Arbeitsweg Pendler betrügen sich selbst

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Verlierer sind Unternehmen in Gewerbegebieten

Paul Heinz Bruder ist einer der letzten seiner Art. Früher war die Region um Nürnberg ein Dorado für Kinderartikel, heute sind nur noch wenige übrig. Neben dem Branchenriesen Simba-Dickie ist Bruders Familienbetrieb in Fürth, den sein Großvater einst gründete, mit 430 Mitarbeitern und 78 Millionen Euro Umsatz einer der wichtigsten. Mehr als 70 Prozent der lokalen Arbeitnehmer verlassen morgens die Stadt, meist Richtung Nürnberg oder Erlangen, wo Siemens und die Uni locken.

Bruder hingegen habe Probleme, gute Leute zu finden. Denn die meisten Fürther sind es gewohnt, nicht in Fürth zu arbeiten. Für sie sind Wege an andere Orte attraktiver. Eine Stadt, die Pendlern schnelle Wege zu ihren Arbeitsplätzen bietet, mag attraktiv für neue Einwohner sein – für Arbeitgeber vor Ort aber nicht unbedingt.

Attraktive Zentren oder attraktive Anbindungen?

Die Stadt muss sich deswegen entscheiden: Will sie all die Pendler morgens ohne Probleme aus Fürth nach Erlangen oder Nürnberg fahren lassen, muss sie direkte Verbindungen aus dem Zentrum in diese Städte bauen. Damit aber bleibt weniger Geld übrig, um das Umland-Netz auszubauen, weshalb die Menschen ins Zentrum ziehen. Verlierer sind die Unternehmen in den Gewerbegebieten, wie Spielzeugproduzent Bruder. Sie müssen Menschen aus umliegenden Orten rekrutieren, die dann aufs Auto angewiesen sind.

Volkswirtschaftlich sind diese Entwicklungen durchaus positiv, schließlich ist ein funktionierender Arbeitsmarkt immer auch flexibel. Mit Unternehmen, die schnell neue Leute einstellen, wenn sie Arbeit haben. Und Arbeitnehmern, die nicht zögern, für einen Job lange Strecken auf sich zu nehmen. Je mehr gependelt wird, desto flexibler sind die Menschen also. Aber nicht unbedingt glücklicher.

Den Lärmschutz, den man ihr versprochen hat, den hält Elke Wagner für ungenügend. Deshalb protestiert sie. Zusammen mit ein paar Hundert anderen hat sie sich in der Initiative Angermund verbündet und damit irgendwie auch gegen all die anderen Pendler. Wagner will einen Tunnel, aber der kostet angeblich 500 Millionen Euro: „Wenn man uns nicht entgegenkommt, dann werden wir dagegen klagen“, sagt Wagner. „Das wird den Bau in jedem Fall um ein paar Jahre verzögern.“

Dass sie dadurch nur noch länger ganz ohne Lärmschutz leben müsste, würde sie in Kauf nehmen. Und ahnt gar nicht, dass sich in ihrem Kampf die ganze Widersprüchlichkeit zeigt: der Pendler, dem die anderen Pendler die Lebenskalkulation kaputt machen. Dann doch lieber Home-Office für alle.

Dieser Artikel erschien erstmals im November 2017 bei der WirtschaftsWoche und wurde im Oktober 2019 zuletzt aktualisiert.

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