„Sei dein eigener Chef!“, wirbt der Essenslieferdienst Foodora für den Job als Fahrradkurier zwischen Restaurants und Kunden. „Ihre Begeisterung für Themen wie Simplicity, Lean Development, Cross-Functional Teams und Design Thinking geben Sie an die Kollegen weiter“, heißt es in einer Anzeige des IT-Dienstleisters Senacor. Es gebe „weder Hierarchien noch Chefs“, lockt die Hotel-Suchmaschine Trivago.
„Wir nennen es Arbeit“, haben Sascha Lobo und Holm Friebe vor elf Jahren ihr Manifest zu den Möglichkeiten des digitalen Arbeitens genannt: „Die digitale Boheme das sind Menschen, die sich entschlossen haben, ein selbstbestimmtes Leben zu führen, die Segnungen der Technologie herzlich umarmen und die neuen Kommunikationstechnologien dazu nutzen, ihre Handlungsspielräume zu erweitern“, schrieben sie. Und tatsächlich begeisterten sich seitdem Millionen Menschen für die große Freiheit in der Arbeitswelt. Aus Lobos Beschreibung der Zukunft wurde Gegenwart.
Im Jahr 2017 arbeiten zwölf Prozent der Deutschen digital und mobil, viele davon selbstständig. Seit Jahresanfang begannen 45 Prozent aller neuen Arbeitsverträge in Deutschland mit einer zeitlichen Befristung. Mittlerweile setzen auch Konzerne auf Boheme-Tugenden ihres Personals: auf die Entfesselung von Potenzialen, auf Autonomie und Kreativität, auf Flexibilität und Hierarchielosigkeit, auf Heimarbeit und Coworking-Spaces. Arbeiten Sie im Open Space, „für mehr Kommunikation und Kreativität“, wirbt die Axa. Und Daimler-Chef Dieter Zetsche kündigte an, den Autobauer im „Schwarm“ zu organisieren.
„Freiheit“ ist der Wert, der die schöne neue Arbeitswelt zusammenhält. Die Freiheit, ohne Korsett in den Arbeitstag zu starten; die Freiheit, sich Aufträge auszusuchen; die Freiheit, aus Hierarchien auszubrechen. Das alles sind aber Freiheiten, die ohne Anführungsstriche nicht mehr denkbar, sind weil Smartphones und Algorithmen den Takt vorgeben. Freiheiten, die nicht ohne „internalisierte Disziplin“, ohne die Bereitschaft des Mitarbeiters, als Unternehmer seiner selbst über sich zu wachen, sich beständig zu kontrollieren, funktionieren. Es sind aber auch Freiheiten, die in ihrer Zügellosigkeit viele Beteiligten überfordert.
In Berlin gründen gerade Fahrradkuriere deswegen eine Gewerkschaft, aber auch in vielen Unternehmen reflektiert man die unendliche Freiheit. Zalando-Personalchefin Frauke von Polier zog nach Jahren der großen Freiheiten beim Online-Modehändler ganz klassische Strukturen. Der Unternehmer Nicolaj Armbrust, schaffte erst alle Hierarchien in seinem Unternehmen ab, merkte dann aber, dass er sich und andere überfordert. Und Manager wie jenen bei Yahoo oder L‘Oréal, die Arbeitszeiterfassung oder Präsenzzwang im Büro abschafften, scheiterten und selbiges wieder einführten, geht es ähnlich.
25 Thesen zur Arbeit der Zukunft
Die neue Arbeitswelt ist geprägt durch Netzwerke. Standardisierte Back-End Prozesse werden zwischen Unternehmen geteilt, ohne dass dies für Kunden oder Mitarbeiter sichtbar ist. Dadurch entstehen Arbeitsplätze ohne eindeutige organisatorische Zugehörigkeit und Produkte ohne eindeutigen Absender.
Quelle: „Arbeit 4.0: Megatrends digitaler Arbeit der Zukunft“ , eine Expertenbefragung der Telekom und der Uni St. Gallen aus dem Jahr 2015
Hoch spezialisierte Fachkräfte kommunizieren weltweit in Special Interest Communities. Nicht mehr die Organisationszugehörigkeit, sondern nur noch die fachliche Expertise leitet Loyalitäten. Die gelösten Bindungen führen auch zum Ende der Organisierbarkeit.
