Die Spezialpumpen des Unternehmens sind weltweit gefragt. Felix Kleinert, Geschäftsführer der Firma Netzsch Pumpen & Systeme im oberbayerischen Waldkraiburg, könnte sich also eigentlich zufrieden zurücklehnen. Dass er sich dennoch um die Zukunft des einen oder anderen deutschen Netzsch-Standortes sorgt, hat vor allem einen Grund: Für das mittelständische Industrieunternehmen wird es immer schwieriger, geeignete Mitarbeiter zu rekrutieren. Derzeit beschäftigt der Pumpenbereich der Firmengruppe weltweit rund 2000 Mitarbeiter.
„Für einfache Bereiche Leute zu finden, geht ja noch“, schildert Kleinert die Lage. „Aber im IT-Bereich, etwa bei der Suche nach SAP-Experten, ist hier in Oberbayern ein regelrechter Kampf um die Köpfe entstanden. Je anspruchsvoller die Stelle, desto schwieriger ist es, jemand zu finden. Da nutzt auch viel Geld nichts“. Allein im IT-Bereich könnte Kleinert sofort zwei bis drei Mitarbeiter einstellen - wenn es sie denn gäbe. Denn in der Boom-Region Oberbayern herrscht bei einer Arbeitslosenquote von 2,9 Prozent im Oktober praktisch Vollbeschäftigung.
Kleinert steht damit nach Einschätzung von Wirtschaftsverbänden und Arbeitsmarktforschern nicht alleine da. Zehntausende von Unternehmen fühlen sich wegen des Fachkräftemangels in ihren Expansionsbestrebungen ausgebremst. So hat das Nürnberger Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) im dritten Quartal fast 1,1 Million freie Stellen in deutschen Betrieben ermittelt - 174.000 mehr als vor einem Jahr. Ihnen standen zwar zuletzt im Oktober knapp 2,4 Millionen Arbeitslose gegenüber. Das Problem sei aber, dass viele Jobsucher nicht immer die Anforderungen der Unternehmen erfüllten.
Trotzdem: Die Chancen für Arbeitslose, endlich eine Stelle zu finden, waren nach Experteneinschätzung noch nie so groß wie in der aktuell guten Wirtschaftslage. Eine vom Juni stammende Analyse der Bundesagentur für Arbeit offenbart in vielen Branchen einen eklatanten Fachkräftemangel - Tendenz steigend. Das Problem konzentriert sich auf rund zwei Dutzend Berufsfelder: Gesucht werden unter anderem Ingenieure, IT-Experten, Baufachkräfte, Lokführer und andere Eisenbahnfachkräfte, Sanitär-, Heizungs- und Klimatechniker sowie Ärzte, Kranken- und Altenpfleger.
Wie dramatisch die Lage für manche Unternehmen inzwischen ist, offenbart sich besonders in technischen Berufen: Dort dauerte es 2017 im Schnitt 156 Tage, bis in dem entsprechenden Handwerksbetrieb der passende Sanitär-, Heizung- und Klimatechniker gefunden war. Im Jahr vorher waren es nur 142 Tage gewesen. Noch länger dauert es im weitgehend leer gefegten Markt für Altenpflegekräfte. Hier brauchten Alten- und Pflegeheime im Schnitt 167 Tage, bis eine vakante Stelle wieder oder neu besetzt war. Über alle Berufe hinweg lag die Vakanzzeit 2017 bei 100 Tagen - 10 mehr als im Jahr 2016.
Dabei wird nach Erfahrungen Kleinerts von der Netzsch-Gruppe der Kampf um die besten Köpfe zusehends härter. So sind inzwischen auch Abwerbe-Versuche unter Konkurrenten oder anderen Firmen in der Region keineswegs mehr tabu. „Dass Firmen aufeinander Rücksicht nehmen, das ist heute nicht mehr so“, berichtet der Firmenchef. Am meisten gehe bei der Mitarbeiter-Rekrutierung noch über persönliche Beziehungen oder Headhunter, die Fachkräfte gezielt anwerben. IT-Spezialisten finde man am besten über Jobportale im Internet.
Dass es „auf dem Stellenmarkt in den vergangenen Jahren immer enger geworden ist“, räumt auch der IAB-Arbeitsmarktforscher Enzo Weber ein. Tatsächlich gebe es vor allem in einigen technischen Bereichen Engpässe. „Im Moment haben wir aber noch keinen flächendeckenden Fachkräfteengpass“, stellt er klar.
Trotzdem sieht auch Weber die Risiken, die mit einer langfristig stagnierenden oder sogar sinkenden Arbeitskräftepotenzial einhergeht, etwa für die sozialen Sicherungssystem in Deutschland, die künftig von immer weniger Jüngeren finanziert werden müssten. Langfristig könne die Situation auch für das eine oder andere Unternehmen das Aus bedeuten. Viel Hoffnung, dass sich der Fachkräftemangel in der Zukunft beheben lassen wird, macht der Volkswirt den Unternehmen aber dennoch nicht.
