Gedämpfte Möhrchen mit Schnittlauch, Brokkoli in der Soja-Pfanne oder Rucola mit Kräuterdressing und Cashewnüssen aus Indonesien, zum Nachtisch eine Portion Sternanis-Apfel-Eis: Rund ein Dutzend Salate und Gemüsevarianten, zehn Nussarten und bis zu 40 Eissorten locken zum Mittagessen bei Veganz im Phoenixhof in Hamburg-Altona. Hauptgrund für den Andrang: Bei Veganz sind alle Produkte nicht nur garantiert biologisch, sondern vegan. Das Eis wird also nicht aus Kuhmilch, sondern auf Reismilchbasis hergestellt, die Waffel enthält weder Ei noch Milchpulver. Und die Nüsse werden nicht erhitzt, um sie leichter schälen zu können.
Von Algensnacks über Pepperoni-Tofu-Pizza und Energieriegel mit Ananas-Inkabeere-Geschmack bis zu indischen Waschnüssen und Leckerlis für Hunde finden sich auf 400 Quadratmeter Ladenfläche 4000 garantiert vegane Produkte in den Regalen der Ende Juni 2013 eröffneten Hamburger Filiale von Veganz, Deutschlands einziger Supermarktkette, die ausschließlich Veganes anbietet. „Einkaufen, ohne die Zutatenliste studieren zu müssen, und sich etwas (veganes) zu essen holen, wenn man Appetit hat“, schreibt etwa Kundin Simone Vary an die Veganz-Pinnwand bei Facebook. „Das war mal echt eine Erleichterung.“
Erster Supermarkt für vegane Produkte
Jan Bredack liebt Äußerungen wie diese. Im Juli 2011 hat der 41-Jährige am Prenzlauer Berg in Berlin Deutschlands ersten Supermarkt für ausschließlich vegane Produkte eröffnet, Mitte Dezember soll im hippen Münchner Glockenbachviertel Veganz-Filiale Nummer 5 folgen. „Es läuft fantastisch“, sagt Bredack, der sich selbst als „überzeugten, aber gemäßigten Veganer ohne Missionszwang“ beschreibt. Und auf der Suche nach Investoren ist. 20 Millionen Euro will er für den Aufbau von insgesamt 21 europäischen Märkten bis Ende 2015 auftreiben, mittelfristig 60 Millionen Euro investieren. „Geldsuche ist Knochenarbeit“, sagt Bredack, „früher kamen solche Beträge wie Strom aus der Steckdose.“
Früher, damit meint Bredack die gut 20 Jahre nach dem Mauerfall, in denen er eine Turbokarriere beim Autobauer Daimler hinlegt: Vom Mechanikermeister übers BWL-Studium in die Nachwuchsförderung des Konzerns steigt Bredack alle zwei Jahre auf, ist mit Anfang 30 als Mitglied der Geschäftsleitung im Vertrieb Service Deutschland verantwortlich für drei Milliarden Euro Umsatz, 100 Mitarbeiter in der Zentrale und 20.000 Servicemitarbeiter in ganz Deutschland. Neben seiner 80-Stunden-Woche im Konzern baut Bredack privat einen Online-Service für Grußkarten, Geschenkgutscheine und Musicaltickets auf. Großes Haus, regelmäßig neue Autos, teure Urlaubsreisen: Luxus ist Standard für Bredack. Doch statt seine knappe Freizeit zu genießen, trainiert er 20 Stunden pro Woche Triathlon. „Ich trieb mich von einer Höchstleistung zur nächsten, wie ein gehetztes Tier“, erinnert sich Bredack, der 2007 ein Burn-out erleidet. „Ich fühlte mich wie in einer Sackgasse, musste mein Leben radikal ändern.“
Worauf Sie beim Neustart in der Lebensmitte achten sollten
Quälen Sie sich zur Arbeit? Halten Sie Ihre Fähigkeiten für unerkannt? Heißt Ihr Fazit „mehr Frust als Lust“? Dann denken Sie über Veränderungen nach.
Stellen Sie Ihr Können auf den Prüfstand: Welche Kompetenzen habe ich zu bieten? Wie kann ich sie einsetzen?
