Falsche Berufsvorstellungen Wo Jugendliche über MINT-Jobs irren

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MINT-Studium verdrängt Ausbildungsberufe

Um junge Menschen - egal welchen Geschlechts - an technische Berufe heranzuführen, braucht es laut dem MINT-Nachwuchsbarometer deshalb vor allem eine bessere Berufsvorbereitung und -information an allen Schulen. Außerdem zeigen Studien, dass Schüler, die Technikunterricht oder Technik-Arbeitsgruppen besucht haben, einer Ausbildung oder einem entsprechenden Studium deutlich positiver gegenüber stehen. Auch nach Untersuchungen der OECD haben Jugendliche aus Staaten, die einen regelmäßigen Technikunterricht an allgemeinbildenden Schulen anbieten, weniger Berührungsängste mit Technik und technischen Berufen.

An deutschen Schulen gibt es Technikunterricht allerdings nicht als Pflichtfach und wenn doch, dann in Fachverbindungen mit Wirtschaft, Hauswirtschaft, Mensch, Umwelt, Recht oder Kunst. Dabei hätten gerne mehr Schüler die Möglichkeit, sich im Unterricht mit Technik zu befassen. Die Studie der HTW Chur belegt, dass über ein Drittel der 17- bis 21-Jährigen mehr Technikunterricht in der Schule wünscht. Wichtig ist dabei nur, den Schülern den Praxisbezug zu vermitteln: Wissenschaftler der Universität Tübingen haben bewiesen: Gymnasiasten, die sich mit dem Nutzen von Mathematik im alltäglichen Leben beschäftigt haben, schnitten bei Tests besser ab und waren motivierter als Schüler, die bloß stur Formeln pauken. Denn wieso sollte man Zeit in etwas investieren, das keinen praktischen Nutzen hat?

Leistungskurs entscheidet

Auch die Wahl der Leistungskurse in der gymnasialen Oberstufe spielen später eine Rolle bei der Wahl des Studienfachs oder der Ausbildung. Das Nachwuchsbarometer bestätigt, dass Schülerinnen und Schüler, die einen Mathe-, Physik- oder Informatik-Leistungskurs belegt haben, deutlich häufiger eine MINT-Ausbildung planen. Das Problem ist nur: Die Mehrheit der Schüler belegt die Fächer Deutsch (20 Prozent), Englisch (19 Prozent) und Mathematik (18 Prozent). Im Schuljahr 2013/14 besuchten nur 16 Prozent der Schüler einen naturwissenschaftlichen Leistungskurs, wobei das Fach Biologie mit neun Prozent wiederum mehr als die Hälfte ausmacht und das nur vereinzelt angebotene Fach Informatik mit unter einem Prozent kaum ins Gewicht fällt. Physik- und Chemie-Interessierte scheinen in den Gymnasien Exoten zu sein.

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Alarmierend ist auch die Nachwuchssituation bei den Lehrer für die naturwissenschaftlichen und technischen Fächer: Rund 21 Prozent der Lehrer geben entsprechenden Unterricht, Tendenz fallend. Im Jahr 2012/2013 lag der Anteil der Physiklehrer unter der Neulehrern "immerhin" noch bei vier Prozent, im Jahr 2013/2014 waren es schon nur noch drei Prozent. Auch bei Chemie- und Informatiklehrern für das Gymnasium ist der Anteil rückläufig, nur bei den Mathematiklehrern stagniert der Wert. Zum Vergleich: Binnen eines Jahres hat sich in der Sekundarstufe II der Anteil der Geschichtslehrer, die frisch von der Uni kamen, von gut acht auf knapp elf Prozent erhöht. Und das trotz geringer Nachfrage.

Ein ganz ähnliches Bild bietet sich an den Berufsschulen: Während im Jahr 2004 noch rund 17 Prozent der Berufsschullehrer ein technisches Fach studiert haben, waren es 2014 noch neun Prozent.

Jeder Student ist ein Azubi weniger

Zwar schreiben sich mittlerweile wieder mehr junge Menschen für ein MINT-Studium ein, eine echte Trendwende sei das jedoch nicht. Zum einen ist der Beginn eines Studiums nicht mit dem Abschluss gleichzusetzen. Deutschlandweit beenden weniger als 40 Prozent ein Studium, gerade in MINT-Fächern sind die Abbruchquoten hoch.

Außerdem sei das Interesse bei Schülerinnen und Schülern, Auszubildenden sowie Studierenden weiterhin zu gering, um den Bedarf an Fachkräften zu decken.

Gerade im Ausbildungsbereich ist die Entwicklung drastisch: Binnen zehn Jahren ist die Zahl der neu abgeschlossenen MINT-Ausbildungsverträge um acht Prozent gesunken. Die Zahl der vorzeitig gelösten Ausbildungsverträge ist im gleichen Zeitraum weiter gestiegen. "Wir müssen jungen Menschen klar machen, dass MINT-Ausbildungen viel attraktiver sind, als sie glauben", fordert deshalb Ortwin Renn, Mitglied des acatech Präsidiums und wissenschaftlicher Leiter der Studie.

Und Henning Kagermann, Präsident von acatech, sowie Lothar Dittmer, Vorstandsvorsitzender der Körber-Stiftung, betonen, dass jeder MINT-Student mehr ein MINT-Azubi weniger ist. "Diese Rechnung kann auf Dauer nicht aufgehen, denn Deutschland braucht beides: Spitzenkräfte bei den Ingenieurinnen und Ingenieuren sowie gleichzeitig hervorragend ausgebildete Fachkräfte in Industrie und Handwerk", schreiben sie im Vorwort zur Studie. Und weiter: "Die digitale Transformation der Wirtschaft und der demografische Wandel erfordern zunehmend digital kompetente und technisch versierte Nachwuchskräfte. Wir brauchen nicht nur ein Mehr an MINT-Bildung für den Einzelnen, sondern allgemein eine größere Zahl an Personen, die über MINT-Qualifikationen verfügen."

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