Wirtschaftswoche: Herr Suter, eine neue Studie zeigt, dass jeder zweite Deutsche in den Ferien arbeitet. In der Schweiz oder in Frankreich soll es nicht viel anders sein. Von Abschalten will man in Mitteleuropa offenbar nichts wissen – haben wir das Urlauben verlernt?
Suter: Es scheint so. Denn wenn man bedenkt, dass Bäcker und Gärtner, Kranführer und Schaffner den Urlaub gar nicht zur Arbeit nutzen können, dann heißt das ja: So gut wie alle Büroleute arbeiten im Urlaub. Aber solche Umfragen sind natürlich mit Vorsicht zu genießen. Womöglich sind die Befragten nicht ganz ehrlich und wollen fleißiger erscheinen, als sie sind.
Dass es Leute gibt, denen es Spaß macht, auch im Urlaub zu arbeiten, schließen Sie aus?
Nein, die gibt es bestimmt, zum Beispiel Verlagslektoren, die im Urlaub endlich dazu kommen, die Bücher anderer Verlage zu lesen. Oder Schriftsteller, die sich zwischendurch Notizen machen für ihren nächsten Roman. Womöglich auch Manager, die beim Whisky in der Hotelbar Pläne schmieden für die anstehenden Restrukturierungsmaßnahmen. Aber in diesen Fällen ist die Liebe zur Arbeit meist nicht das entscheidende Motiv.
Sondern?
Das Prestige. Wie die 60- oder 70-Stunden-Woche gehört in manchen Kreisen die permanente Verfügbarkeit via Smartphone oder Laptop zum guten Ton. Gerade im mittleren Management findet man viele, die sich für unentbehrlich halten und deshalb unentwegt Arbeit vorschützen. Man tut so als ob, spielt den Hochleistungshelden – und hält auch in den Ferien fleißig den Kontakt zum Back-Office. Allerdings gibt es da Grenzen: Wer zu viel arbeitet in den Ferien, zeigt damit nur, dass er schlecht organisiert ist. Ein bisschen Arbeit, sagen wir: ein, zwei Stunden am Tag, stärkt dagegen das Image.
In Ihren Kolumnen über die "Business Class" sprechen Sie ironisch vom "Lichterwettbewerb der oberen Kader: Wessen Licht geht zuletzt aus?", auch von "Überlastung als untrüglichstem Zeichen von Unersetzlichkeit". Ist das Leistungsethos des Managements nichts als Show?
Meine Kolumnen leben natürlich von der satirischen Überspitzung und Verallgemeinerung. Es gibt sicher unzählige Manager, auf die meine Beobachtungen überhaupt nicht zutreffen. Die hart arbeiten und den Urlaub wirklich zur Entspannung nutzen. Aber es kann nicht Aufgabe der Satire sein, die Vorbilder in die Pfanne zu hauen. Sie muss die typischen Ticks und Marotten der Manager aufs Korn nehmen. Auch ihre Moden: Erst prahlen sie mit Stress und Schlafmanko, dann kultivieren sie das Burn-out, schließlich entdecken sie die Quality-Time im Urlaub und brechen ihn trotzdem aus fadenscheinigen Gründen ab. Das fand ich alles immer ziemlich lustig.
Die Angst vor der Konkurrenz
Manche Ihrer Helden vermitteln den Eindruck, als würden sie am liebsten ganz auf den Urlaub verzichten. Was ist für den Manager so abschreckend an einer dreiwöchigen Auszeit in den Bergen?
Die Vorstellung, dass man nicht mehr im Mittelpunkt der Party steht. Dass man nicht gebraucht wird. Dass die Firma auch ohne einen gut zurechtkommt. Vielleicht sogar besser. Plötzlich könnten die Kollegen ja herauskriegen, dass man gar nicht so wichtig ist, wie man gern vorgibt oder sich einbildet. Da spielt immer auch die Angst vor der Konkurrenz im eigenen Haus hinein: Was passiert, wenn mein Revier von einem anderen Rüden markiert wird? Außerdem kann Urlaub für einen Top-Entscheider stressiger sein als der stressigste Job. Vor allem, wenn er mit der Familie unterwegs ist.
Weil er dann zum Familienvater degradiert wird und das alltägliche Chaos des Familienlebens ertragen muss?
Ja, er erlebt den Familienurlaub als Kontrollverlust. Die Familie verlangt von ihm ein ganz anderes Rollenverhalten als die Chefetage. Plötzlich muss er auf seine Frau Rücksicht nehmen, soll seine Kinder, die ihn wie einen halbfremden Menschen ansehen, in seine Entscheidungen einbeziehen, darf nicht mehr Chef spielen. Und wenn er es doch tut, hängt der Haussegen gleich schief. Natürlich kann er nebenbei noch die eine oder andere Entscheidung treffen, die sich partout nicht delegieren lässt, aber es fehlt ihm doch etwas ganz Wesentliches – das große Publikum. Vergessen wir nicht: Der Manager ist immer auch Manager-Darsteller, er braucht den Applaus seiner Bewunderer, den Neid seiner Gegner. Auf beides muss er im Urlaub verzichten. Ein hartes Los.