Ihr Ziel soll Ihr Leben verbessern, realistisch erreichbar sein und Ihnen auch in fünf Jahren noch Freude machen.
Formulieren Sie einen Zeitplan, berücksichtigen Sie Widerstände. Meiden Sie Miesmacher, suchen Sie konstruktive Kritiker. Und legen Sie los.
Sehnsucht nach dem Neustart
Er trennt sich von der Familie und beginnt Ende 2008, vegan zu leben. Weil er im Supermarkt kaum entsprechende Produkte findet, entwickelt er einen Geschäftsplan für Veganz – während er gleichzeitig für Daimler eine Lkw-Fabrik in Russland aufbaut. Aber schließlich die Trennung von seinem Arbeitgeber provoziert. „Mein unternehmerisches Denken ist sehr ausgeprägt“, sagt Bredack. „Ich bin kein Freund von halbherzigen Sachen.“
Sie haben jahrelang hart an ihrer Karriere gearbeitet, verdienen gut, sitzen meist fest im Sattel – und haben zwischen Anfang 40 und Mitte 50 doch noch einmal das Bedürfnis nach einem radikalen Neuanfang: Ob vom Banker zum Bergführer, vom Manager einer Elektronikmarktkette zum Betreiber eines Pferdehofs oder vom Automanager zum Ökohändler – immer mehr Menschen empfinden in der Lebensmitte das, was der Mystiker Johannes Tauler schon im 14. Jahrhundert als „Radikalität des Nullpunkts“ beschrieb – die Sehnsucht nach dem Neustart.
Korsett
Menschen wie Bredack wollen raus aus dem Korsett aus fremdbestimmten Überstunden, Dienstreisen über drei Zeitzonen, dem täglichen Konferenzmarathon, wollen ein selbstbestimmteres Leben führen. Trotz erwiesener Erfolge empfinden viele, die sich in der Lebensmitte am Scheideweg wähnen, ihr bisheriges Berufsleben als Sackgasse, die sie aber nicht als Endstation beruflicher Sehnsucht akzeptieren. Etwas Neues muss her – weil sie im alten Umfeld keine Entwicklungsmöglichkeiten sehen. Weil sie einen vom Arbeitgeber erzwungenen Abgang zu einer befristeten Auszeit und bewussten Neuorientierung nutzen. Weil sie sich klar darüber sind, dass es anders als vor 10, 20 Jahren nicht mehr darum geht, die letzten Berufsjahre bis zum möglichen Vorruhestand mit Mitte 50 irgendwie mit Anstand über die Bühne zu kriegen, um sich dann ins Pensionärsdasein zu verabschieden. Sondern dass auch zwischen 40 und 50 noch Jahrzehnte vor einem liegen, die sinnvoll verbracht werden wollen. Sei es aus schierer ökonomischer Notwendigkeit. Oder einfach, weil einen der Kampf ums Golfhandicap allenfalls ein paar Wochen ausfüllt und die Aussicht auf wochenlange Seniorenkreuzfahrten abschreckt. Und sie sich fragen: Was kann ich mir noch zutrauen?
Offenbar immer mehr: Laut Deutscher Rentenversicherung stieg das durchschnittliche Renteneintrittsalter zwischen 1995 und 2012 von 62 auf 64 Jahre. Die Zahl der Arbeitnehmer, die zwischen 60 und 64 Jahre alt sind, verdoppelte sich laut Bundesagentur für Arbeit in den zurückliegenden Jahren auf 1,5 Millionen. Und laut Demografie-Forscher Axel Börsch-Supan will jeder dritte Rentner gerne wieder arbeiten. Andere hoffen durch einen Wechsel wieder auf mehr Spaß im Job: Laut einer Umfrage des Forschungsunternehmens Gallup sind in Deutschland nur 15 Prozent der Beschäftigten emotional stark an ihren Arbeitgeber gebunden. 61 Prozent dagegen machen Dienst nach Vorschrift, jeder vierte Mitarbeiter hat die innere Kündigung bereits vollzogen – Tendenz steigend.
