Alain de Botton über Work-Life-Balance Warum Arbeiten uns nur selten glücklich macht

Seite 2/3

„Für die meisten bleibt die Wirklichkeit hinter den Erwartungen zurück“

Was ist dagegen einzuwenden?
Ich weiß, dass das eine demokratische, leistungsorientierte Gesellschaft ungern hört: Ein großer Autor oder Künstler ist ebenso eine unkalkulierbare, seltene Ausnahme wie ein glücklicher Angestellter. Für die meisten von uns bleibt die Wirklichkeit hinter den Erwartungen zurück. Es ist äußerst unwahrscheinlich, dass unser Potenzial zum großen Geldsegen führt oder außergewöhnliche Dinge hervorbringt.

Ist es nicht beruhigend, dass jeder durch Arbeit sein Glück finden kann?
Ich finde das gedankenlos und grausam. Das soll nicht heißen, dass uns Arbeit niemals glücklich machen kann – bloß tut sie es selten. Wenn aber die Ausnahme zur Regel erklärt wird, leiden wir unter unseren jeweiligen Missgeschicken wie an einem eigens gegen uns ausgesprochenen Fluch. Es ist heutzutage leichter als jemals zuvor, sich ein gutes Auskommen zu sichern. Aber es ist schwieriger denn je, ruhig und frei von Karriereangst zu bleiben.

Kulturpessimisten schieben es darauf, dass wir zu gierig und materialistisch sind.
Das glaube ich nicht. Wir leben schlichtweg in einer Gesellschaft, die bestimmte emotionale Belohnungen an materielle Güter geknüpft hat. Wir wollen nicht die materiellen Güter. Wir wollen die Belohnungen.

Welche Berufe glücklich machen
die glücklichsten Menschen arbeiten in Hamburg Quelle: dpa
Die Jobsuchmaschine Indeed hat sich der Zufriedenheit deutscher Arbeitnehmer angenommen und nachgefragt, wer mit seinem Job besonders zufrieden ist. Die glücklichsten Berufe in Deutschland sind demnach eine bunte Mischung aus allen Ausbildungswegen und Hierarchiestufen. So gehören zu den Top 20 der zufriedensten Berufe viele traditionelle Handwerksberufe wie Maurer, Tischler oder Elektriker. Zufrieden sind allerdings auch - entgegen aller Klischees - Lehrer und Krankenschwestern. An der Spitze der Liste stehen Trainer, studentische Hilfskräfte und, wenig überraschend, Geschäftsführer. Laut dem Meinungsforschungsinstituts YouGov sind allgemein nur sieben Prozent der Deutschen wirklich unzufrieden mit ihrem Job, 75 Prozent der Arbeitnehmer macht ihre Arbeit mehrheitlich Spaß. Damit sie sich im Beruf wohl fühlen, brauchen 27 Prozent der Beschäftigten neue Herausforderungen, für 18 Prozent ist ein abwechslungsreicher Arbeitsalltag wichtig, für 15 Prozent bessere Gehaltsaussichten. Immerhin 14 Prozent wollen „etwas Sinnvolles“ für die Gesellschaft tun. Die folgenden Berufe erfüllen diese Kriterien - und machen glücklich. Quelle: Fotolia
Gärtner und Floristen sind zu 87 Prozent glücklich. "Ich arbeite in einer Umgebung, die ich mag, und tue etwas lohnendes und sinnvolles", gaben sogar 89 Prozent von ihnen an. Quelle: Fotolia
Jemand frisiert einen Puppenkopf Quelle: dpa
Männer arbeiten an Toiletten. Quelle: AP
Die ersten Nicht-Handwerker in der Glücksrangliste sind ausgerechnet Marketing- und PR-Leute (75 Prozent). Die Wahrheit steht offenbar nicht in direktem Zusammenhang mit dem Glück. Quelle: Fotolia
Jemand hält einen Glaskolben mit einer Flüssigkeit darin. Quelle: AP

Was ist daran falsch?
Nichts. Aber niemals zuvor waren die Erwartungen höher, was Menschen in ihrer Lebenszeit erreichen können. Wir leben jetzt in einem System, in dem jeder in die Position aufsteigen kann, die ihm gefällt. Hinzu kommt eine Art Geist der Gleichheit: Es gibt keine strikt definierten Hierarchien.

Klingt nach einer schönen Idee.
Einerseits ja, aber dabei gibt es ein großes Problem: Das vorherrschende Gefühl in der modernen Gesellschaft ist Neid, und das hängt mit dem Geist der Gleichheit zusammen.

Wie meinen Sie das?
Wir haben die ganze Welt in eine Schule verwandelt. Jeder Mensch trägt Jeans, jeder ist scheinbar gleich. Das kann allerdings Stress auslösen. Wahrscheinlich ist es heute ebenso unwahrscheinlich, so reich und berühmt wie der Microsoft-Gründer Bill Gates zu werden, wie es im 17. Jahrhundert war, Teil des französischen Adels zu werden. Aber es fühlt sich nicht so an. Vielmehr wird uns das Gefühl vermittelt, dass man nur Energie braucht, ein paar kluge Ideen und eine Garage, um eine große Sache zu starten.

Wer Talent, Energie und Willen hat, gelangt an die Spitze – glauben Sie das nicht?
Wenn Sie das wirklich glauben, dann glauben Sie auch daran, dass diejenigen am unteren Ende der Gesellschaft das genauso verdient haben. Deshalb gibt es in den Industrieländern mehr Suizide – weil sich die Menschen das, was ihnen zustößt, extrem zu Herzen nehmen. Ihren Erfolg – aber eben auch ihr Versagen.

Sehen Sie einen Ausweg?
Die Vorstellung, dass jeder bekommt, was er verdient, ist völlig verrückt. Davon müssen wir uns dringend lösen. Es gibt einfach zu viele Zufallsfaktoren. Unfälle bei der Geburt, Unfälle, bei denen Menschen Dinge auf den Kopf fallen. Wer ständig immer nur sagt, dass es möglich ist, alles zu erreichen, wird viele verbitterte und wütende Menschen heranzüchten.

Echte Arbeitsfreude statt mantraartiger Selbstmotivation - so geht's

Und dabei kann die Philosophie helfen?
Ja. Die westliche Tradition kennt eine ruhmreiche Alternative zum amerikanischen „Yes, we can“: die Tragödie. Sie war im Kern eine Kunstform, die sich damit beschäftigte, wie Menschen scheitern. Wir können daraus etwas sehr Wertvolles lernen: Manchmal scheitern die Guten.

Das wollen Sie Ihren Kindern beibringen?
Unbedingt! Wenn ich ihnen beibringe, dass nur die schlechten Menschen scheitern, und sie scheitern dann eines Tages mal: Was dann?

Inhalt
Artikel auf einer Seite lesen
© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%