Die gängigsten Thesen zum Fachkräftemangel - und ihr Wahrheitsgehalt
Das stimmt zwar für einige Berufsgruppen, ist aber auch regional sehr unterschiedlich ausgeprägt. Die aktuellste Engpass-Analyse der Bundesagentur für Arbeit etwa sieht keinen flächendeckenden Fachkräftemangel - wohl aber Engpässe in einigen technischen Berufen sowie in Gesundheits- und Pflegeberufen. Mit durchschnittlich 162 Tagen am längsten bleiben demnach Stellen in der Altenpflege unbesetzt, gefolgt von Jobs im Bereich Heizung, Sanitär, Klimatechnik und Klempnerei (150 Tage) sowie Softwareentwicklung und IT-Beratung (143 Tage).
Das arbeitgebernahe Institut der deutschen Wirtschaft (IW) wiederum kommt in einer Analyse zu dem Ergebnis, dass die Firmen derzeit etwa die Hälfte aller Stellen in Engpassberufen ausschreiben und somit Schwierigkeiten bei der Stellenbesetzung vielerorts bereits die Regel und nicht die Ausnahme seien. Im Süden sei die Lage dabei angespannter als im Norden, aber auch in Ostdeutschland spitze sich die Situation teils zu. Auch Enzo Weber vom Nürnberger Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung (IAB) sagt: In einigen ostdeutschen Boom-Regionen steige der Arbeitskräftebedarf bei gleichzeitig fehlendem Zuzug entsprechender Fachkräfte.
Das lässt sich nicht ohne weiteres genau prognostizieren. Vorhersagen aus der Wirtschaft zur künftigen Fachkräftelücke stoßen deshalb regelmäßig auf Kritik - auch weil dahinter das Interesse vermutet wird, möglichst viele junge Leute für technische Berufe zu rekrutieren und so die Bezahlung zu drücken. Fest steht nur: Zwar schmälern die Alterung der Gesellschaft und der Trend zum Studium die Zahl potenzieller Bewerber in bestimmten Berufen. Aber die Digitalisierung könnte diese Entwicklung abfedern. Noch lässt sich allerdings nicht genau absehen, in welcher Geschwindigkeit der zunehmende Einsatz von Sensorik, Maschinen und Robotern menschliche Arbeitskräfte einmal ersetzen wird. Auch wie sich Zuwanderung und die Aufnahme von Flüchtlingen mittel- bis langfristig auf das Fachkräftepotenzial auswirken, bleibt abzuwarten.
Darüber klagen Wirtschaftsvertreter immer wieder. Zu häufig hapere es nicht nur an ausreichenden Mathematik- und Deutschkenntnissen, sondern auch an sozialen Kompetenzen, sagte erst kürzlich der Hauptgeschäftsführer der bayerischen Metall-Arbeitgeberverbände, Bertram Brossardt. In einer kürzlich veröffentlichten Branchenumfrage in Bayern hatte fast die Hälfte der Unternehmen, die ihre Ausbildungsplätze nicht besetzen konnten, eine fehlende Eignung der Bewerber als Ursache angegeben. Doch Ausbildungs- und Arbeitsmarktexperten halten dagegen: Angesichts schrumpfender Bewerberzahlen sollten die Firmen auch sozial benachteiligten Jugendlichen und jungen Leuten mit schwächeren Schulabschlüssen Chancen bieten.
Vor allem die Gewerkschaften werfen Arbeitgebern in Berufen mit Nachwuchssorgen vor, zu wenig für die Ausbildungsqualität zu tun. Überstunden, fehlende Ausbildungspläne oder hoher Druck - solche Mängel machten manche Berufe für junge Leute eben unattraktiv, argumentiert etwa der Deutsche Gewerkschaftsbund. In seinem jährlichen Ausbildungsreport kommen etwa immer wieder Ausbildungsgänge im Hotel- und Gaststättengewerbe vergleichsweise schlecht weg. Genau in solchen Berufen gebe es besonders viele unbesetzte Ausbildungsplätze, sagt DGB-Bundesjugendsekretär Florian Haggenmiller. Um Abhilfe zu schaffen, haben Wirtschaft und DGB ein spezielles Beschwerde-Management auf den Weg gebracht.
Darauf macht etwa die IW-Studie aufmerksam - und empfiehlt den Arbeitgebern, selbst aktiver und beweglicher zu werden. Neben dem Blick über den regionalen Tellerrand bei der Suche von Fachkräften und Azubis könnten die Betriebe den jungen Leuten vor Ort verstärkt Wohnmöglichkeiten anbieten und auch Arbeitslose zum Umzug bewegen.
Hier besteht dringender Handlungsbedarf, sagt etwa IAB-Experte Weber - und Staat und Betriebe sollten dabei Hand in Hand arbeiten, auch um den digitalen Wandel gut zu bewältigen. „Wir brauchen eine Weiterbildungspolitik.“
Denn nach seiner Prognose dürfte spätestens 2018 beim sogenannten Erwerbspersonenpotenzial - Menschen, die Arbeit haben und oder gerne einen Job hätten - zahlenmäßig der Höhepunkt erreich sein. Dann werde die Zahl schon wegen der ins Rentenalter kommenden „Babyboomer“ beständig sinken. Das Institut Prognos etwa rechnet bis zum Jahr 2030 mit bis zu drei Millionen fehlenden Fachkräften. Nach Webers Einschätzung wird sich diese Lücke auch mit qualifizierten Kräften aus anderen EU-Ländern immer schwerer ausgleichen lassen.