Dass er Talent für handwerkliche Tätigkeiten hat, würde Holger Jentsch wohl nicht behaupten. Auch das Design von Badewannen, Duschen oder Waschbecken interessierte ihn nie besonders. Trotzdem bewarb er sich nach dem Abitur bei Europas größtem Hersteller von Sanitärarmaturen – vor allem aus heimatlicher Verbundenheit.
Jentsch wuchs in der Nähe des 38 000-Einwohner-Städtchens Hemer im Sauerland auf. Und dort hat die Grohe AG ihren Hauptsitz. Also entschied Jentsch sich im Jahr 2004 für ein duales betriebswirtschaftliches Studium und absolvierte parallel zu den Kursen an der Verwaltungs- und Wirtschaftsakademie Arnsberg eine Ausbildung zum Industriekaufmann bei Grohe. Aus heutiger Sicht genau die richtige Entscheidung.
Gehaltserhöhung ist drin
Denn Jentsch ist sehr zufrieden mit seinem Job, fühlt sich inhaltlich herausgefordert, von Kollegen und Vorgesetzten geschätzt. Der 28-Jährige koordiniert mittlerweile die Arbeit zwischen dem Grohe-Qualitätsmanagement und dem internationalen Vertrieb, ist zuständig für 15 Mitarbeiter an drei Standorten.
Als Auszubildender verdiente Jentsch einige hundert Euro im Monat. Inzwischen kommt er auf bis zu 80.000 Euro im Jahr. Ein respektables Gehalt für eine Führungskraft Ende 20.
Wenn es weiter so gut läuft und Jentsch seinen variablen Anteil von bis zu 20 Prozent seines Grundgehalts bekommt, ist in diesem Jahr sogar wieder eine Gehaltserhöhung drin – wie bei so vielen deutschen Führungskräften.
Zu diesem Ergebnis kommt eine exklusive Studie der WirtschaftsWoche und der Hamburger Vergütungsberatung PersonalMarkt. Dafür analysierten die Berater knapp 375 000 Datensätze – 317 000 von Mitarbeitern, 57 000 von Führungskräften. Das Ergebnis: Deutschlands größter Gehaltstest. Er vergleicht 491 Basisgehälter, aufgeteilt in 23 Wirtschaftszweige und 24 Berufe – vom Geschäftsführer eines Pharmaunternehmens über den Produktionsleiter eines Chemiekonzerns bis zum Personalreferenten einer Baufirma.
Auf den ersten Blick wirken die von PersonalMarkt berechneten Basiseinkommen wie die etwa 370 000 Euro Jahresgehalt des Geschäftsführers in der Automobilindustrie womöglich zu niedrig – angesichts der Millionengehälter von Top-Managern. So prominent diese Extremfälle sind – statistisch gesehen sind sie Ausreißer, die für die errechneten Durchschnittsgehälter eine eher geringe Rolle spielen. 30 Dax-Unternehmen fallen bei insgesamt etwa drei Millionen Unternehmen eben nicht so ins Gewicht wie das Gros kleiner und mittelgroßer Betriebe.
Tabuthema Gehalt
Die Frage „Wie viel verdienen Sie?“ gilt immer noch als weitgehend tabu. 70 Prozent der deutschen Fach- und Führungskräfte sprechen nicht mit Arbeitskollegen über ihr Einkommen, ergab kürzlich eine Umfrage der Online-Stellenbörse Stepstone. Damit gehören die Deutschen zu den verschwiegensten Arbeitnehmern in Europa.
Dennoch bestimmen Diskussionen rund um Gehalt und Gerechtigkeit derzeit wieder einmal die öffentliche Debatte – angefangen bei der Frage, ob ein Ehrensold in Höhe von jährlich knapp 200 000 Euro angemessen ist für einen Bundespräsidenten, der nach 20 Monaten mit 52 Jahren aus dem Amt scheidet, über das öffentliche Lamento des Wall-Street-Bankers Andrew Schiff, der per Zeitungsinterview elementare Existenzsorgen beklagte – weil sein Jahressalär im Jahr 2011 aufgrund ausgefallener Boni auf umgerechnet 266 000 Euro geschrumpft sei. Oder die Millionengehälter von Konzernchefs wie Telekom-Boss René Obermann, der 2011 3,3 Millionen Euro einstrich. Bis hin zu den Tarifverhandlungen, die derzeit in vielen Branchen anstehen.