Unternehmen greifen für die Erbringung spezifischer Leistungen immer weniger auf die dem Unternehmen fest verbundene Workforce zurück. Globale Transparenz von Skills und Verfügbarkeiten hoch qualifizierter Fachkräfte führen zu einem „hiring on demand“. Das Arbeitsverhältnis wandelt sich zum Arbeitseinsatz.
Organisationen strukturieren sich nicht mehr entlang von Organigrammen. Komplexe IT-Systeme geben standardisierte Abläufe und Organisationsformen vor. Es ist billiger, die Organisation an die Software anzupassen als die Software zu individualisieren. Die Software-Standardisierung macht Organisationsformen homogener.
Akzelerierte Transparenzansprüche sowie die Notwendigkeit zu Co-Creation mit Kunden (Open Innovation) führen zu einer Öffnung und Entgrenzung vormals geschlossener Unternehmensstrukturen. Übergänge zwischen innen und außen werden flüssig, Herrschaftswissen, wie z.B. Patente, verlieren an Wert. Die Fähigkeit, schnell und offen zu skalieren, wird zum Königsweg. Dabei wird die Crowd zum Teil der Wertschöpfung.
Statt auf Mitarbeiter setzen Unternehmen immer mehr auf Kunden. Viele (digitalisierbare) Leistungen werden von Begeisterten freiwillig und unentgeltlich erbracht. Beim Prosumerismus verschwimmen die Grenzen zwischen Produzenten und Konsumenten. Freiwillige digitale Arbeit ersetzt dabei professionelle Beschäftigung.
Die Rolle des Menschen im Produktionsprozess transformiert sich vom Erbringer der Arbeitsleistung in den Überwacher der Maschinen. Routinevorgänge und auch körperlich belastende Tätigkeiten werden von diesen selbstständig abgewickelt. Der Mensch kontrolliert und greift nur im Notfall ein.
Neue Interaktionsformen zwischen Mensch und Maschine ziehen herauf. Diverse Spielarten werden in Zukunft koexistieren. Von Menschen, die Maschinen steuern, über Maschinen als Kollegen der Menschen bis zur Verschmelzung von Maschine und Mensch oder der kompletten Übernahme der Maschinen.
Digitale Leistungen werden in immer kleinere Teile zerlegt und an „Virtual Laborers“ delegiert. Durch Big Data Analysen können Wertbeiträge präzise einzelnen Arbeitskräften zugeordnet werden. Cloud- /Clickworker erbringen ihre Leistungen im Akkord. Absehbar werden viele dieser Tätigkeiten bald voll digitalisiert.
Mit Big Data liegen für alle Lebensbereiche hinreichend Daten vor. Die Fähigkeit, diese sinnhaft zu kombinieren und zu interpretieren, ist eine Schlüsselqualifikation digitaler Arbeit und nicht substituierbar. Von traditioneller Datenanalyse unterscheidet sich die Arbeit mit Big Data allerdings, da keine Hypothesen mehr benötigt werden („end of theory“).
Hochqualifizierte Spezialisten erbringen im Rahmen von Projektarbeit Arbeitsleistung rund um die Welt. Qualifikationen sind global transparent und vergleichbar. Die räumliche Verortung des Leistungserbringers spielt keine Rolle mehr. Arbeit erlangt damit erstmals die gleiche Mobilität wie Kapital.
Die traditionellen Arbeitsorte und -zeiten lösen sich auf. Für Arbeitnehmer ergeben sich hieraus individuelle Gestaltungspotentiale, zum Beispiel zur besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf aber auch neue Belastungen („always on“).
Die Automatisierung von Arbeit ist endlich, da kreative Tätigkeiten verbleiben, die voraussehbar nicht maschinell substituierbar sind. Diese finden sich vor allem in sehr spezifischen Nischen. Unternehmerische Skills, Kreativität und die Beherrschung der Maschinen gelten als nur schwer substituierbare Fähigkeiten.
In Hochlohnländern werden Tätigkeiten mit unmittelbarer menschlicher Interaktion aufgewertet. Diese Jobs wachsen auch prozentual. Standardisierbare und anonyme Prozesse dagegen, gerade im Bereich ICT, werden zum Gegenstand von Offshoring und weiterem Effizienzdruck.