„Wunsch nach inhaltlicher Erfüllung“
„All diese Menschen suchen nach einem Neuanfang – nicht, weil sie nicht mehr arbeiten wollen, sondern, um ihre Energie in ein Projekt zu stecken, bei dem nicht zwingend das Geldverdienen im Vordergrund steht, sondern der Wunsch nach inhaltlicher Erfüllung“, sagt Sophia von Rundstedt, Chefin des gleichnamigen Personaldienstleisters. „Ihnen geht es ums gezielte Umschalten – um die Lust, dem Leben einen neuen Sinn zu geben.“
Für Renate Krümmer besteht dieser Sinn derzeit auch in dem „geistvoll sinnlichen Farbzusammenklang von leuchtendem Kobaltblau und frischem Limonengelb“: So umschreibt die 57-Jährige die Kolorierung des Kleidungsstücks, das der Expressionist Max Pechstein wählte, als er 1918 seine Frau porträtierte. Die Beschreibung des Ölgemäldes „Die chinesische Jacke“ stammt aus Krümmers aktuellem Katalog, den die Kunsthändlerin für ihren Auftritt auf der Messe Cologne Fine Art Ende November in Köln produzieren ließ. Für 480.000 Euro wird Krümmer das Pechstein-Gemälde auf ihrem in Grün- und Fliedertönen gehaltenen Stand anbieten, neben gut zwei Dutzend weiteren Ölgemälden, Zeichnungen und Skulpturen von durchlauchten Künstlern wie Emil Nolde, Ernst Barlach oder Ernst-Ludwig Kirchner.
Hobby zum Beruf gemacht
„Frauen der Moderne“ – der Titel ihres Katalogs ist Krümmer Programm, nicht nur für die Messe in Köln: Sie hat sich fokussiert auf die Darstellung der Frau in der Periode zwischen 1870 und 1950. Als „kleine, aber ergiebige Nische“ bezeichnet Krümmer ihr Spezialgebiet, das sie vor gut drei Jahren vom leidenschaftlichen Hobby zu ihrem Beruf gemacht hat – mit 53 Jahren, nach einer Vorzeigekarriere als Finanzmanagerin, zuletzt als Deutschland-Chefin des US-Finanzinvestors J.C. Flowers. „Ich habe mich ohne Verbitterung aus der Finanzbranche verabschiedet“, sagt Krümmer, die auch heute noch über diverse Aufsichtsratsmandate bewusst Kontakt zu ihrer alten Welt hält. „Ich wollte mich dem Ruf der Kunst nicht verschließen – etwas Genialeres konnte mir nicht passieren.“ Längst zählt sie auch Ex-Kollegen zu ihren Kunden, „die vertrauen mir, weil sie wissen, ich spreche ihre Sprache. Da kann ich beide Welten miteinander verbinden.“
Jahrelang gab es für Renate Krümmer vor allem eine Welt: die der Zahlen. Aufgewachsen in Köln – „eine Kindheit mit Kohleöfen, aber ohne eigenes Zimmer“ –, tun die Eltern alles dafür, ihren Kindern eine gute Ausbildung zu finanzieren. Krümmer nimmt einen einstündigen Schulweg auf sich, um ein renommiertes Mädchengymnasium am anderen Ende der Stadt zu besuchen. Der Lebensstandard ihrer Freundinnen ist wesentlich höher – und weckt in Krümmer den „innigsten Wunsch, später auch in einer so schönen Umgebung zu wohnen“.
Golfhandicap - langweilig
So motiviert, ergattert sie dank eines blendenden Abiturs ein Stipendium der Konrad-Adenauer-Stiftung, zählt mit dem Abschluss ihres Doppelstudiums zur Diplom-Volkswirtin und Diplom-Kauffrau zu den besten drei Prozent der Absolventen ihres Jahrgangs an der Uni Köln, promoviert mit magna cum laude. Und steigt 1984 bei der Unternehmensberatung Bain ein. Nach drei Jahren wechselt sie zu Bertelsmann, klettert die Karriereleiter stetig hoch, lernt von Mentor und Bertelsmann-Chef Mark Wössner, „über Branchengrenzen hinaus Gesetzmäßigkeiten zu erkennen und zu abstrahieren“. Und steigt 1995 zum Finanzvorstand der Buchsparte auf.