Auszüge aus Martin Suters Buch "Abschalten"
Auch wenn Nievergelt den Tag am Strand mit nassen Hosen überstehen würde, wenn der Moment käme, sich wieder anzuziehen, müsste er die Badehose gegen die mitgebrachte Unterhose tauschen, darauf würde Sandra beharren. Sandra, seine zweite Frau, hat bereits das Bikinioberteil abgelegt, den Sonnenschirm zugemacht und begonnen, einen möglichst augenfälligen Kontrast zu ihm zu bilden. Das fällt ihr leicht, weil sie fünfzehn Jahre jünger ist und einen Teil seines Einkommens darauf verwendet, diesen Abstand zu vergrößern. Ich hätte auf dem Engadin bestehen sollen, dort hätte ich den Hotelfrotteemantel anbehalten bis zur Treppe des Hallen-Pools und ihn nach meinen zwei Längen sofort wieder angezogen.
Wie er einem Fachartikel zu diesem Thema entnimmt, existieren Methoden, Managerqualitäten durch regelmäßige Evaluation der Managementkompetenzen und der psycho-physischen Leistungsfähigkeit zu messen. Der Gedanke, seine Burschen diesem Verfahren auszusetzen, gefällt ihm so gut, dass er trotz der frühen Stunde einen Fruchtsaft mit einem Sonnenschirmchen und etwas Alkohol bestellt.
Ein Mann in Wanderausrüstung schreitet gemessen über den Alpweg. Er trägt ein Rucksäckchen, aus dessen Außentasche der Kopf eines Plüschtierdinosauriers ragt, und presst ein Handy an sein rechtes Ohr. "...der nächste Schritt wäre dann die Umsetzung empirisch entwickelter Kundentypologien als interaktives Feedbacksystem. – Mhm, mhm. Klar, beide: die funktionalen und die emotionalen Benefits."
Stattdessen muss er, wie Sie es beschreiben, um seine Würde als Respektsperson kämpfen, zum Beispiel beim Badehosenwechsel am Strand...
…und wurmt sich deshalb, dass er nicht auf dem Engadin als Urlaubsziel bestanden hat. Ja, für den Bankvorstand ist es naturgemäß eine schwere Demütigung, dem Gespött, schlimmer noch, dem heimlichen Gespött der Leute ausgeliefert zu sein. Das ist für ihn ein Desaster.
Es heißt, dass Manager 80 Prozent ihrer Zeit damit verbringen, ihren Status zu sichern.
Das könnte von mir stammen. Jedenfalls beschreibe ich in meinen Kolumnen Manager, deren Hauptaufgabe darin besteht, für ihre eigene Karriere zu sorgen – also mögliche Konkurrenten bloßzustellen, zum Beispiel indem sie im Gespräch neue, unverständliche Fachausdrücke aus der Managementliteratur platzieren, um zu testen, wie ihr Gegenüber reagiert. Inzwischen haben sich die Dinge ein bisschen geändert. Der Erfolg einer Firma soll, wie ich höre, immer häufiger von der Qualität ihrer Führung abhängen. Das war zu meiner Zeit als Werber anders, da konnte man den größten Trottel an die Spitze setzen und das Unternehmen lief trotzdem weiter. Aber das Motiv der Statussicherung ist natürlich zentral geblieben.
Auch der Urlaub wird "inszeniert"
Wie wichtig ist dafür die Wahl des Urlaubsorts?
So wichtig wie Kleidung oder Accessoires. Die Hochburgen des Massentourismus sollte man als Manager möglichst meiden. Mallorca oder Teneriffa im Hochsommer – geht natürlich nicht.
Aber Kanufahren in den kanadischen Rocky Mountains?
Frau und Kinder in der Blockhütte, während der Vater lebensgefährliche Wildwasserfahrten unternimmt – ja, das ginge.
Auch der Urlaub im Odenwald?
Wenn da ein Jagdschlösschen ist – warum nicht? Etwas Originelles geht immer.
Mit anderen Worten: Auch im Urlaub unterliegen wir dem System der feinen Unterschiede, inszenieren uns so, wie wir von andern gern gesehen werden wollen?
Sicher, dem können wir gar nicht entgehen. Wir spielen immer Theater, erst recht im Urlaub. Eine Leserin hat mir mal gesagt, alle meine Geschichten würden um das Thema Schein und Sein kreisen. Ich glaube, das trifft es. Es geht immer um die Frage: Wer bin ich, und wer könnte ich sein? In der Welt der Business Class wird das nur besonders augenfällig. Da sind die Manager unentwegt bemüht, dem Bild, das sie von sich entwerfen, gerecht zu werden, versuchen Selbstbild und Fremdbild möglichst einander anzugleichen. Allerdings gelingt ihnen das nicht immer.
Dabei böte doch gerade der Urlaub die Chance, sich frei zu machen von solchen Zwängen im Sinne von "Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein".
