Und jährlich grüßt das Murmeltier: Gefühlt einmal pro Jahr fordert eine der zahlreichen Gewerkschaften, dass die Arbeitsbelastung ihrer Mitglieder drastisch reduziert werden müsse. Zum zweiten Mal in Folge kommt die Forderung von der Chemie-Gewerkschaft IG BCE. Anlässlich des 125. Jahrestags des Bestehens forderte deren Chef Michael Vassiliadis die Drei-Tage-Woche für ältere Chemikanten. "Mit unserer Tarifpolitik sind wir in Vorleistung gegangen, jetzt muss der Staat seinen Beitrag leisten." Der Staat müsse Arbeitnehmern eine Teilrente anbieten, die die Unternehmen mit Teilzeit verknüpfen können. Gerade im Schichtsystem halte es sonst niemand bis zur Rente durch.
Die Büro- und Kopfarbeiter wollen dagegen volle Flexibilität. Ihr Kopf funktioniert schließlich zu Hause oder im Park genauso gut wie im stickigen Büro. Nebenher tobt noch – geführt von Gewerkschaften, Arbeitgeberverbänden und den Arbeitnehmern daheim am Abendbrottisch – die Debatte, wie viele Stunden wir denn nun eigentlich arbeiten sollen. Acht pro Tag? Zehn? Jeder so viel er, sie oder der Vorgesetzte will? Maximal 40 Stunden pro Woche?
Die Typologie der Arbeitnehmer: Wer wie lange arbeitet und wie viel verdient
Im Rahmen der Xing-Arbeitsmarktstudie wurden unterschiedliche Arbeitnehmer-Typen definiert und fünf relevante Segmente gebildet. Eine der Gruppen sind die "Flexiblen", also beispielsweise Teilzeitkräfte oder Projektarbeiter. Zu dieser Gruppe gehören überwiegend jüngere Frauen mit einer durchschnittlichen Ausbildung, einem meist festen Einkommen von unter 2.000 Euro (brutto), in deren Berufsfeld Home Office oft möglich ist. Ihre Arbeitszeit beträgt zwischen 30 und 40 Stunden in der Woche.
Die Wissensarbeiter sind Befragte mit akademischem Abschluss, einem überdurchschnittlichen Verdienst von 3.000 Euro (brutto) und mehr, die in der Kreativwirtschaft, höheren Verwaltung oder Wissenschaft arbeiten. Die Arbeitszeit beträgt selten exakt 40 Stunden in der Woche.
Die "Gehaltsoptimierer" sind überwiegend jüngere Männer mit Berufsausbildung, die selten nach Tarifvertrag beschäftigt sind und in den Bereichen Produktion, Finanzen oder Handel arbeiten. Ihre wöchentliche Arbeitszeit beträgt 40 Stunden oder mehr.
In den sozialen Berufen arbeiten Menschen mit Berufsausbildung und einem oft variablen Gehalt zwischen 2.000 und 3.000 Euro (brutto). Sie arbeiten in den Berufsfeldern Gesundheit, Soziales und Lehre und sind oft in Schichtarbeit tätig.
Blue Collar-Worker sind Arbeitnehmer mit Ausbildung, die oft nach Tarifvertrag beschäftigt sind und auf dem Bau, im KFZ- oder Gastgewerbe arbeiten. Viele von ihnen haben Kinder und arbeiten unter 40 Stunden in der Woche.
Hinzu kommt berufsbedingt Arbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) mit ihren Grünbuch Arbeit 4.0 und der Frage, wie wir in Zukunft arbeiten wollen und sollen und was die Digitalisierung mit uns, unseren Jobs und unserer Arbeitswelt macht. Über all dem kreist drohend der Begriff Work-Life-Balance.
Der Kompromiss muss her
Cristina Riesen, Europa-Chefin des virtuellen Notizbuchs Evernote, spricht in diesem Zusammenhang lieber von Work-Life-Integration. „Work-Life-Balance ist der falsche Ausdruck: Wieso sollten wir denn leben und arbeiten trennen?“ Auch die Balance sei nicht machbar: „Das Leben ist nicht ausgeglichen“, sagt sie. Berufstätige müssten sich von der Vorstellung verabschieden, den perfekten Spagat zwischen dem perfekten Job und dem perfekten Familienleben machen zu wollen. „Perfektion ist unrealistisch“, sagt sie. Unternehmen und Beschäftigte müssten bereit sein, Kompromisse zu finden.
Welche Arbeitszeitmodelle deutsche Unternehmen Familien anbieten
Die Teilzeit ist bei deutschen Firmen das beliebteste Arbeitszeitmodell, immerhin 79,2 % aller Unternehmen bieten sie ihren Angestellten an.