Als mit 40 die Midlife-Crisis droht, nimmt Krümmer eine Auszeit, verbessert sechs Monate lang ihr Golfhandicap – und langweilt sich. Nach dreijährigem Intermezzo als Managing Director beim Finanzinvestor Apax und einer weiteren Station bei Bertelsmann als Hauptabteilungsleiterin für Fusionen und Unternehmenskäufe wechselt sie 2004 als Leiterin des Controllings und der Konzernentwicklung zur Commerzbank und wird Ende 2006 Deutschland-Chefin des US-Finanzinvestors J.C. Flowers, der kurz darauf mit seinen Investments bei der HSH Nordbank und der Hypo Real Estate auf die Nase fällt. Krümmer und Flowers trennen sich Ende März 2009, Krümmer nimmt eine mehrmonatige Auszeit, um über ihre Zukunft nachzudenken.
Ausführliche Prüfung
Der Kunstvirus hatte sie da schon längst im Griff. Ihr erstes Bild: eine Grafik des Expressionisten Conrad Felixmüller, Geschenk ihres damaligen Mannes – statt Schmuck. Der Grundstein für Kunstleidenschaft und eigene Sammlung ist gelegt. Während Kollegen und Geschäftspartner mittags zum Lunch ins Restaurant gehen, geht Krümmer ins Museum. Vor allem für die klassische Moderne vom Ende des 19. bis etwa zur Mitte des 20. Jahrhunderts entwickelt Krümmer ein Faible, erklärt Frauenbildnisse zum Kern ihrer privaten Sammlung. „Was bei Immobilien die Lage ist, heißt bei Bildern ‚Kernperiode und attraktivstes Sujet‘,“ sagt Krümmer. Also seien Pferde besser als Kühe, Personen besser als Landschaften, Frauen interessanter als Männer. „Und da ich mit der Kunst immer meine Pension aufbauen wollte, konnte ich mein Geld ja nicht einfach verplempern.“
Also unterzieht sie jede Arbeit, die mehr als 10.000 Euro kostet, einer ausführlichen Prüfung – so, wie sie es aus ihrer Finanzzeit gewohnt ist. Ist die Arbeit im Werkverzeichnis aufgeführt? Wo war es ausgestellt? Gibt es eine Expertise, die die Echtheit des Werks bestätigt? Stammt es aus der Kernperiode des Künstlers? Hat es einen biografischen Bezug? „Da kaufen viele Anleger Wertpapiere fahrlässiger.“ Von Werken aus anderen Perioden, die sie immer mal wieder „aus kunsthistorischer Neugier“ erworben hatte, trennt sie sich konsequent, „um Kapital freizuschaufeln für mein Kernthema“.
Hochkarätige Werke
Krümmer fährt gut mit ihrer Strategie: Den Wert eines Mädchen-Gemäldes von Karl Hofer, vor sieben Jahren noch für rund 60.000 Euro zu haben, schätzt Krümmer heute auf bis zu 200.000 Euro. Und ein Aquarell, das der Expressionist Erich Heckel 1910 von seiner Frau Sidi gefertigt hat, kostete vor fünf Jahren noch um 30.000 Euro und wäre heute kaum unter 100.000 Euro zu haben. „Die Leute stürzen sich seit dem Ausbruch der Finanzkrise vor fünf Jahren auf solche Sachwerte“, sagt Krümmer. „Man muss nur warten können.“
So trägt Krümmer in den gut 15 Jahren bis zu ihrem Ausscheiden bei J.C. Flowers im Frühjahr 2009 eine erkleckliche Zahl hochkarätiger Werke zusammen. Und überlegt, ihre Passion zum Beruf zu machen. Die Entscheidung fällt im Herbst 2009, als Krümmer auf den Online-Seiten eines englischen Auktionshauses auf eine Arbeit einer gewissen Dodo stößt. „Obwohl ich von dieser Künstlerin noch nie etwas gehört hatte, war ich sofort elektrisiert“, erinnert sich Krümmer. Sie erwirbt die Arbeit für rund 6000 Euro. Und heftet sich auf die Spuren dieser Berliner Zeichnerin und Intellektuellen, die mit Marlene Dietrich verkehrt, vor den Nazis nach Großbritannien fliehen muss, wo sie 1998 verarmt stirbt, mit 91 Jahren. Krümmer kauft alle auf dem Markt verfügbaren Dodo-Arbeiten, nimmt Kontakt mit der Familie auf, veröffentlicht eine Monografie über die Künstlerin. „Dodo entdeckt zu haben war für mich nicht nur der berühmte Wink mit dem Zaunpfahl“, sagt Krümmer, „sondern einer mit der ganzen Eiche.“
Branchenwechsel gewagt
Um als angehende Kunsthändlerin nicht mit Hurra ins finanzielle Verderben zu laufen, macht sie sich auf Messen ein Bild von den Portfolios und Ständen anderer Händler, sondiert Marktpreise, lässt ihre Sammlung von Museumsdirektoren und Vertretern führender Auktionshäuser begutachten, die ihr ein „gutes Auge für die Kunst“ attestieren. Als „klassische Due Diligence“ beschreibt Krümmer ihren Kunstmarktstart, „dafür war ich zu lange rational denkende Kauffrau“.
