Arbeitszeitmodelle Wie wir unsere Zeit wiederfinden

Arbeitnehmer wollen heute selbst entscheiden, wann und wo sie arbeiten - doch nicht immer sind die Unternehmen daran schuld, wenn sie es nicht können. Was die Politik tun kann - und was wir tun müssen.

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Diese Berufsgruppen arbeiten am meisten
Vollzeitbeschäftigte Arbeitnehmer arbeiteten 2015 durchschnittlich 1.657 Stunden Quelle: ZB
ArbeitstageWas sich dagegen viel stärker geändert hat, sind die Tage, an denen gearbeitet wird. Von "Samstags gehört Vati mir" ist in vielen Branchen nichts mehr zu spüren: Im Jahr 2015 arbeitete gut jeder Vierte (26,5 Prozent) ständig oder regelmäßig an Samstagen oder Sonntagen. 20 Jahre zuvor, im Jahr 1996, waren es noch 23,5 Prozent. Bis zum Jahr 2007 war der Anteil auf den bisherigen Höchststand von 27,8 Prozent angestiegen und bis 2015 wieder etwas zurückgegangen. Quelle: dpa
Wohnungsanzeige Quelle: dpa
Ein junger Mann liest kleinen Kindern etwas vor Quelle: dpa
Zwei Männer putzen Fenster Quelle: dpa/dpaweb
Zwei Frauen richten ein Bett in einem Hotel Quelle: dpa/dpaweb
Ein Mann arbeitet an einer Maschine Quelle: dpa

Erinnern sie sich noch an Julia Engelmann? Ihr YouTube-Video von einem Poetry Slam der Universität Bielefeld erlebte Anfang des Jahres einen beispiellosen Social-Media-Hype. Ein regelrechter Candystorm brach über sie herein. Menschen teilten das Video über ihre sozialen Netzwerke, auch Journalisten waren überschwänglich. Beim "Stern" etwa hieß es: "Dieses Video könnte Ihr Leben ändern". Engelmann ging es um Zeitsouveränität.

Engelmann erinnerte in ihrem jugendlichen Idealismus und in ihrem Trotz an die kleine Momo, die in Michael Endes gleichnamigen Roman gegen die grauen Herren in den Kampf zieht. Momo wollte den Menschen die von den grauen Herren gestohlene Zeit zurückzubringen. Gerade das scheinen viele – vor allem junge – Menschen zu wollen: ihre fehlende Zeit zurück.

Verhandelbarkeit von Zeit als Ziel

Nicht nur Berufseinsteiger stellen in Frage, ob Arbeit alles in ihrem Leben sein soll. Auch die Eltern der Generation Y suchen nach Entschleunigung, Stressabbau und vor allem nach Zeitgewinnen, weil die Arbeit viel Wochenzeit in Anspruch nimmt. "Mehr Zeitwohlstand wird ähnlich bedeutend wie monetärer Wohlstand", sagt Wolfgang Schroeder, Professor für Politik an der Universität Kassel.

von Dieter Schnaas, Christopher Schwarz

Das Problem ist: Sowohl Arbeitnehmer als auch Arbeitgeber wollen mehr Flexibilität - aber jeweils zu ihren Bedingungen. "Daher darf Arbeitszeit auch kein Diktat der Arbeitgeber sein, sondern muss verhandelbar sein. Und um diese Verhandelbarkeit zu erreichen, braucht es vor allem eine Mitbestimmungsmöglichkeit für die Beschäftigten", so Schroeder.

Ungleiche Freiheiten

Grundbedingung für eine flexible Arbeitszeitregelung ist allerdings, dass die Arbeitsplätze wettbewerbsfähig bleiben. Die Zeitsouveränität der Arbeitnehmer muss also auch Grenzen haben. Und obwohl solche Grenzen wichtig sind, gibt es bislang oft zu wenig Zeitsouveränität für die Arbeitnehmer. Privat- und Arbeitsleben verschwimmen immer mehr. Diese zeitliche Entgrenzung der Arbeit äußert sich nicht nur in langen Arbeitstagen, sondern auch in ständiger Verfügbarkeit. In der neuen Arbeitswelt verlangen Vorgesetzte auf der einen Seite mehr Flexibilität, ohne dass sie ihren Angestellten im Gegenzug Einfluss auf ihre Arbeitszeit einräumen. Aus Sicht der Arbeitgeber sind diese Arbeitnehmer jederzeit ersetzbar. Kurzfristige Strategien und starker Wettbewerb führen zudem dazu, dass die Unternehmen Arbeitsstellen abbauen und den übrigen Mitarbeitern mehr Aufgaben zuschustern. Sie erwarten Effizienzsteigerungen und flexible Einsetzbarkeit, nur um den puren Arbeitsplatz zu erhalten.

Auf der anderen Seite gibt es für einige Arbeitnehmer bereits Spielräume. Manche sprechen auch von einem Arbeitnehmermarkt, auf dem sich Unternehmen um Hochqualifizierte auch besonders bemühen. Sie gewähren Sabbaticals, führen Home-Office-Tage ein oder vereinbaren Vertrauensarbeitszeiten.

Eine neue Studie des Instituts für Weltwirtschaft in Kiel (IfW) stellt sogar fest, dass die Unternehmen, die ihren Beschäftigten mehr Wahlmöglichkeiten bei Arbeitszeit und Arbeitsort lassen, innovativer sind als die Konkurrenz. Eine um elf bis 14 Prozent höhere Wahrscheinlichkeit auf bessere Arbeitsergebnisse haben laut IfW Unternehmen, die auf Vertrauensarbeitszeiten ihrer Mitarbeiter setzen. Kurzum: Kluge Arbeitszeitregeln können nicht nur die Zeitsouveränität der Arbeitnehmer erhöhen, sondern auch die Produktivität des Unternehmens.

Bewusster Umgang mit Zeit ist zentral

Eines dieser Unternehmen, die auf mehr Wahlfreiheit bei der Arbeitszeitgestaltung setzen, ist Xing. Das soziale Netzwerk für Geschäftsbeziehungen und Berufskontakte setzt auf flexible Modelle für seine Mitarbeiter. "Vertrauensarbeitszeit und flexible Arbeitszeitgestaltung – in Absprache mit dem Teamleiter und den Kollegen – sind bei uns Alltag", erzählt Marc-Sven Kopka, der dort Vice President für Marketing und Kommunikation ist. "In vielen Bereichen ist auch Home Office üblich."

Tipps für den Umgang mit Mitarbeitern im Homeoffice

Mehr Zeitsouveränität ist natürlich nicht der alleinige Weg ins Arbeitnehmerparadies. Eine größer werdende Gruppe von Arbeitnehmern scheint verlernt zu haben, was es heißt, Feierabend zu haben. Sie haben zwar viel Souveränität über ihre Zeit, nutzen sie aber kaum. Ihr schlechtes Gewissen oder die Angst mit einer gestellten Aufgabe nicht rechtzeitig fertig zu werden, sorgen für einen Selbstzwang, der leicht zu Überforderungen führen kann. Dagegen hilft nur ein bewussterer Umgang mit der Zeit, wie ihn auch Julia Engelmann in ihrem Video forderte – wahrscheinlich war das Video auch deswegen so beliebt.

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