Durch die flexible und bedarfsgerechte Vergabe von Aufträgen an Arbeitskraft-Unternehmer lösen sich traditionelle Arbeitszusammenhänge und -abläufe auf. Die Arbeitszeit setzt sich zusammen aus MikroArbeitszeiten verschiedener Aufgaben, die der Arbeitnehmer nach Bedürfnis und Fähigkeit zusammenstellt.
Immer häufiger wird von den Erbringern kreativer oder geistiger Leistung verlangt, diese auch materiell umzusetzen. 3D-Drucker und andere Werkzeuge begünstigen diesen Trend.
Die weiter steigende Bedeutung von IT eröffnet den „Nerds“ den Weg in die obersten Unternehmensetagen. Was früher die musikalischen Wunderkinder waren sind heute die frühreifen App-Tüftler und Datenexperten. Zum disruptiven Wandel der Unternehmenskulturen wird diese Generation erheblich beitragen. Nicht formale Qualifikationen, sondern ausschließlich technisches Können entscheiden fortan über die Employability.
Distanzarbeit, die Anonymität von Crowd- und Clickworking-Arbeitsverhältnissen und die Flexibilisierung der Arbeitszeiten integriert auch soziale Gruppen in den Arbeitsmarkt, die für das klassische Normalarbeitsverhältnis nicht zur Verfügung stehen. Dies gilt – wie zum Beispiel in Berlin beobachtbar – für Startups, aber auch für Clickworker in Schwellenländern.
Der Arbeitsort von Menschen in flexiblen Arbeitsverhältnissen breitet sich auf den öffentlichen Raum aus. Physische Büros sind temporäre Ankerpunkte für menschliche Interaktion, die vor allem dem Netzwerken dienen. Gearbeitet wird überall – nur nicht am eigenen Schreibtisch.
Gerade bei standardisierten Tätigkeiten sehnen sich Mitarbeiter nach Ablenkung und Belohnung. Gamification und intuitive Bedienbarkeit von IT-Oberflächen werden immer wichtiger und nähern die Arbeitsumgebung einem virtuellen Spielfeld an. Arbeitgeber sind gefordert, spielerische Designprinzipien in standardisierte IT-Anwendungen zu integrieren.
Die Bindung zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber löst sich. Flexible Arbeits- und Kooperationsformen führen dazu, dass Arbeitnehmer ständig mit einem Bein im Arbeitsmarkt stehen. Systematische Personalentwicklung wird so erschwert. Gleichzeitig steigen Erwartungen und Ansprüche der Mitarbeiter an unmittelbar nutzbare Qualifizierungen.
Der Abschied von der räumlich verorteten Arbeit geht mit einem Wandel von der Präsenz-zur Ergebniskultur einher. Führungskräfte müssen lernen, dass sie mehr motivieren als kontrollieren werden. Die Kunst besteht darin, persönliche Bindung auch über unpersönliche technische Kanäle aufzubauen und zu erhalten.
Ein zunehmendes Innovationstempo erzwingt die ständige Neubesetzung zukunftsträchtiger Geschäftsfelder und die Transformation der bestehenden Geschäftsmodelle. Gleichzeitig muss das in der Gegenwart noch profitable Kerngeschäft so effizient wie möglich verfolgt werden. Management wird so „beidhändig“ und agiert in Gegenwart wie Zukunft gleichermaßen.
Digitale Arbeitskräfte sind in Form individueller Datenpakete quantifiziert – ihre Kompetenzen ihre Kompetenzen, Erfahrungen, Kapazitäten. Das erleichtert die passgenaue Vergabe von Aufträgen. Störfaktoren im Datenprofil können so ein Matching aber auch verhindern. Personalauswahl wird weniger intuitiv, aber auch weniger an kultureller Passung orientiert.
Sensoren prägen das „Büro der digitalen Arbeit “. Eigenschaften der Umgebung, der Prozesse, der Arbeitsergebnisse und der Arbeitenden werden laufend aufgezeichnet, um sowohl dem Arbeitgeber als auch dem Arbeitnehmer Informationen über Qualität und Verbesserungspotenziale der Arbeit zu liefern. Praktischer Nutzen muss gegen ethische Erwägungen abgewogen werden.