Belohnungen für die Belegschaft
So verlangt die Gewerkschaft Verdi für die etwa zwei Millionen Beschäftigten bei Bund und Kommunen 6,5 Prozent mehr Lohn – eine Forderung, die Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich prompt als „jenseits jeder realistischen Vorstellung“ zurückwies. Verdi-Chef Frank Bsirske drohte, dass bei einem Scheitern „die entsprechende Antwort“ kommen werde.
Dabei ist die längst erfolgt: Manche Unternehmen gönnen ihren Angestellten den sprichwörtlichen Schluck aus der Pulle – auch ohne nächtelange Verhandlungen.
Ende Februar kündigte Bayer an, seine Belegschaft für die guten Zahlen zu belohnen: Insgesamt 600 Millionen Euro schüttet der Pharma- und Chemiekonzern Ende April als Erfolgsbeteiligung an seine weltweit 112 000 Beschäftigten aus – davon 300 Millionen Euro alleine in Deutschland.
Dieselbe Summe gönnt BASF seinen Mitarbeitern, während die Tarifbeschäftigten bei Daimler 4100 Euro als Prämie erhalten. Und Konkurrent Porsche gestattet seinen Angestellten gar ein Extra von 7600 Euro – als „genial-intergalaktische Sonderzahlung“, so Betriebsratschef Uwe Hück.
Beträchtliche Unterschiede
Dass derzeit Mitarbeiter auf allen Hierarchieebenen von den Spendierhosen der Unternehmen profitieren, bestätigt ein Blick auf den Gehaltstest: Sowohl Fach- wie Führungskräfte als auch Hochschulabsolventen können mit mehr Einkommen rechnen. „Die Konjunktur ist in den vergangenen eineinhalb Jahren sehr stark gewachsen“, sagt PersonalMarkt-Geschäftsführer Tim Böger, „die Gehälter holen jetzt auf, was sie zuvor in der Krise 2009 verloren haben.“
Die Folge: Führungskräfte in Unternehmen mit 100 bis 1000 Mitarbeitern erhalten 2012 ein durchschnittliches Jahresgehalt von etwa 95 000 Euro – das sind satte 6,7 Prozent mehr als im vergangenen Jahr. Fachkräfte ohne Personalverantwortung können noch mit einem Plus von 1,7 Prozent rechnen. Sie nehmen im Schnitt etwa 53 000 Euro mit nach Hause. Hochschulabsolventen steigern ihr Einstiegsgehalt in diesem Jahr im Schnitt um 3,9 Prozent. Im Jahr 2011 verdienten sie durchschnittlich gut 40 000 Euro, 2012 kommen sie auf mehr als 42 000 Euro. Ein Salär, das die meisten Dax-Vorstände bereits nach wenigen Tagen zusammenhaben.
Diese Kluft zwischen Vorstandsetage und dem Rest der Belegschaft wächst deutlich. Verdiente beispielsweise der Vorstandsvorsitzende eines US-Großkonzerns 1991 im Schnitt das 140-Fache seines Mitarbeiters, liegt diese Differenz heute beim Faktor 500.
Auch in Deutschland sind die Unterschiede beträchtlich. Daimler-Chef Dieter Zetsche etwa kassierte im vergangenen Jahr 8,7 Millionen Euro – ein Tagessatz von knapp 24 000 Euro. Zum Vergleich: Der deutsche Durchschnittsarbeitnehmer verdient etwa 28 000 Euro. Jährlich.