Als ihr klar ist, dass sie auch kommerziell auf die richtigen Stücke gesetzt hat, wagt sie den Branchenwechsel. Lehnt Jobangebote aus der Finanzwelt ab, gründet Krümmer Fine Art. Und bereitet ihren ersten Messeauftritt vor – auf der Cologne Fine Art im November 2010. Zum Verkauf stehen auch einige ihrer erklärten Lieblingsstücke. „Wenn mir das Herz blutet, blutet es eben, ich wollte mich ja etablieren“, sagt Krümmer. „Mein erster Auftritt musste ja sitzen.“
20 Minuten nach Start ist das erste Bild verkauft – an einen anderen Händler. „Offenbar“, so Krümmers Lehre, „war der Preis zu niedrig.“
Deutschlands ältester Schreinerlehrling
Krümmer macht sich mit ihrem exquisiten Angebot schnell einen Namen in der Branche; Galerien, Sammler, Museen haben sie in kürzester Zeit als Partnerin auf Augenhöhe akzeptiert. Ab Mitte Januar 2014 wird die 57-Jährige in der Etage unter ihrer Wohnung auf 150 Quadratmetern Schau- und Verkaufsräume eröffnen. „Die Zeit dafür ist jetzt reif“, sagt Krümmer und lässt ihren Blick über eine Skulptur schweifen, die auf ihrem Wohnzimmertisch steht – „Die tanzende Alte“ von Ernst Barlach aus dem Jahr 1920. „Wenn ich mal so alt bin wie sie und immer noch so fröhlich“, sagt Krümmer, „dann habe ich es richtig gemacht.“
Eine Einstellung, die auch dem Credo von Karsten Deege sehr nahe kommt: „Warum soll ich einen Beruf, in dem ich nicht alt werden will, nicht gleich an den Nagel hängen?“
Diese Erkenntnis hat er kurz vor seinem 40. Geburtstag – da hat er knapp zwei Jahrzehnte in der Versicherungsbranche hinter sich, vom klassischen Außendienstler bis zur Führungskraft mit Schulungsaufgaben. War jahrelang von Termin zu Termin durch ganz Deutschland gehetzt, hatte 16 Punkte in Flensburg gesammelt. Bis er keinen Sinn mehr darin sah, Kunden und Kollegen hinterherzujagen, „um einen Lebensstandard aufrecht zu erhalten, der einem von der Werbung als nötig vorgegaukelt wird“: mein Haus, mein Pferd, mein Auto. „Wer reich werden will und die Gabe hat, Menschen ohne Skrupel zu überzeugen, ist in diesem Gewerbe gut aufgehoben“, sagt Deege. „Mich hat die Dominanz des Geldes kaputt gemacht.“
Also fängt er noch mal ganz von vorn an – als Deutschlands ältester Schreinerlehrling, mit 275 Euro monatlich. „Der finanzielle Rückschritt war mir egal“, sagt Deege. „Ich habe schließlich einen hehren Anspruch an mich selbst.“
Schicker Dienstwagen
Das zeigt sich schon als Jugendlicher: Deege, Jahrgang 1970, aufgewachsen im Ostberliner Stadtteil Friedrichshain, verzichtet auf Abitur und Studium, weil er nicht drei Jahre zur Armee gehen will. Stattdessen lernt er in Magdeburg Binnenschiffer, „in der Hoffnung, dadurch in den Westen zu kommen“. Als er 19 ist, fällt die Mauer, Deege hat als Segellehrer ein annehmbares Auskommen. Unter seinen Schülern ist ein Versicherungsmakler, der ihn ermuntert, in seine Branche einzusteigen. Deege holt die Fachhochschulreife für Wirtschaft nach und fängt als Außendienstmitarbeiter bei der Arag an. Nach der „Schnellbesohlung“, wie Deege es nennt – „Kulturstrick um den Hals, Tasche in die Hand, Tritt in den Hintern“ – geht es zum Klinkenputzen an den Prenzlauer Berg. Deege quatscht sich in die Wohnungen potenzieller Kunden, verkauft ihnen Policen aller Art. „Damals habe ich gelernt, wie man Menschen um den Finger wickelt.“