Ihre Lehre: Im schlimmsten Fall kann Freiheit zum Euphemismus verkommen. Das so geäußerte Unbehagen von Digital-Arbeitern und Unternehmen müsste ein Weckruf für die Politik sein, im Wahlkampf diese große Frage zu diskutieren. Unternehmer, Digital-Arbeiter, Gewerkschaften, Verbände, sie alle streiten seit Jahren um die Definition des Freiheitsbegriffs in der Arbeitswelt der Zukunft. Aber abgesehen von der FDP, für die „Digital first. Bedenken second“ gilt, umkreist das Denken der Parteien die Formeln der Vergangenheit. Und das obwohl Arbeitsmarktthemen im Wahlkampf eine prominente Rolle spielen.
Union und SPD wollen unter Beschäftigung auch künftig das „Normalarbeitsverhältnis“ verstehen: angestellt, sozialversichert, unbefristet. Alles andere sei eher Problem als Chance. Teilzeit? Eine Falle. Befristung? Ein Schicksalsschlag. Selbstständigkeit? Nur mit ausreichender Absicherung. „Die Menschen brauchen mehr Sicherheit und Verlässlichkeit“, sagte Kanzlerkandidat Martin Schulz (SPD) diese Woche. Und Amtsinhaberin Angela Merkel (CDU) versicherte, dass die Arbeitszeit der Deutschen sich künftig nicht über den 67. Geburtstag erstrecken werde.
Je weniger Chefs, desto besser?
Anders gesagt: Die Digitalisierung der Arbeit wird von der Politik vertagt. Und so halten sich hartnäckig vor allem Mythen über die Arbeitswelt der Zukunft:
Mythos 1: Mehr Flexibilität macht Angestellte freier
Immer wenn ein neuer Monat beginnt, geht für Georgia Palmer die Planung los. Die 26-Jährige arbeitet als Kurierfahrerin für Foodora. Dort kann sie flexibel neben dem Studium arbeiten. 9,50 Euro bekommt sie für jede Stunde, in der sie auf dem Fahrrad Essenslieferungen ausfährt. Sie muss dafür weder in ein Büro gehen, noch muss sie einen Stundensoll erfüllen.
Tipps für digitale Nomaden
Die Community ist groß. Neben Tipps zu Jobs und Reiseländern, bietet sich deshalb auch die Arbeit in einem Coworking Space an. Andere digitale Nomaden können hier als eine Art Kollege fungieren und als Ratschlaggeber zur Seite stehen. Oftmals entstehen darüber auch Möglichkeiten des Zusammenarbeitens; Jobangebote werden innerhalb der Community verteilt.
Während für die einen das perfekte Konzept „Reisen und arbeiten von überall auf der Welt“ ist, kann für Andere der Aspekt „rein über die eigene Zeit verfügen“ entscheidender sein. Wer reisen will sollte zudem dem Aspekt des Reisens als Zweite Priorität setzen, da das Geld auch erst einmal verdient werden muss.
Ähnlich wie bei ortsgebundenen Selbständigen muss das Business erfolgreich sein, um Geld zu verdienen. Ohne Auftragsgeber und Kundenakquise kann man selbst an den günstigen Orten der Welt nicht überleben.
Nicht zu unterschätzen ist ebenso der Arbeitsaufwand, der am Beginn des Digitalen Nomaden Seins sehr groß ist, da man sich viele Dinge erst aneignen muss.
Auch Offenheit, Flexibilität und Anpassungsfähigkeit sind Eigenschaften, die für einen Digitalen Nomaden unerlässlich sind. Erfolg stellt sich oft nicht mit der ersten Geschäftsidee ein.
Der Arbeitsplan wird per Algorithmus zugeteilt. Zwar können die Fahrer Wunsch-Schichten angeben, doch wer wann arbeitet, das ist unklar. „Ich weiß nie, wie viel ich arbeiten werde und wie viel Geld ich damit verdienen kann. Oft bekomme ich nicht genug Schichten zugeteilt und versuche dann mit anderen Fahrerinnen zu tauschen“, sagt sie. Darunter leidet vor allem das Privatleben.
Denn sobald der neue Einsatzplan kommt, muss sie das restliche Leben drumherum basteln. Nachmittage, an denen sie arbeiten wollte, werden plötzlich zur Leerlauf-Zeiten. Andere Verabredungen muss sie absagen, weil der Algorithmus das so will.
