Asfa-Wossen Asserate Ein Lob der deutschen Tugenden

Seite 2/4

"Mach dich nicht so klein, so groß bist du nicht"

So leben die Deutschen
Die klassische Familie ist in Deutschland auf dem Rückzug: Immer mehr Kinder wachsen bei Alleinerziehenden oder bei Paaren ohne Trauschein auf. Allerdings sind verheiratete Paare nach wie vor in der Mehrheit - insbesondere im Westen. Quelle: obs
Die Unterschiede der Familienformen in Ost und West sind auch mehr als 20 Jahre nach der Wiedervereinigung groß und in den vergangenen 15 Jahren sogar noch gewachsen, wie das Statistische Bundesamt in Wiesbaden am Donnerstag berichtete. Quelle: obs
In 71 Prozent der Familien in Deutschland waren die Eltern 2011 verheiratet. 15 Jahre zuvor waren es allerdings noch 81 Prozent. Quelle: dpa
In jeder fünften Familie erzieht ein Elternteil den Nachwuchs allein (plus sechs Prozentpunkte). Quelle: dpa
Und in fast jeder zehnten Familie leben die Eltern ohne Trauschein zusammen. 1996 war das nur in jeder 20. Familie so. Quelle: dpa
Im Osten sind die Eltern deutlich seltener verheiratet als im Westen - und der Rückgang ist stärker. Nur noch in gut jeder zweiten Familie (54 Prozent) in den neuen Bundesländern leben die Eltern mit Trauschein zusammen. Quelle: dpa
Viel weniger als in den alten Bundesländern, wo die Eltern in drei Vierteln der Familien Eheleute sind. Der Rückgang (1996 bis 2011) war dabei im Osten mit 18 Prozentpunkten zugleich doppelt so stark wie im Westen mit neun Prozentpunkten. Quelle: dpa

Woher kommt dann die Reserve der Deutschen gegenüber allem, was als typisch deutsch gilt?

Ich glaube, aus einem Gefühl tiefer Verunsicherung, aus einem Mangel an kollektiver Identität. Ich habe es noch erlebt, wie Ende der Sechzigerjahre meine Kommilitonen auf einem Ausflug ins Elsass ihre Herkunft verleugneten. Während ich auf Nachfrage stolz bekannte, Äthiopier zu sein, behaupteten meine deutschen Freunde unisono, sie kämen aus Österreich. Ich war schockiert. Die Selbstkritik der Deutschen ging bis zum Selbsthass. Heute erinnert mich diese Selbstverleugnung an ein jüdisches Sprichwort: Mach dich nicht so klein, so groß bist du nicht.

Sie wollen sagen, dass die Deutschen sich insgeheim ganz wohlfühlten in der Rolle der bösen Buben der Geschichte?

Es gibt auch so etwas wie einen deutschen Sündenstolz, eine protestantische Lust an der Selbstkasteiung. Nach einer Lesung aus meinem Buch über die Manieren meldete sich vor Jahren eine ältere Dame und rief mir erregt zu: Wie können Sie nur uns Deutsche lieben! Nun, immerhin haben diese Schuldgefühle dazu geführt, dass die Deutschen sich ihrer Vergangenheit gestellt haben. Der Umgang der Deutschen mit der NS-Diktatur erscheint mir jedenfalls exemplarisch. Nur zum Vergleich: Kein einziger italienischer Faschist ist für den Völkermord 1936 in Äthiopien verurteilt worden.

Verstehen Sie Ihr Buch auch als Beitrag zur Normalisierung?

Durchaus. Ich habe es nicht zuletzt für Ausländer geschrieben, die wissen wollen: What makes a German tick? Wie denkt der Deutsche? Welche Tugenden leiten den ehrbaren hanseatischen Kaufmann? Was heißt heute noch Treu und Redlichkeit? Für manche Ohren mag dieses Tugend-Paar schrecklich altmodisch klingen, dabei bezeichnet es etwas Fundamentales: Das gegenseitige Vertrauen, die Sicherheit gemeinsamer Regeln, den Anstand, ohne den wirtschaftlicher Austausch auf Dauer nicht möglich wäre.

Die wertvollsten deutschen Marken
Eine Mitarbeiterin zeigt im Produktionswerk der Beiersdorf AG in Hamburg eine Nivea-Dose. Quelle: dpa
Porsche Boxter S Quelle: REUTERS
Logo der Allianz-Versicherungen Quelle: dpa
Der Vorstandsvorsitzende der adidas AG, Herbert Hainer Quelle: dapd
Das Audi-Logo von einem Audi A8 Quelle: dpa
Ein Mitarbeiter der Volkswagen AG poliert im VW-Werk in Wolfsburg ein Logo am Kühlergrill Quelle: dpa
Der Schriftzug des Technologiekonzerns Siemens Quelle: dpa

Neben Tugenden wie Pflichtgefühl...

...was, bitte schön, nicht mit Kadavergehorsam verwechselt werden darf...

...nennen Sie auch Anmut und Humor. Beide gelten nicht gerade als Spezialdisziplinen der Deutschen.

Trotzdem sind sie mir immer wieder begegnet in Deutschland. Die Anmut sehr einprägsam auf einem Foto von August Sander, das drei "Jungbauern im Sonntagsstaat" darstellt und nebenbei zeigt, dass Anmut nichts mit Stand oder Klasse zu tun hat. Man findet sie überall. Bei einer Marktfrau im Rheingau, in der Ouvertüre zu Mozarts "Hochzeit des Figaro", aber auch im modernen Design. Und für Humor und Situationskomik hat uns nicht zuletzt Loriot die Sinne geschärft.

Inhalt
Artikel auf einer Seite lesen
© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%