Gewandhausorchester "Zwischen Boston und Leipzig besteht eine Atlantik-Brücke"

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Der Charakter der Orchester hat sich homogenisiert

Das Orchester, so heißt es bis heute in Amerika, benötige Nelsons ganze Aufmerksamkeit. Sein Vorgänger, James Levine, hat es wegen einer langen Krankheit nicht formen können.

Ich habe lange überlegt: Was kann ich Boston anbieten? Dann kam uns die Idee mit der geteilten Geschichte, und wir kreierten ein künstlerisch starkes Projekt. Das hat gezogen. Die Bostoner waren begeistert. Und auf dieser Grundlage haben wir dann Gespräche geführt, auch mit den Managern von Andris Nelsons. Wir haben die Kalender übereinander gelegt und gesehen: Es gibt hier keinen unüberwindbaren Konflikt. Nun ist es soweit. Nelsons ist Chef in Boston und Leipzig bis 2022. Eine schöne Perspektive.

Sind Sie sicher? Ihre Musiker sind stolz auf den „dunklen, runden, geschmeidigen“ Leipziger Klang, während das BSO eher durch Homogenität und schneidendes Blech besticht. Kann Nelsons die Eigenheiten beider Orchester respektieren – oder wird er sie als Doppelchef nivellieren? 

Die Gefahr besteht. Aber erstens werden wir mit Nelsons eigenständige Programme erarbeiten. Zweitens garantieren unterschiedliche Sitzordnungen, Spieltechniken und Instrumente einen je eigenen Klang. Drittens zeichnet es Nelsons aus, dass er mit den Musikern an der Akzentuierung und Verfeinerung des Orchesterklangs arbeitet.

Gibt es ihn überhaupt noch, abseits der Mythenpflege: den erdigen „deutschen Klang“, das mattglänzende Altgold, das von den Staatskapellen in Dresden und Berlin und vom Gewandhausorchester gepflegt wird?

Mit der Globalisierung der Klassik hat sich auch der Charakter der Orchester homogenisiert. Es gibt keine spezifischen Welten des Klangs mehr, wie sie zum Beispiel mal zwischen Karajan in Berlin und Celibidache in München lagen. Wir beschäftigen Musiker aus 17 Ländern, da bringt jeder seine persönliche Musizierhaltung vor einem anderen Ausbildungshintergrund mit.

Dennoch wird bei uns auf eine spezifische Spielweise geachtet und darauf, dass bestimmte Instrumente gespielt werden, zum Beispiel deutsche Posaunen oder Klarinetten mit deutschem System, was zusammen einen unverwechselbaren Klang erzeugt. Das Orchester weiß um seine Identität. Herbert Blomstedt hat extrem intensiv am Eigenklang des Orchesters gearbeitet. Und Chailly hat ihn modernisiert. Das klingt frisch und erdig zugleich, spezifisch nach Leipziger Gewandhaus – und gewiss nicht nach Allerlei. 

Okay, wir verneigen uns für einen Augenblick: Speziell die Brahms- und Beethoven-Zyklen sind wirklich fantastisch…

Wir hatten elf sensationelle Jahre mit Riccardo Chailly, mit den Zyklen, den Tourneen und mit den 34 Aufnahmen, die es bis Sommer nächsten Jahres sein werden…

Deshalb noch einmal: Warum mit Andris Nelsons einen Vertreter des Branchen-Jet-Sets – und keinen Kapellmeister alter Schule, einen vielleicht etwas weniger berühmten Dirigenten, der mit dem Orchester probt, arbeitet, feilt?

Weil wir uns an der Spitze positionieren und eine globale Marke von Rang sein wollen. Nicht zuletzt im direkten Vergleich mit Berlin, Dresden, München. 

Zehn Hauptwerke der klassischen Moderne

Laut einer Umfrage unter Musikkritikern, was immer man davon halten mag, dirigiert derzeit in Leipzig der beste Dirigent der Welt, Riccardo Chailly, das viertbeste Orchester der Welt… 

Und dabei soll es bleiben. Nur mit einem Top-Ten-Dirigenten an der Spitze eines Top-Ten-Orchesters können wir mit Residencies in Wien, Paris oder London rechnen, mit lukrativen Tourneen in Übersee. Nur mit Chailly oder Nelsons können wir gefragte Labels, Komponisten und Solisten an uns binden. Lang Lang, Yo Yo Ma oder Anne-Sophie Mutter spielen halt nicht überall. So einfach ist das. Wenn wir unseren Spitzenplatz in der Champions League behaupten wollen, müssen wir einen Spitzenkönner an unserer Spitze haben.

Sie meinen einen Spitzenstar.

Auch das. Ich will damit nicht sagen, dass es unterhalb der Champions League keine interessanten Dirigenten gibt. Ich weiß nur: Holen wir nicht Nelsons, stehen uns viele Möglichkeiten nicht offen. 

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