Am meisten ärgert die Studentin jedoch, dass all diese Organisation in ihrer Freizeit stattfindet. „Ich muss mich permanent darum kümmern, für das Unternehmen eingesetzt werden zu können. Das passiert nebenher und kostenlos“, sagt sie. Und jedes Mal, wenn sie die Termine in ihrem Kalender für die Arbeit umdisponiert, denkt die moderne Arbeiterin: Freiheit sieht anders aus.
Mythos 2: Je weniger Chefs, desto besser
Was Angestellte wollen ist eindeutig: 80 Prozent aller Fachkräfte in Deutschland wünschen sich flache Hierachien. Wie die Unternehmensberatung Kienbaum ermittelt, ist das auch gut begründet. 61 Prozent der Firmen, die mit wenigen Hierarchieebenen auskommen, sind aus Sicht ihrer Mitarbeiter besonders innovativ.
Doch die Studie zeigt auch, was dazugehören muss. So wünschen sich zwei Drittel aller Angestellten zumindest eine Führungskraft, die die Richtung vorgibt. Das heißt: Flache Hierarchien funktionieren als Struktur für Innovationen nur so lange klar ist, wohin es gehen soll. Es sollte zumindest jemanden geben, der Ziele vorgibt. Auf dem Lösungsweg kommen die Mitarbeiter dann auch ohne Chef aus. Und dabei werden sie erfinderisch.
Als Nicolaj Armbrust alle Hierarchien abschaffte, wollte er sein Unternehmen retten, eine Online-Vermittlungsplattform für Ferienwohnungen. Innerhalb weniger Jahre wuchs das Drei-Mitarbeiter-Start-up zum 100-Mann-Betrieb heran. Jede Entwicklungsstufe brachte mehr Struktur in Armbrusts Unternehmen. Vor zwei Jahren entschied er daher, aller Führungspositionen abzuschaffen. Inklusive seiner eigenen.
Knigge für das Großraumbüro
Im Großraumbüro sitzen die Menschen selten freiwillig zusammen oder weil sie sich besonders sympathisch sind – sondern, weil sie es müssen. Deshalb ist es wichtig, den Abstand zur Intimsphäre der Kollegen zu wahren. Der beträgt rund 80 Zentimeter. Absolut tabu: Sich auf den Schreibtisch des Kollegen zu setzen.
Ob Windhund oder Mops: Rein rechtlich liegt es in der Hand des Arbeitgebers, ob ein Hund im Büro erlaubt ist oder nicht. Studien belegen, dass die Anwesenheit von Hunden das kollegiale Klima befördert und das Wohlbefinden der Mitarbeiter fördert. Einerseits. Doch Hunde haben nicht nur weiches Fell und lassen sich ohne Unterlass streicheln – sie bellen schon mal und riechen auch nicht immer angenehm. Wen das stört oder wer gar unter Hundehaarallergie leidet, sollte den Kollegen darauf aufmerksam machen. Und zur Not auch den Chef mit ins Boot holen.
In fast jedem sozialen Gefüge gibt es besondere Charaktere, die einen besonderen Umgang erfordern – zum Beispiel Choleriker. Das Tückische: Der Ausbruch kommt oft völlig unerwartet. Ist es dann so weit, sollte man nicht noch Feuer ins Öl gießen. „Spielen Sie den Anlass nicht herunter, aber geben Sie auch nicht zu stark Kontra“, rät Knigge-Experte Horst Hanisch. Etwa indem man dem unreifen Schreihals zumindest in einigen Punkten recht gibt.
Einmal akzeptiert, gibt es keinen Weg zurück: Wer sich aufs Duzen einlässt, kann es nur sehr schwer rückgängig machen. Deshalb sollte man sich genau überlegen, wie nah man Kollegen verbal kommt. Wer deutlich macht, lieber erst mal beim Sie bleiben zu wollen, begeht keinen Fauxpas. Eine vorläufige Absage impliziert nämlich auch, dass sich das künftig noch ändern kann.
Ob Döner mit Knoblauchsoße, Schnitzel mit Pommes oder eine Stulle mit Leberwurst: Nahrungsmittel haben am Arbeitsplatz grundsätzlich nichts zu suchen. Und das nicht nur aus hygienischen Gründen: Das Mittagessen am Schreibtisch einzunehmen ist schlicht ungesund.