Schon, aber erstens weiß keiner von uns genau, wer er "eigentlich" ist, weil wir verschiedene, oft gegenteilige Identitäten in uns tragen. Außerdem ist das Berufsethos am Ende doch stärker: Der Manager mag im Urlaub an der Côte d’Azur probehalber den Bohemien in sich entdecken, trotzdem wird er nicht zwei Wochen im Bistro abhängen und Wein in sich hineinschütten oder nach dem Urlaub mit Shorts in der Firma auftauchen.
Weil er sich nicht traut?
Nein, weil sein Selbstideal das nicht zulässt. Oder seine Frau ihn rechtzeitig daran hindert. Ich muss da immer an Snoopy von den Peanuts denken, wie er auf dem Dach seiner Hundehütte sitzt und sich vorstellt, er sei das Flieger-As aus dem Ersten Weltkrieg. Dieses Bild sehe ich als Denkblase immer über den Köpfen der Manager in den Business-Lounges dieser Welt: Hier sitzt er, Fritz Gerster, Senior-Vice-President, isst ein Brötchen, trinkt ein Wasser und arbeitet heroisch die Sitzungstermine an seinem Laptop ab.
Kontrast zwischen Anspruch und Wirklichkeit
Eine lächerliche Figur?
Nein, eine komische. Der Kontrast zwischen Anspruch und Wirklichkeit hat immer etwas Komisches, genauer: etwas Tragikomisches.
Und weckt die Schadenfreude des Lesers?
Sicher. Wenn sich zwei über einen dritten in der Herrentoilette des Ferienhotels lustig machen, und der sitzt direkt daneben, dann zielt das natürlich auch auf die Schadenfreude des Lesers. Aber ich habe immer versucht, meine Figuren nicht zu denunzieren, sie mit einem kleinen Anteil von Sympathie durch den Kakao zu ziehen. Schon deshalb, weil ich der Theorie anhänge, dass der Schriftsteller sich nicht in andere Figuren hineinversetzen kann, sondern sie in sich selber finden muss. In jeder meiner Figuren steckt ein Stück von mir selbst – in hoffentlich sehr kleiner Größe. Daher dieser Rest an Beißhemmung.
Es fällt auf, dass Frauen bei Ihnen allenfalls in der Rolle von Sekretärinnen oder Gattinnen auftauchen, aber kaum als Managerinnen. Könnte es sein, dass die besser mit der Urlaubssituation umgehen würden?
Ehrlich gesagt, habe ich in meiner Zeit als Werber kaum Unterschiede zwischen Managerinnen und Managern feststellen können, außer dass die Managerinnen Lippenstift benutzten und Röcke trugen. Ansonsten funktionierten sie wie die Männer. Dass in meinen Kolumnen mehr Männer als Frauen auftreten, hat aber sicher auch damit zu tun, dass es für den Satiriker einfacher ist, sich männerfeindlich statt frauenfeindlich zu geben.
Haben Sie es erlebt, dass sich Manager wiedererkannt haben in Ihren Porträts?
Eigentlich fast nie. Ganz selten sagte mir einer: Manchmal ist mir das Lachen im Hals steckengeblieben. Die meisten lachen wie in jeder Satire von Herzen über andere Leute und merken nicht, dass sie selbst gemeint sind.
Das Problem ist das Nichtstun
Einige Vertreter der Manager-Elite sind gerade unfreiwillig in Urlaub – zum Beispiel Dirk Notheis von Morgan Stanley.
Ja, das sind ganz harte Situationen, für das Selbstwertgefühl verheerend, gerade bei Leuten, die vom Selbstwertgefühl leben. Den freigesetzten Manager kann ich mir eigentlich nur als Verzweifelten vorstellen, der den Wecker nicht mehr zu stellen braucht und trotzdem um viertel vor sechs aufwacht.
Muss der das Nichtstun ganz neu lernen?
Ach, das Problem ist nicht das Nichtstun, das haben viele Manager ein Leben lang geübt, sondern das Gefühl, nicht mehr gebraucht, nicht mehr respektiert zu werden, nicht mehr Teil eines größeren Ganzen zu sein. Der Manager ist ja kein einsamer Jäger wie der Künstler, er braucht das Team, die vielen – meist völlig überflüssigen – Sitzungen mit ihren Rollenspielen, Machtkämpfen und Hierarchietests. Und das fehlt ihm plötzlich.
Wo und wie verbringt der Schriftsteller Martin Suter seinen Urlaub?
In einer Woche fliegen wir nach Bali, wo wir an der Küste ein Haus gemietet haben, von dort machen wir dann Ausflüge. Das ist ein Arrangement, das sich als angenehm herausgestellt hat, wenn man mit einem kleinen Kind unterwegs ist, wie wir.
Und den Laptop lassen Sie zu Hause?
Ein paar Notizen will ich mir machen für meine Krimiserie „Allmen“, das ist eine Figur, die viel auf Reisen ist und in Hotels lebt. Aber richtig arbeiten werde ich nicht. Dafür sorgt schon meine Familie.