Arbeitsethos Warum sich Japaner zu Tode arbeiten

Müde in Japan. Quelle: Getty Images

Nach mehreren Todesfällen durch Unmengen von Überstunden stellt Japan seine Arbeitsgewohnheiten in Frage. Ein neues Gesetz soll die Überstunden auf 720 pro Jahr begrenzen – doch kulturelle Gründe bremsen die Veränderung.

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Bis zur womöglich letzten Sekunde ihres Lebens hat Miwa Sado gearbeitet. Die 31-jährige Reporterin des öffentlich-rechtlichen Fernsehsenders NHK hielt ihr Smartphone noch in der Hand, als sie tot in ihrem Bett gefunden wurde. Nach 159 Überstunden in einem einzigen Monat hatte ihr Herz versagt.

„Ich werde sterben. Ich bin so müde“, schrieb die 24-jährige Matsuri Takahashi auf Twitter. In ihrer Verzweiflung sprang sie vom Dach des firmeneigenen Wohnheims. In dem Monat vor ihrer Selbsttötung hatte sie 105 Überstunden für Japans größten Werbekonzern Dentsu geleistet.

Auch die Abschiedsnotiz eines namenlosen Bauarbeiters war kurz: „Ich habe meine physischen und mentalen Grenzen erreicht“, schrieb der 23-Jährige, bevor er seinem Leben ein Ende setzte. Zuvor hatte er für den Bauriesen Taisei in einem Monat 200 Überstunden auf der Baustelle des neuen Olympiastadions in Tokio gesammelt.

Je höher das Gehalt, desto mehr Überstunden
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Arbeitsgerichte haben alle drei Todesfälle kürzlich als „Karoshi“ eingestuft. Die drei Schriftzeichen dieses japanischen Wortes bedeuten „Sterben durch ein Übermaß an Arbeit“. Das amtliche Kriterium dafür liegt bei 100 Überstunden in dem Monat direkt vor dem Tod oder durchschnittlich 80 Überstunden in den sechs Monaten davor.

Lässt sich dies nachweisen, erhalten die Angehörigen von dem Arbeitgeber eine Entschädigung sowie eine staatliche Hinterbliebenenrente. Im vergangenen Jahr haben die Gerichte 191 Fälle von Karoshi anerkannt. Etwa die Hälfte davon waren Selbstmorde. Infolge der Überarbeitung sterben die Opfer entweder an Herzinfarkt, Gehirnblutung und Schlaganfall oder brechen seelisch zusammen, bekommen Depressionen und nehmen sich das Leben.

Exzessive Überstunden verbreitet

Wie verbreitet die Überarbeitung in Japan ist, hatte im Vorjahr das erste staatliche Weißbuch zu Karoshi aufgedeckt. Danach verlangten mehr als 20 Prozent von 1700 befragten Unternehmen von einigen ihrer Beschäftigten eine Mehrarbeitsmenge in der Karoshi-Zone: Elf Prozent meldeten 80 bis 100 Überstunden monatlich und weitere zwölf Prozent mehr als 100 Überstunden monatlich. Diese Beschäftigten leisteten also regelmäßig 12- bis 13-Stunden-Arbeitstage.

Diese extreme Arbeitskultur entstand in den 1970er Jahren, als die Japaner ihr niedriges Einkommen durch bezahlte Überstunden aufbesserten. Während der 1980er Jahre wurden Überstunden immer mehr als Bestätigung für Japans wirtschaftlichen Erfolg gesehen. Je länger die Arbeiter in der Fabrik standen, desto mehr Autos und Elektronik wurden produziert. Dieses Denken färbte auf andere Wirtschaftsbereiche ab. In den folgenden Jahrzehnten der Stagnation blieben viele Mitarbeiter dann länger auf ihren Plätzen, weil sie um ihre Jobs fürchteten. Heute wird in Japan die Tatsache gar nicht mehr hinterfragt, dass man früh morgens vor dem Chef kommt und spät abends nach dem Chef geht.

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Aber das ist nur die halbe Wahrheit: Früher fielen vor allem Männer im Alter über 50 Jahren Karoshi zum Opfer. Heute sind die meisten Betroffenen unter 35 und immer häufiger weiblich. Für diese Entwicklung macht der Arbeitsrechtler Hiroshi Kawahito den stark gestiegenen Mangel an Arbeitskräften als Folge der niedrigen Geburtenrate verantwortlich. „Der geringe Nachwuchs in den Unternehmen wird extrem ausgebeutet“, meint Kawahito.

In vielen Büros zum Beispiel sind es die jungen Angestellten, die bis tief in die Nacht die detaillierten Präsentationen und Papiere für die zahllosen täglichen Konferenzen produzieren müssen. Eine Umfrage des Bildungsministeriums brachte aber auch ans Licht, dass 60 Prozent der Lehrer an den Oberschulen über die Karoshi-Grenze von 80 Überstunden monatlich hinaus schuften.