Wegen eines lockeren Spruchs sollte das Bürogefüge nicht gleich ins Wanken geraten. Aber nicht jeder Kollege kann mit flapsigen Bemerkungen umgehen. Also lieber eine Pointe zu wenig als eine zu viel.
Egal, ob der Kollege nebenan viel und laut telefoniert oder die Kollegin hinten links einen penetranten Klingelton eingestellt hat: Der Geräuschpegel ist Dauerstreitpunkt im Großraumbüro. Kleiner Trick, große Wirkung: Bitten Sie die Kollegen Bescheid zu sagen, wenn ein langes Telefonat ansteht – und kündigen an, das Büro während dieser Zeit zu verlassen. Dann sollte er merken, dass es Sie stört.
Jeder Mitarbeiter sollte seinen Arbeitsplatz sauber halten – abgekaute Apfelreste oder eine Sammlung leerer Pfandflaschen sind im Büro tabu.
Sprechen Sie Kritik immer als Ich-Botschaft aus: „Ich bin gegen Kälte sehr empfindlich – vielleicht könntest du das Fenster wieder schließen?“ So fühlt sich der Kollege nicht persönlich angegriffen.
Dieses Thema führt häufig zu Konflikten – Väter und Mütter schulpflichtiger Kinder wollen meist gleichzeitig frei nehmen, kinderlose Kollegen müssen die Stellung halten. Da empfiehlt sich frühzeitige Planung – am besten hängen Sie einen großen Plan sichtbar im Büro auf, dann sind alle auf dem gleichen Stand.
Karneval, Oktoberfest oder Halloween: Ob zu solchen Anlässen gefeiert werden soll, lässt sich in größeren Büros selten einstimmig lösen. Wenn jemand verkleidet im Büro erscheint, ist das meist in Ordnung. Wer aber auf laute Karnevals- oder Blasmusik und das Fässchen Bier nicht verzichten mag, eckt schon mal an. Am besten vorher erkundigen, wie die Kollegen das in der Vergangenheit gehandhabt haben.
Auch wenn es nur eine Büroklammer ist: Sich etwas ungefragt vom Tisch des Kollegen zu leihen ist tabu. Auch schlecht: Sich munter am Kaffee zu bedienen, ohne sich finanziell zu beteiligen.
Ob kurzes Röckchen, knielange Shorts oder schulterfreies Oberteil: Wer sich vom Anblick nackter Haut gestört fühlt, sollte das ansprechen. Weisen Sie den Kollegen einfach höflich auf den Büro-Dresscode hin.
Ein Großraumbüro ist nichts anderes als eine große, sozial sensible Zone – da muss jeder Mitarbeiter auch mal schlucken, was ihn nervt. „Stört aber etwas so penetrant, dass die eigene Arbeit davon beeinträchtigt wird, muss es natürlich angesprochen werden“, sagt Knigge-Experte Horst Hanisch.
Kollegen, die immer alles besser wissen, gibt es in jeder Bürogemeinschaft. Wenn es Ihnen zu viel wird, müssen Sie den Kollegen ansprechen. Weisen Sie höflich darauf hin, dass Sie seinen Rat sehr zu schätzen wissen, aber ihre Arbeit machen müssen.
Sie haben den Kollegen schon gefühlte 20 Mal auf seine nervigen Privattelefonate angesprochen und trotzdem beschallt er das Büro täglich mit seinen Problemen? Suchen Sie den Kollegen erneut auf und machen Sie deutlich, dass Sie sich ja nicht beim Chef beschweren wollen, aber langsam wisse man einfach nicht weiter. Passiert wieder nichts, suchen Sie das Gespräch mit Ihrem Vorgesetzten.
Ein kurzes Gespräch mit dem Kollegen ist auch im Großraumbüro erlaubt – sollte es allerdings länger als ein paar Minuten dauern, ist es höflicher sich in die Küche oder einen Besprechungsraum zurückzuziehen.
Vom Rosenblüten-Raumspray bis zum Pausenbrot mit altem Gouda: Gerüche können so nerven wie die Lautstärke – jeder Kollege ist an anderer Stelle sensibel. Grundsätzlich sollten Sie auf Extreme verzichten – was den einen erfrischt, könnte der Büronachbar als unangenehm empfinden.
