft wie der unseren wird der eigene Körper zum Nabel der Welt. Ein bisschen anstrengend wird es nur, wenn dazu noch die Besserwisserei, der erhobene Zeigefinger kommen. Wir werden zwar dafür getadelt, abends noch Lust auf ein Schnitzel zu haben, aber dass einer seinen Platz in der S-Bahn der älteren Dame nicht anbietet, gilt als normal.
Neuerdings ist von der "Rüpelrepublik Deutschland" die Rede.
Eine maßlose Übertreibung. Im Vergleich zum Ausland, etwa zu England, leben wir hier im Paradies. In vielen englischen Großstädten ist das Plebejische zur Tugend erklärt worden. Mit dem Trend zur Political Correctness hat England außerdem fast alles zerstört, was es über Jahrhunderte aufgebaut hat. Es ist das politisch korrekteste Land Europas geworden. Man kann nicht mal mehr in seinem Club rauchen.
Glückliches Deutschland?
Ja, wenn ich die Wahl hätte, in einem europäischen Land zu leben, würde ich mich immer für Deutschland entscheiden. Weil es hier vergleichsweise liberaler zugeht als anderswo. Und weil auf die Handwerker und die Müllabfuhr Verlass ist.