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Gruppendruck für Überstunden

Aus westlicher Perspektive ist dieser Arbeitsethos nur zu verstehen, wenn man den anderen kulturellen Maßstab berücksichtigt. „In Japan geht es bei der Arbeit nicht darum, eine Aufgabe zu erledigen, sondern um die freundlichen Beziehungen in einem Team“, erläutert Seijiro Takeshita, Leiter der School of Management and Information an der Universität Shizuoka.

Die meisten Japaner blieben so lange an ihrem Schreibtisch sitzen, weil sie eine tiefe Angst spürten, sonst aus ihrer Gruppe ausgestoßen zu werden. „Wer früh nach Hause gehen will, spürt stillen Druck und wird schikaniert“, erzählt eine japanische Angestellte im Freundeskreis.

Schon im Kindergarten lernen Japaner, dass sie mit den anderen Kindern harmonisch auskommen und ihre Gruppe unterstützen müssen, analysiert Professor Takeshita. Dieses Verhalten stammt noch aus der Zeit, als die Japaner beim Anbau von Reis auf die Hilfe ihrer Nachbarn angewiesen waren.

Aber heutzutage werden auch die Entscheidungen in japanischen Unternehmen im Konsens getroffen und die Beiträge jedes Einzelnen zur Gruppe betont. In dieser Kultur fehlt vielen Beschäftigten die psychische Kraft, gegen den Druck zu Überstunden aufzubegehren. Lieber ruinieren sie ihre Gesundheit bis zum Tod oder flüchten in den Selbstmord.

Nicht nur die menschlichen Kosten dieser Arbeitsweise sind hoch: Japanische Unternehmen sind notorisch ineffizient. Je Arbeitsstunde erzeugen Japaner nach OECD-Angaben in Dollar gerechnet fast ein Drittel weniger Wirtschaftsleistung als Deutsche, weil sie für die gleiche Arbeit viel mehr Zeit brauchen. Dabei sind die nicht registrierten Überstunden noch nicht einmal eingerechnet. Zum Beispiel arbeiten viele Japaner weiter, nachdem sie ihre Stechkarte abends abgestempelt haben. „Die unvernünftig langen Arbeitszeiten beweisen, dass japanische Arbeitgeber dumm sind“, kommentiert Karoshi-Anwalt Kawahito. Schließlich sei längst bekannt, dass ab einer gewissen Arbeitsdauer die Leistung sinke.

Rocky-Hymne zum Feierabend

Tatsächlich bringen die Verantwortlichen in Japan bisher nicht den nötigen Mut auf, sich von dieser ineffizienten und ungesunden Arbeitstradition zu verabschieden. Zwar einigten sich Regierung, Arbeitgeber und Gewerkschaften im Frühjahr auf ein Gesetz, dass die Zahl der Überstunden auf 720 pro Jahr begrenzen soll. Aber das wären immer noch 60 im Monat oder drei Überstunden pro Tag. Zudem sind bei hohem Arbeitsanfall weiter bis zu 100 Extrastunden im Monat zulässig. Dennoch nannte Premier Shinzo Abe die Vereinbarung einen „historischen Durchbruch“.

Einige Unternehmen haben inzwischen begriffen, dass sich etwas ändern muss. Sie machen ihre Arbeitszeiten attraktiver, damit sie trotz der Verknappung an Arbeitskräften gutes Personal finden. In den Büros des Fertighaus-Herstellers Mitsui Home zum Beispiel erschallt um 18 Uhr abends die Rocky-Hymne „Gotta fly now“ aus den Lautsprechern. Die Beschäftigten stehen dann auf und müssen laut mitteilen, ob sie länger arbeiten werden. Dann erhalten sie Hilfe und Ratschläge von der Gruppe, damit sie ihre Aufgaben schneller erledigen.

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Auch der Werbekonzern Dentsu, der durch den Selbstmord der 24-jährigen Takahashi in die Schlagzeilen geriet, will die Arbeitszeit seiner Mitarbeiter um ein Fünftel verringern und schaltet dafür die Bürolichter in der Tokioter Konzernzentrale um 22 Uhr zentral aus. Doch die Einsicht der Manager in ihre Mitverantwortung hält sich in Grenzen. „Wir verlangen eben 120 Prozent Einsatz“, hatte der damalige Konzernchef Tadashi Ishii bereits kurz nach dem Todesfall zynisch erklärt.

Zwar fand ein Tokioter Gericht am 6. Oktober Dentsu der Verletzung des Arbeitsgesetzes für schuldig. Aber die Geldstrafe von umgerechnet 3.700 Euro fiel lächerlich milde aus. Unterdessen müssen neue Mitarbeiter eifrig weiter das Dentsu-Handbuch „Die zehn Prinzipien des Teufels“ studieren. Darin heißt es wörtlich: "Gib niemals auf, bis Du das Ziel erreichst, selbst wenn Du dabei stirbst."

Wer viel arbeitet, wird gelobt, wer noch mehr arbeitet, wird befördert. Was in unserer Leistungsgesellschaft gängig ist, begünstigt eine gefährliche Erkrankung: die Arbeitssucht. Was Unternehmen dagegen tun können.
von Katja Joho

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