Jegliche Art von Bildern oder Sprüche mit sexistischen, politischen oder religiösen Motiven haben am Arbeitsplatz nichts zu suchen.
Frischluftfanatiker versus Heizkörperhocker – dieser Konflikt ist vermutlich genauso alt wie das Großraumbüro selbst. Da gibt’s nur eines: Miteinander reden und einen Kompromiss schließen.
Geben Sie ihren Kollegen immer erst die Chance, ihr Verhalten zu ändern. Direkt mit dem Gang zum Chef zu drohen schießt über das Ziel hinaus und wirkt auf Dauer unglaubwürdig.
Ob Einzelkemenate oder Massenbüro: Kranke Mitarbeiter sollten grundsätzlich zu Hause bleiben. Aber gerade im Großraumbüro kann ein mit Viren verseuchter Kollege verheerenden Schaden anrichten.
„Sprechen Sie Konflikte nicht im Eifer des Gefechtes an, sondern atmen Sie erst einmal tief durch und lassen Sie etwas Zeit vergehen“, sagt Knigge-Experte Hanisch. Suchen Sie das Gespräch an einem neutralen Ort, wie etwa der Kaffeeküche und nicht vor den anderen Kollegen.
Xenophobie – also die feindliche Einstellung gegenüber Fremden – hat im Großraum wirklich keinen Platz. Diese Kollegen sollten sich schleunigst ein Einzelbüro suchen.
Wenn der Kollege vor seinem Bildschirm regelmäßig einen Lachanfall bekommt oder das Video gar ohne Kopfhörer anschaut, sollten Sie das Gespräch suchen – am Arbeitsplatz hat das nichts verloren.
Der Schreibtisch sollte in erster Linie Arbeitsplatz sein und kein Ausstellungsort für Souvenirs, Porzellanpuppen oder andere Sammelleidenschaften. Grundsätzlich ist es positiv, wenn sich Menschen an ihrem Arbeitsplatz wohlfühlen, aber auch hier gilt: Die eigene Freiheit endet dort, wo die des Kollegen beginnt.
In den ersten Monaten nach der Umstellung waren die Mitarbeiter orientierungslos. Eine Handvoll Leute verließ die Firma; ihnen war die neue Freiheit zu anstrengend. Die Übrigen forderten Leitplanken. Armbrust reagierte erneut – und gibt nun wenigstens die strategischen Ziele vor. Den Weg dorthin überlässt er aber weiter seinen gleichberechtigten Mitarbeitern.
Kann es das tatsächlich geben: zu viel Freiheit im Berufsleben? Jedenfalls „mussten wir uns professionalisieren, um profitabel zu werden“, sagt Frauke von Polier, Personalchefin des Online-Modehändlers Zalando. Als das Unternehmen 2008 an den Start ging, herrschte praktisch Anarchie. Sie passte Prozesse, Abläufe und IT-Systeme an, organisierte die Buchhaltung, legte Hierarchien fest – brachte Ordnung in das Chaos. Am Ende war „die alte Start-up-Kultur, in der jeder mitmischen und sich selber seinen Platz suchen konnte, nicht mehr da“, sagt von Polier. Seither ist sie auf der Suche nach einer kulturellen Synthese aus Start-up und Old Economy: Jeder wird gehört, aber nicht zu jeder Zeit.
Reiz der offenen Räume
Mythos 3: Offene Räume schaffen Kreativität
Desksharing, Open Space, Innovation Areas - das Büro der Zukunft hat immer schickere Arbeitsbereiche, doch nur eines fehlt immer häufiger: Wände. Deshalb setzen immer mehr Konzerne und Mittelständler auf das Großraumbüro. Im Vergleich zu Einzel- und Zweierbüros sparen die Unternehmen 20 Prozent der Bau- und späteren Energiekosten.
So wird der Reiz der offenen Räume natürlich selten begründet. Vielmehr rückt man die Arbeitsqualität in den Mittelpunkt. Das Großraumbüro soll die Kommunikation unter Mitarbeitern fördern, Ideen generieren, Innovation sicherstellen. Dabei wollen die meisten Mitarbeiter vor allem ihre Ruhe.