Das zweitbeliebteste Arbeitszeitmodell deutscher Unternehmen sind mit 72,8 % Individuelle Arbeitszeiten.
Die Flexible Tages- oder Wochenarbeitszeit bieten 70,2 % der deutschen Unternehmen an.
46,2 % der Firmen führen keine Arbeitszeitkontrolle durch, wenn ihre Angestellten familienbedingt kürzer treten müssen.
Nur 28,3 % der deutschen Unternehmen räumen ihren Mitarbeitern eine Flexible Jahres- oder Lebensarbeitszeit ein.
Gerade einmal 21,9 % der deutschen Unternehmen bieten ihren Mitarbeitern die Möglichkeit der Telearbeit an.
Mit 20,4 % ist das Arbeitszeitmodell des Jobsharings in Deutschland äußerst begrenzt.
Ein Sabbatical kommt nur bei 16,1 % der deutschen Unternehmen als Arbeitszeitmodell in Frage.
Das Problem: Alle haben Recht. Dass Schichtarbeit nicht nur ungesund, sondern auf Dauer lebensverkürzend ist, ist nachgewiesen. Dass kein Mensch acht Stunden am Stück Top-Leistungen vollbringt, auch wenn er dazwischen für 30 Minuten in der Kantine sitzt, ist klar. Von zehn oder mehr Stunden braucht man deshalb eigentlich gar nicht zu reden.
Dass es der Performance schadet, wenn der Mitarbeiter mit 20 anderen auf engstem Raum zusammenarbeitet, ist ebenso bewiesen wie dass sich 60-Stunden-Wochen schlecht mit einem erfüllendem Familienleben vereinen lassen. Wer dagegen jeden Tag um zwölf Uhr mittags Feierabend macht, um sich den Rest des Tages vollumfänglich Haushalt und Kindern zu widmen, wird es nicht zum Vorstandsvorsitzenden eines Dax-30-Konzerns bringen, sondern eben nur zur Büroteilzeitkraft oder zum Supermarktkassierer. Wer dann noch vorzeitig aufhört zu arbeiten, der guckt bei den Altersbezügen in die Röhre.
Das Zeitkonto bringt die Flexibilität
Obwohl all das bekannt ist, passiert außer Flickschusterei eigentlich nichts. Nach Dienstschluss sollen Angestellte keine beruflichen Mails mehr lesen. Und länger als acht Stunden pro Tag soll auch niemand arbeiten, rät die Politik. Mehr Kitaplätze und Elternzeit sollen die Vereinbarkeit von Beruf und Familie verbessern. Nur: offenbar hilft das alles wenig. Weder erhöht es die Belastbarkeit, noch schont es die Beschäftigten, noch bekommen mehr Menschen Kinder oder machen wenigstens Karriere.
Die Mehrheit arbeitet weiter so vor sich hin, bespaßt nach 17 Uhr die Familie, bekommt den einen oder anderen Burnout, geht vorzeitig wegen Rückenleiden oder psychischer Probleme in den Ruhestand und hat dann zu wenig Geld, um die Miete zu bezahlen. Zumindest hat davor die Mehrheit Angst. Eine Studie der Gothaer Versicherung unter mehr als 1000 Berufstätigen im Alter zwischen 16 und 60 Jahren zeigt, dass 61 Prozent davon ausgehen, dass die gesetzliche Rentenversicherung und ihre private Altersvorsorge nicht ausreichen werden, um im Alter einen zufriedenstellenden Lebensstandard genießen zu können. Bei den unter-30-Jährigen glaubt außerdem fast die Hälfte, auch mit über 70 noch zu arbeiten zu müssen. Und diese Vorstellung begeistert weder Büroangestellte noch Handwerker.
Damit alle alles unter einen Hut bekommen, was sie darunter packen wollen, und so lange arbeiten gehen, wie sie können und wollen, braucht es also mehr als das Grünbuch, die x-te Podiumsdiskussion über dauerhafte Erreichbarkeit oder die tausendste Talkrunde über Work-Life-Balance und die (Un-) Vereinbarkeit von ertragsreichem Berufs- und erfüllendem Familienleben. Es braucht tatsächlich die von Riesen geforderte Work-Life-Integration. Das eine darf nicht mehr das Gegenteil des anderen sein. Das Lebensarbeitszeitkonto wäre eine denkbare Option, um Leben und Arbeiten besser zusammenzubringen, als es bisher der Fall ist. Zur Not auch als Interimslösung, bis irgendwem etwas Neues, noch nie Dagewesenes einfällt, das auf einen Schlag alle Probleme löst.
