Woher kommt dann die Reserve der Deutschen gegenüber allem, was als typisch deutsch gilt?
Ich glaube, aus einem Gefühl tiefer Verunsicherung, aus einem Mangel an kollektiver Identität. Ich habe es noch erlebt, wie Ende der Sechzigerjahre meine Kommilitonen auf einem Ausflug ins Elsass ihre Herkunft verleugneten. Während ich auf Nachfrage stolz bekannte, Äthiopier zu sein, behaupteten meine deutschen Freunde unisono, sie kämen aus Österreich. Ich war schockiert. Die Selbstkritik der Deutschen ging bis zum Selbsthass. Heute erinnert mich diese Selbstverleugnung an ein jüdisches Sprichwort: Mach dich nicht so klein, so groß bist du nicht.
Sie wollen sagen, dass die Deutschen sich insgeheim ganz wohlfühlten in der Rolle der bösen Buben der Geschichte?
Es gibt auch so etwas wie einen deutschen Sündenstolz, eine protestantische Lust an der Selbstkasteiung. Nach einer Lesung aus meinem Buch über die Manieren meldete sich vor Jahren eine ältere Dame und rief mir erregt zu: Wie können Sie nur uns Deutsche lieben! Nun, immerhin haben diese Schuldgefühle dazu geführt, dass die Deutschen sich ihrer Vergangenheit gestellt haben. Der Umgang der Deutschen mit der NS-Diktatur erscheint mir jedenfalls exemplarisch. Nur zum Vergleich: Kein einziger italienischer Faschist ist für den Völkermord 1936 in Äthiopien verurteilt worden.
Verstehen Sie Ihr Buch auch als Beitrag zur Normalisierung?
Durchaus. Ich habe es nicht zuletzt für Ausländer geschrieben, die wissen wollen: What makes a German tick? Wie denkt der Deutsche? Welche Tugenden leiten den ehrbaren hanseatischen Kaufmann? Was heißt heute noch Treu und Redlichkeit? Für manche Ohren mag dieses Tugend-Paar schrecklich altmodisch klingen, dabei bezeichnet es etwas Fundamentales: Das gegenseitige Vertrauen, die Sicherheit gemeinsamer Regeln, den Anstand, ohne den wirtschaftlicher Austausch auf Dauer nicht möglich wäre.
Neben Tugenden wie Pflichtgefühl...
...was, bitte schön, nicht mit Kadavergehorsam verwechselt werden darf...
...nennen Sie auch Anmut und Humor. Beide gelten nicht gerade als Spezialdisziplinen der Deutschen.
Trotzdem sind sie mir immer wieder begegnet in Deutschland. Die Anmut sehr einprägsam auf einem Foto von August Sander, das drei "Jungbauern im Sonntagsstaat" darstellt und nebenbei zeigt, dass Anmut nichts mit Stand oder Klasse zu tun hat. Man findet sie überall. Bei einer Marktfrau im Rheingau, in der Ouvertüre zu Mozarts "Hochzeit des Figaro", aber auch im modernen Design. Und für Humor und Situationskomik hat uns nicht zuletzt Loriot die Sinne geschärft.