Die Universität Oxford untersuchte im vergangenen Jahr die Produktivität und Arbeitszufriedenheit von Menschen im Großraumbüro. Vor allem der Geräuschpegel stört aus Sicht der Befragten die Konzentration. Denn damit Ideen zu Ende gedacht werden können, brauchen Menschen Möglichkeiten, sich zurückziehen, wie die Wissenschaftler betonen. Aus ihrer Sicht ist deshalb entscheidend, dass Unternehmen nicht nur offene sondern auch Ruheräume bereitstellen.
Mythos 4: Das Privatleben profitiert von der neuen Flexibilität
Um Mitternacht wirft Ansgar Oberholz seine letzten Gäste raus. Er betreibt das Café Sankt Oberholz in Berlin, dem Hohetempel der selbsternannten digitalen Avantgarde. Ein Lokal, in dem Leute nicht zum Kaffeeklatsch, sondern zum Arbeiten kommen.
Jeder, der hier sitzt, hat einen Laptop vor sich stehen. Auf ihren Bildschirmen zeigt sich, an was sie arbeiten: Präsentationen, Bildbearbeitung, Texte - alles, womit man digital Geld verdienen kann. In Deutschland arbeiten fünf Millionen Menschen jenseits der Festanstellung in digitalen Berufsfeldern. Doch das Internet hat keine Öffnungszeiten. Und Feierabend ist damit erst, wenn man selbst entscheidet, wann Schluss ist.
Aus Sicht von Oberholz braucht es deshalb eine neue Selbstkompetenz. "Man muss wissen, wie man mit der neuen Form des Arbeitens gesund umgeht. Wir müssen neue Kulturtechniken erlenen, damit wir die Vorzüge der neuen Freiheit genießen können und nicht um unsere Selbstausbeutung noch effizienter voranzutreiben“, sagt Oberholz. Dazu gehören ganz einfache Dinge. Zum Beispiel mal „nicht erreichbar“ sein.
Verantwortung und Freiheit
Mythos 5: Die neuen Selbstständigen
Die Digitalisierung hat nicht nur neue Arbeitsfelder geschaffen. Sondern auch den Arbeitsmarkt grundlegend verändert. Wenn es um digitale Dienstleistungen, wie zum Beispiel das Testen von Websites geht, bringen zahlreiche Clickworking-Plattformen Arbeitswillige und Unternehmen zusammen. Die Auftraggeber können ihre Jobs an eine große Anzahl an Menschen ausschreiben. Und diese können sich ihren Broterwerb flexibel mit verschiedenen Jobs zusammenstellen.
Doch was nach einer Win-Win-Situation für alle klingt, ist vor allem für die Unternehmen praktisch. Sie müssen niemanden anstellen, null Sozialabgaben zahlen, keinen Kündigungsschutz einhalten.
Die wenigsten Clickworker versichern sich, dafür ist die Arbeit ohnehin zu schlecht bezahlt. Häufig gibt es gerade mal einen zweistelligen Centbetrag für die kleinen Jobs. Mit Selbstständigkeit hat das nichts zu tun. Stattdessen ist ein digitales Prekariat entstanden.
„Es wird höchste Zeit, Betriebs- und Arbeitnehmerbegriff neu zu definieren – und hier sind sowohl Politik als auch die Sozialpartner in der Pflicht“, sagt Kerstin Jürgens. Die Kasseler Soziologin hat zwei Jahre lang eine Kommission zur Zukunft der Arbeit geleitet. Die gewerkschaftsnahe Hans-Böckler-Stiftung hatte sie berufen, um sich mit rund 30 anderen Wissenschaftlern, Ministerialen, Gewerkschaftlern und Arbeitgebervertretern einen Reim auf die Veränderungen zu machen.
Das Fazit der Wissenschaftler fasst Jürgens so zusammen: „In Zukunft darf es keine Arbeit mehr ohne soziale Absicherung geben. Das werden wir uns nicht mehr leisten können.“ Man könne zum Beispiel jeden als Arbeitnehmer begreifen und behandeln, der an der Wertschöpfung beteiligt ist - das wäre aus Sicht der Wissenschaftlerin eine Möglichkeit, etwas in der digitalen Arbeitswelt zu verbinden, das bislang voneinander gelöst ist: Verantwortung und Freiheit.
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