Einen Gang zurückschalten, ist kaum möglich
„Es gibt Phasen, wo einem die 60-Stunden-Woche nichts ausmacht und man für die Karriere alles gibt. Und dann gibt es Phasen, wo vielleicht Familie, Kinder und Hausbau im Vordergrund stehen und der Berufstätige nur noch 35 Stunden pro Woche arbeiten will“, sagt Sascha Grosskopf, Demand Generation Manager bei Cornerstone OnDemand, einem amerikanischen Anbieter von Talent Management Software.
Auf welche Bereiche wirkt sich die Digitalisierung im Arbeitsalltag aus?
47 Prozent der Umfrageteilnehmer gaben an, dass sich die Digitalisierung positiv auf das eigenständige Arbeiten auswirkt. 37 Prozent spüren keine Auswirkung, zehn Prozent beklagen negative Einflüsse.
Quelle: Edenred-Ipsos-Barometer 2015, "Wohlbefinden & Motivation der Arbeitnehmer"
45 Prozent sagen, dass die Digitalisierung die Zusammenarbeit verbessert, 13 Prozent sehen eine Verschlechterung.
43 Prozent spüren einen positiven Einfluss der Digitalisierung auf ihre Lebensqualität im Job, 36 Prozent merken gar keine Veränderung und 15 Prozent spüren negative Einflüsse auf die Teamarbeit.
Die Zusammenarbeit mit Kunden verbessert sich laut 42 Prozent der Befragten. Neun Prozent sehen hier eine Verschlechterung.
Eine Verbesserung durch die Digitalisierung erleben 41 Prozent, elf Prozent beklagen negative Einflüsse.
43 Prozent sagen, dass die Digitalisierung an den Kompetenzen nichts verändert hat. 40 Prozent sehen einen positiven Einfluss und acht Prozent einen negativen.
40 Prozent fühlen sich durch die Digitalisierung bei der Arbeit motivierter, bei elf Prozent sehe es durch die Digitalisierung schlechter aus mit ihrer Motivation. Für 43 Prozent hat sich durch die Digitalisierung nichts an ihrer Motivation verändert.
Dank der Digitalisierung können 34 Prozent der Befragten berufliches und privates leichter vereinen. Bei 16 Prozent ist es dagegen schwieriger geworden, beides unter einen Hut zu bekommen. 42 Prozent spüren keine Veränderung.
Bessere Chefs dank Digitalisierung? Keine Veränderung bemerkten 42 Prozent. Einen positiven Einfluss glauben 28 Prozent bei ihren Vorgesetzten bemerkt zu haben, eine Verschlechterung beklagten 28 Prozent.
Bei vielen US-Unternehmen ist es keine große Sache, wenn Mitarbeiter die verschiedenen Arbeitsphasen wechseln. „Die Flexibilität muss möglich sein, dass man im Unternehmen bleiben, aber die Positionen und Aufgaben wechseln kann, ohne dass es einer Degradierung gleich kommt, wenn man einen Gang zurück schaltet“, sagt Grosskopf. Ein entsprechendes Zeitkonto könnte das in Deutschland möglich machen – ohne Jobwechsel.
Das Zeitkonto hat den Vorteil, dass sowohl Betriebe, Mitarbeiter als auch Politik schon Erfahrungen damit gemacht haben. Die Angst vor dem Neuen entfällt hier also. Unternehmen müssten dieses Instrument allerdings ein bisschen anders einsetzen, als es bislang der Fall ist.
Das Arbeitszeitkonto taucht gerne in der Debatte um den vorzeitigen Ruhestand auf und auch in einigen Tarifverträgen gibt es Zeitkonten. Die Studie der Gothaer zu Zeitwertkonten hat ermittelt, dass fünf Prozent der Unternehmen Arbeitszeitkonten anbieten. Dagegen stehen allerdings 41 Prozent der Mitarbeiter, die sofort auf ein solches Konto Zeit einzahlen würden und 35,3 Prozent, die an dem Modell zumindest interessiert sind. Klingt ja auch gut: Angestellte arbeiten quasi im Voraus und wer in jungen Jahren viel arbeitet, kann früher in Rente gehen.
Wie das Zeitkonto funktioniert
Im sogenannten Flexi II-Gesetz von 1998 (aktualisiert am 1. Januar 2009) wurden Lebensarbeitszeitkonten erstmals schriftlich festgehalten. Arbeitnehmer können demnach Geld oder Zeit auf einem Guthabenkonto ansparen: Weihnachtsgeld, ein Teil des Gehalts oder nicht genommener Urlaub und Überstunden werden angesammelt und entweder für ein Sabbatical, den früheren Ruhestand oder den Traum vom Ferrari angespart. Während Geld allerdings verzinst wird, gibt es die Zeit brutto für netto.