Im Rampenlicht
Warum werden aus Millionären Milliardäre, während Durchschnittsverdiener es bleiben? Eine Frage, die US-Ökonom Sherwin Rosen mit der Superstar-Theorie erklärte: Demzufolge steigen die Gehälter der Top-Manager, die regelmäßig im Rampenlicht stehen, überproportional zu denen einfacher Mitarbeiter. Hinzu kommt, dass in großen Unternehmen mit großen Summen hantiert wird – und bei einem Milliardengewinn Millionengehälter der Chefetage scheinbar kaum ins Gewicht fallen. Das erklärt auch, warum Top-Manager sich so gerne auf Fusionen einlassen: Bestenfalls kassieren sie einen kräftigen Bonus. Schlimmstenfalls eine hohe Abfindung.
Und manchmal entscheidet über das Gehalt auch einfach der Zufall. Zu diesem Fazit kamen im vergangenen Jahr die Wissenschaftlerinnen Francesca Fabbri und Dalia Marin von der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Sie untersuchten, wie sich die Einkommen der Vorstandsvorsitzenden der 500 größten deutschen Unternehmen von 1977 bis 2009 entwickelten. Rechnet man die Inflation heraus, kletterte die durchschnittliche Vergütung in drei Jahrzehnten von 200 000 Euro auf 700 000 Euro – ein Plus von 250 Prozent.
Branchenabhängige Bezahlung
Das eigentlich Erstaunliche jedoch war: Diese Entwicklung hatte weniger mit der wirtschaftlichen Situation des jeweiligen Unternehmens zu tun – sondern vor allem mit der Konjunktur. Will sagen: Die Bosse konnten sich kaum gegen die kräftige Gehaltserhöhung wehren. Sie waren einfach zur richtigen Zeit am richtigen Ort.
Das gelang auch Alexander Lemm. Der Wirtschaftsinformatiker schloss sein Studium 2008 ab – als die Finanzkrise gerade losging und Absolventen es bei der Jobsuche schwer hatten. Auf einer Bewerbermesse lernte er Vertreter des deutschen IT-Unternehmens Software AG kennen. Er übergab seine Bewerbungsunterlagen und wurde zu einem Interview geladen. Wenig später hatte er den Job.
In den ersten drei Jahren arbeitete Lemm als IT-Berater. Seit Ende 2010 tüftelt der 33-Jährige als interner Berater an neuen Projekten und verdient derzeit etwa 75 000 Euro.
Damit gehört er zu den Top-Verdienern unter Fachkräften. Was nicht nur an seinen Qualifikationen liegt: Dass vergleichbare Tätigkeiten mitunter völlig unterschiedlich bezahlt werden, ist auch abhängig von Branche, Unternehmensgröße und Region – und das auf sämtlichen Hierarchieebenen.
Erhebliche Differenzen
So verdient der Geschäftsführer eines Pharmaunternehmens mit mehr als 5000 Mitarbeitern im Großraum Frankfurt im Jahr laut PersonalMarkt-Berechnungen locker mehr als eine Million Euro – während der Chef einer Zeitarbeitsfirma derselben Größe in derselben Region auf etwa 600 000 Euro kommt. Der Marketingchef eines 500 Mann starken Softwarehauses in München kann mit einem Einkommen von etwa 150 000 Euro rechnen. Sein Kollege aus Potsdam verdient hingegen im Jahr nur 100 000 Euro.
Auch bei Einstiegsgehältern gibt es erhebliche Differenzen: Während für Mediziner im ersten Job durchschnittlich 47 000 Euro drin sind, beziehen Grafiker und Designer magere 32 000 Euro. Für Absolventen sind solche Zahlen besonders wichtig. Denn wer im Gehaltsgespräch zu hoch pokert, riskiert eine Absage. Wer hingegen zu wenig fordert, verkauft sich unter Wert – auch das hinterlässt beim potenziellen Arbeitgeber keinen guten Eindruck.
