Kreativität Die Sucht nach dem Neuen

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Kreatives scheitern

Wo erfolgreichen Menschen die besten Ideen kommen
Stress, nervige Kollegen, besserwisserische Vorgesetzte - es gibt viele Gründe für Einfallslosigkeit am Arbeitsplatz. So ist es nicht erstaunlich, dass gerade einmal 3,4 Prozent aller Deutschen finden, ihr Arbeitsumfeld fördere Kreativität. Satte 9,9 Prozent weichen zum Grübeln und Überlegen folgerichtig auf das stille Örtchen aus: Sie haben ihre besten Ideen auf der Toilette. Fotos: dpa, Reuters, ap, PR
Er gilt als einer der berühmtesten US-amerikanischen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts: Seine geistigen Ergüsse schrieb der Literaturnobelpreisträger Ernest Hemingway am Stehpult nieder - mit einem Drink in der Hand.
Sein umfangreiches Werk gehört zu den bedeutendsten im Repertoire der klassischen Musik: Das Wunderkind Wolfgang Amadeus Mozart hatte seine besten Ideen - im Bett. Im gemütlichen Zettel-Chaos lief der Komponist erst so richtig zur Hochform auf.
Sir Isaac Newton war ein englischer Physiker, Mathematiker, Astronom, Alchemist, Philosoph und Verwaltungsbeamter. Bis heute gilt er als einer der größten Wissenschaftler aller Zeiten, mit seiner Prinzipia legte er den Grundstein für die klassische Mechanik. Gearbeitet hat Newton am liebsten im Garten.
Seine Dramen gehören zum besten, was die deutsche Sprache zu bieten hat. Aber auch als Lyriker hat sich Friedrich Schiller einen großen Namen gemacht. Um sich zu entspannen und der Kreativität freien Lauf zu lassen, stellte der Stürmer und Dränger seine Füße gerne in kaltes Wasser.
Das Badezimmer scheint auch für Regisseur Woody Allen ein besinnlicher Ort zu sein: Inspiration findet der US-Amerikaner beim Rasieren. Angesichts von über 50 Filmen als Drehbuchschreiber und Regisseur scheint dies eine recht vielversprechende Form kreativer Entspannung zu sein.
Dirk Engehausen, in der Mitte des Bildes, ist der Deutschland-Chef von Lego. Seine besten Ideen hat der Manager im Swimmingpool: Beim Drehen der Bahnen lässt er seine Gedanken kreisen.

Was aber, wenn das kreative Können diesem Anspruchsdruck nicht gewachsen ist? Wenn das Kind zurückbleibt hinter dem Ideal des kreativen Virtuosentums? Wenn der Arbeitnehmer nicht kann, was er will und soll? Dann muss der Kreative sich das Scheitern als persönliche Schuld zurechnen lassen. Dann wird der Unkreative vor sich und vor anderen zum Versager.

Tiefe Langeweile

Nicht kreativ zu sein, das gilt heute als Blamage. Der französische Sozialpsychologe Alain Ehrenberg hat in seinen Büchern gezeigt, wie die Kreativitätsanforderungen der schönen, neuen Arbeitswelt den Angestellten auf die Seele schlagen. Angst, Schlaflosigkeit und Erschöpfung, das „Gefühl blockiert zu sein“, gehören inzwischen zu den am häufigsten diagnostizierten Beschwerden in der Allgemeinmedizin. Nicht jeder ist eben so kreativ, wie er gern sein möchte – und flieht vor seinen Unzulänglichkeiten in die Depression, in den Zustand des „Nichts ist möglich“. Ganz ähnlich argumentiert der koreanische Philosoph Byung-Chul Han: Für ihn ist Burn-out der typische Infarkt einer Moderne, die sich durch ein „Übermaß an Positivität“ auszeichnet. Han argwöhnt, dass sich hinter der pompösen Kreativitätskulisse allzu oft eine Neuigkeitshektik verbirgt, die das bereits Vorhandene nur reproduziert und beschleunigt – und rät stattdessen, es mal zwischendurch mit „tiefer Langeweile“ als „Höhepunkt der geistigen Entspannung“ zu versuchen.

Das ist schön gesagt, aber wenig alltagstauglich – es ist jedenfalls schwer vorstellbar, dass die Losung „Be bored! Don’t be creative!“ beim nächsten Team-Meeting verfängt. Wie wäre es also mit folgender Überlegung: Wenn Nonkonformismus heute die Norm ist, dann ist Abweichung der Gipfel der Angepasstheit. Wer das begriffen hat, spricht nicht mehr jedem seiner Sätze Neuigkeitswert zu – und hört ganz einfach auf, im Kreativitätsimperativ zu denken. Man kann heute nicht nicht kreativ sein, so der Soziologe Ulrich Bröckling: „Aber vielleicht kann man aufhören, allzeit kreativ sein zu wollen.“

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