Wer zum Beispiel laut Arbeitsvertrag pro Woche 39 Stunden arbeitet und später gerne ein Jahr früher in Rente gehen möchte, muss dafür 2028 Überstunden ansammeln. Das kann dauern. „Wenn ich jemanden nehme, der drei Stunden wöchentlich auf sein Wertguthaben spart, ergibt das unter Berücksichtigung von Urlaub und Fehlzeiten 45 Wochen im Jahr. Dann sind für ein Jahr Freistellung 15 Jahre Ansparzeit nötig. Wenn ich vier Stunden wöchentlich anspare, dann brauche ich nur elf Jahre für ein Jahr Freistellung“, rechnete Judith Kerschbaumer, Verdi-Bereichsleiterin für Sozialpolitik, einmal vor. Der Haken: Falls der Mitarbeiter die Firma wechselt, kann der neue Arbeitgeber das Guthaben übernehmen, muss es aber nicht. Hier gibt es also Optimierungsbedarf.
Zeitkonten gibt's bislang nur für Überstunden
Das Zeitkonto an sich gibt es dennoch in so gut wie jedem Unternehmen – aber in der Regel nur für ein Jahr, wie es in einer Untersuchung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales heißt. „Die überwiegende Mehrzahl der in den Betrieben genutzten Arbeitszeitkonten sind Gleitzeit-,Überstunden- oder Flexikonten mit einem Ausgleichszeitraum von bis zu einem Jahr: Dabei dürfte es sich mehrheitlich um Konten handeln, die dem Ausgleich von Auslastungsschwankungen und/oder der flexiblen Gestaltung der werktäglichen und wöchentlichen Arbeitszeit dienen.“
„Echte“ Langzeitkonten, auf denen Mitarbeiter über ihr gesamtes Berufsleben hinweg Stunden ansammeln, werden dagegen nur von insgesamt zwei Prozent der Betriebe in Deutschland praktiziert, wie die Studie des Arbeitsministeriums zeigt. Und wie bei so vielem, was mit Flexibilisierung oder Neuerung zu tun hat, gilt auch hier: große Betriebe trauen sich, kleine Unternehmen nicht. Hinzu kommt: Langzeitkonten stehen in einem beträchtlichen Teil der Betriebe gar nicht allen Mitarbeitern offen. „60 Prozent der Betriebe, die über ein Langzeitkonto verfügen, schränken den Nutzerkreis ein“, heißt es in der Untersuchung.
Es bedarf also einer gründlichen Überholung des Instruments. Trotzdem könnte dieses Krisen-Ruhestands-Überstunden-Tool helfen, damit Menschen nicht ihr Leben der Arbeit anpassen, sondern umgekehrt. Wer als Global Sales Manager um den Globus hechtet, aus dem Koffer lebt und 70 Stunden pro Woche für den Kunden da ist, sollte weder den Arbeitgeber wechseln müssen, noch als Loser gelten, wenn er nach drei oder fünf Jahren lieber einen Job im Heimatmarkt annehmen und normale Arbeitszeiten haben möchte. Ganz zu schweigen davon, dass dieser Global Sales Manager gut begründen müsste, warum er nun in die örtliche Filiale will. Stichwort: Überqualifiziert.
Aber nicht nur der Manager, auch der Büroangestellte oder der Handwerker haben Phasen, in denen Überstunden und Top-Leistungen überhaupt kein Problem sind und solche, in denen sie gerne im gleichen Betrieb eine ruhigere Kugel schieben würden. Aber wer geht schon zum Chef und sagt: Mir ist das grade alles zu viel, ich möchte weniger arbeiten? “In Deutschland heißt es dann schnell ‘der hat es nicht geschafft‘”, bestätigt Grosskopf. Downshifting ist hier ein Synonym für „zu wenig Biss“ beziehungsweise „den Mund zu voll genommen“. Dass die Interessen sich gewandelt haben und die Sturm-und-Drang-Zeit vorbei sein könnte, ist in der klassischen Karrierebiografie nicht vorgesehen.
Mit einem Zeitkonto könnte jeder Beschäftigte sowohl sich als auch dem Vorgesetzten beweisen, dass er die ruhige Kugel verdient hat. Alternativ müsste der nach Perfektion strebende Homo laborans seine Einstellung ändern. Da dürfte das Lebensarbeitszeitkonto der deutlich einfachere Weg sein.