Falsche Vorstellungen
Dass viele Absolventen immer noch völlig falsche Vorstellungen von ihrem späteren Gehalt haben, bestätigte kürzlich eine Umfrage des Internet-Portals gehalt.de: 13 000 Studenten im Alter zwischen 25 und 28 sollten angeben, mit welchem Salär sie in ihrem ersten Job rechneten. Architekten, Gesellschafts- und Sozialwissenschaftler sowie Sprach- und Kulturwissenschaftler neigen demnach am meisten zur Selbstüberschätzung. Sie verdienen in Wahrheit weitaus weniger, als sie sich zu Studienzeiten erträumen.
Oft unter Wert verkaufen sich dagegen Bewerberinnen: Laut einer Statistik der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) verdienen deutsche Frauen im Durchschnitt 21,6 Prozent weniger als ihre männlichen Kollegen – in keinem anderen der 34 OECD-Mitgliedsstaaten ist die geschlechtsspezifische Lohnlücke größer.
Schlechter Motivator
Pia Pohlmann-Delbridge immerhin scheint genau zu wissen, was sie will, welche Qualifikationen sie mitbringt – und was sie dafür verlangen kann. Die 28-Jährige studierte bis 2011 Wirtschaftsingenieurwesen an der TU Darmstadt. Noch während sie an ihrer Diplomarbeit bastelte, ging sie im März 2011 zu einer Jobbörse in Wiesbaden und traf dort auf Mitarbeiter des IT-Konzerns Cisco. Die Gespräche machten sie so neugierig, dass sie umgehend ihre Unterlagen schickte – einen Tag vor Ende der Bewerbungsfrist.
Mit Erfolg: Seit August 2011 absolviert Pohlmann-Delbridge bei dem amerikanischen Netzwerkausrüster ein Traineeprogramm. Dass sie in dieser Position keinen Verhandlungsspielraum hat, war ihr klar – und störte sie nicht. Denn Cisco zahlt seinen Trainees nicht nur ein Jahresgehalt von 45 000 Euro. Pohlmann-Delbridge bekommt außerdem Schulungen bezahlt und darf regelmäßig im Home-Office arbeiten – solche Vorteile sind ihr wichtiger als die reine Gehaltshöhe. Zumal sie nach Ende des Traineeprogramms ein Plus von bis zu 40 Prozent in Aussicht hat.
Keine Frage: Jeder nimmt gerne mehr Geld mit. Einerseits. Doch andererseits sind Gehaltserhöhungen ein schlechter Motivator. Das wissen nicht nur Arbeits- und Organisationspsychologen aus Dutzenden von Studien. Auch die Arbeitnehmer selbst halten Geld alleine inzwischen für keinen guten Antreiber mehr.
Motivierende Effekte
Das belegt eine aktuelle Untersuchung der Hay Group. Die Unternehmensberatung befragte vor wenigen Wochen 18 000 Fach- und Führungskräfte nach ihrem Verhältnis zu Geld. Zwar war den meisten ein angemessener Verdienst wichtig – eine unfaire Behandlung gilt gemeinhin als Motivationskiller schlechthin.
Aber die Befragung zeigte auch: Boni spielen für den Arbeitsantrieb eine untergeordnete Rolle. Für jeden Vierten haben sie keinen motivierenden Effekt. Mehr noch: 56 Prozent gaben an, sich ab einem variablen Gehaltsbestandteil von 30 Prozent gar unter Druck gesetzt zu fühlen.
Keine langfristige Bindung
Bei Fach- und Führungskräften sei das Fixgehalt „eher ein Hygienefaktor als ein nachhaltiger Motivator“, resümierten die Studienautoren. Unternehmen könnten Mitarbeiter zwar durch eine gute Bezahlung gewinnen – aber langfristig binden ließen sie sich durch Gehaltssteigerungen und Boni nicht.
Die mit Abstand wichtigsten Faktoren für die Arbeitsmoral sind immer noch ein kollegiales Arbeitsumfeld und ein Job, der Spaß macht. Ein schlechtes Arbeitsklima wäre für 86 Prozent der Befragten Kündigungsgrund Nummer eins.
Motivation ist eben nicht käuflich.