WirtschaftsWoche: Herr de Botton, macht Ihr Beruf Sie glücklich?
Alain de Botton: Ja, leider schon.
Warum leider?
Wir sind die erste Gesellschaft, die Arbeit nicht nur als Strafe empfindet, sondern als Quelle des Glücks. Das ist einerseits eine Errungenschaft, andererseits wird unsere Identität erheblich von der Wahl unserer Beschäftigung bestimmt ...
... deswegen fragen wir Fremde meist zuerst, was sie beruflich machen.
Und je nachdem, wie man diese Frage beantwortet, sind Menschen entweder unglaublich froh, einen zu sehen, oder sie schauen auf ihre Uhr und entschuldigen sich.
Welche Frage stellen Sie denn lieber?
Was interessiert Sie im Moment? Was regt Sie auf? Was macht Sie traurig? Wer jemanden wirklich kennenlernen will, sollte lieber solche Fragen stellen. Stattdessen fragen die meisten nach dem Beruf. Weil sie davon ausgehen, dass der Weg zu einer bedeutungsvollen Existenz unweigerlich durch das Tor der lukrativen Beschäftigung führt.
So ist es nicht immer gewesen.
Nein. Aristoteles zum Beispiel glaubte fest daran, dass seelische Zufriedenheit und bezahlte Arbeit unvereinbar sind. Körperliche Arbeit führte erst recht zu geistiger Deformation. Die Bürger konnten Musik und Philosophie nur dann genießen, wenn sie ein Leben in Muße führten.
Wann änderte sich das?
Mit Beginn der Renaissance. In den Biografien von Leonardo da Vinci oder Michelangelo gibt es erstmals Hinweise darauf, dass praktische Beschäftigung Freude machen kann.
Das sind die Top-Karriereziele für 2017
Der Personaldienstleister ManpowerGroup hat mehr als 1000 Arbeitnehmer nach ihren Karrierezielen für das Jahr 2017 befragt. Auf Platz zehn landet die Beförderung. Zwölf Prozent der Befragten wollen sich im kommenden Jahr bemühen, auf der Karriereleiter eine Sprosse nach oben zu gelangen.
Quelle: Studie "Karriereziele 2017"
Ein Pony springt nur so hoch wie es muss. 13 Prozent der Befragten wollen im nächsten Jahr allerdings ein bisschen höher springen als verlangt und sich stärker im Job engagieren.
Mehr Engagement heißt aber nicht zwangsläufig mehr Stunden: Ebenfalls 13 Prozent wollen im nächsten Jahr weniger arbeiten und beispielsweise Stunden reduzieren.
Vitamin B ist alles: 13 Prozent wollen im nächsten Jahr mehr Networking betreiben.
14 Prozent wollen sich neben dem Job weiterbilden.
Dem Boss wird es nicht gefallen: 16 Prozent der Befragten wollen sich 2017 bei einem anderen Arbeitgeber bewerben.
Ebenfalls 16 Prozent wollen nächstes Jahr ihre Kompetenzen noch selbstbewusster präsentieren.
18 Prozent wollen im nächsten Jahr effizienter arbeiten.
Trotzdem wollen 33 Prozent die Arbeit im nächsten Jahr lockerer sehen.
Vollgas geben, okay, aber nur innerhalb der Arbeitszeit: 34 Prozent wollen in Zukunft nach Feierabend besser abschalten.
Vorher hatten zufriedene Menschen viel Freizeit, jetzt hatten sie viel Arbeit.
Genau. Betätigungen ohne finanzielle Entlohnung wurden jeglicher Bedeutung beraubt, sie waren etwas für dekadente Dilettanten. Zuvor schien es unmöglich, arbeiten zu müssen und Mensch sein zu können. Nun schien es unmöglich, nicht zu arbeiten und trotzdem glücklich zu sein.
Das beeinflusst uns noch heute: Alle sind scheinbar auf der Suche nach ihrer Berufung.
Ein merkwürdiger und unglückseliger Begriff. Er kam bereits im Mittelalter auf, damals aber in völlig anderem Zusammenhang. Man verstand darunter die Reaktion eines Menschen auf die plötzliche innere Anweisung, sich gänzlich den Lehren Jesu zu widmen. Das Wort Berufung ist heute Teil unseres Unglücks.
Wie meinen Sie das?
Wir sind Sklaven der Erwartung, dass uns der Sinn des Lebens irgendwann zwangsläufig klar wird und wir danach für immer gegen negative Gefühle gefeit sind. Dabei sagte der berühmte Psychologe Abraham Maslow: „Zu wissen, was wir wollen, ist nicht normal, sondern das seltene und nur mühevoll zu erringende Resultat einer psychologisch recht komplexen Leistung.“
Was raten Sie also?
Wir müssten viel geduldiger sein und darüber nachdenken, was wir wirklich vom Leben wollen. Stattdessen geraten wir bei der ersten Unzufriedenheit in Panik. Aber diese negativen Gefühle sind für eine Weile nicht nur normal, sondern notwendig: Meist müssen wir unsere wahre Bestimmung eben mühsam zusammenreimen.
Sachbuchautoren predigen aber gerne, wir könnten alles erreichen, solange wir nur wollen.
Ein gefährlicher Gedanke. Ich bin kein Nostalgiker und sage nicht, dass früher alles besser war. Aber Fakt ist, dass die Gesellschaften damals stärker hierarchisch geprägt waren. Das Schicksal des Einzelnen war also vorwiegend durch die Zufälle der Geburt bestimmt.
Das ist doch schrecklich.
Auf die eine Art natürlich. Andererseits hing damals der Unterschied zwischen Erfolg und Scheitern nicht davon ab, wie nachdrücklich man „Ich kann alles schaffen, wenn ich nur will“ sagte. In der modernen, leistungsorientierten und sozial mobilen Welt hängt der eigene Status hingegen vor allem vom Selbstvertrauen ab, andere zu überzeugen.