Was aber, wenn das kreative Können diesem Anspruchsdruck nicht gewachsen ist? Wenn das Kind zurückbleibt hinter dem Ideal des kreativen Virtuosentums? Wenn der Arbeitnehmer nicht kann, was er will und soll? Dann muss der Kreative sich das Scheitern als persönliche Schuld zurechnen lassen. Dann wird der Unkreative vor sich und vor anderen zum Versager.
Tiefe Langeweile
Nicht kreativ zu sein, das gilt heute als Blamage. Der französische Sozialpsychologe Alain Ehrenberg hat in seinen Büchern gezeigt, wie die Kreativitätsanforderungen der schönen, neuen Arbeitswelt den Angestellten auf die Seele schlagen. Angst, Schlaflosigkeit und Erschöpfung, das „Gefühl blockiert zu sein“, gehören inzwischen zu den am häufigsten diagnostizierten Beschwerden in der Allgemeinmedizin. Nicht jeder ist eben so kreativ, wie er gern sein möchte – und flieht vor seinen Unzulänglichkeiten in die Depression, in den Zustand des „Nichts ist möglich“. Ganz ähnlich argumentiert der koreanische Philosoph Byung-Chul Han: Für ihn ist Burn-out der typische Infarkt einer Moderne, die sich durch ein „Übermaß an Positivität“ auszeichnet. Han argwöhnt, dass sich hinter der pompösen Kreativitätskulisse allzu oft eine Neuigkeitshektik verbirgt, die das bereits Vorhandene nur reproduziert und beschleunigt – und rät stattdessen, es mal zwischendurch mit „tiefer Langeweile“ als „Höhepunkt der geistigen Entspannung“ zu versuchen.
Das ist schön gesagt, aber wenig alltagstauglich – es ist jedenfalls schwer vorstellbar, dass die Losung „Be bored! Don’t be creative!“ beim nächsten Team-Meeting verfängt. Wie wäre es also mit folgender Überlegung: Wenn Nonkonformismus heute die Norm ist, dann ist Abweichung der Gipfel der Angepasstheit. Wer das begriffen hat, spricht nicht mehr jedem seiner Sätze Neuigkeitswert zu – und hört ganz einfach auf, im Kreativitätsimperativ zu denken. Man kann heute nicht nicht kreativ sein, so der Soziologe Ulrich Bröckling: „Aber vielleicht kann man aufhören, allzeit kreativ sein zu wollen.“