Nach fünf Jahren wechselt er zum Branchenprimus Allianz, macht dort eine Ausbildung zum Versicherungsfachwirt, wird Führungskraft, mit neuem Laptop und teurem Handy, kurvt mit schickem Dienstwagen über den Ku’damm. Sein oberstes Ziel, ein sechsstelliges Jahresgehalt, erreicht er ohne Anstrengung, parallel zum Job studiert er an der Deutschen Versicherungsakademie. Mit Anfang 30 lebt er mit Freundin und Tochter in einer schicken Vier-Zimmer-Wohnung am Prenzlauer Berg, in der Garage stehen Auto und Motorrad, am Flussufer ein Segelboot. „Wir lebten wie die Könige“, sagt Deege. Und spürt doch, wie er seinen Lebensstil zunehmend infrage stellt. Erlebt, wie Kollegen in der Mittagspause zusammenklappen, weil sie der Jagd nach immer höheren Umsatz- und Gewinnzielen nicht mehr standhalten. „Es zählte nur noch Rendite, Rendite, Rendite“, erinnert sich Deege. „Das wollte ich nicht mehr mitmachen, ich musste weg.“
Leben auf dem Prüfstand
Als er miterleben muss, wie sich sein Schwiegervater gegen Deeges Rat unnütze Lebens- und Krankenversicherungen aufschwatzen lässt, ist sein Entschluss gefasst: „Ein System, das nur auf Gier und der Korruption durch Boni und Prämien aufbaut, wollte ich auf Dauer nicht mehr unterstützen“, sagt Deege. Er unterschreibt einen Aufhebungsvertrag, der ihn von der Arbeit freistellt und ihm monatlich zwei Drittel seines ursprünglichen Gehalts garantiert. Anderthalb Jahre lang. Und ihm die nötige Luft verschafft, sein gesamtes Leben auf den Prüfstand zu stellen: Erst zieht er mit der Familie in eine kleinere Wohnung, dann trennt er sich von Auto, Motorrad, Segelboot, schließlich auch von der Freundin. Die hat große Schwierigkeiten, den gewohnten Lebensstandard nach unten zu schrauben. Und zu akzeptieren, dass Deege zu Verabredungen nicht mehr im Anzug und mit manikürten Nägeln erscheint, sondern aus der Werkstatt im T-Shirt, verschwitzt und mit dreckigen Fingern.
Deeges Entschluss, Schreiner zu werden, ist da schon ein paar Monate alt. Getroffen hatte er ihn nach einem enttäuschenden Bewerbungsgespräch mit einem Bootsbauer – und ungezählten Gesprächen mit Freunden, die ihn an seine Leidenschaft für Möbel erinnern. „In unserem Wohnzimmer“, sagt Deege, „sah es tatsächlich oft aus wie in einer Werkstatt.“ Also beginnt er, ganz Berlin nach Schreinereien abzuklappern. „Viele waren irritiert von meinem Alter, manche Gespräche dauerten zwei Sekunden“, sagt Deege. „Da lernt man Demut.“
Hartnäckigkeit belohnt
Seine Hartnäckigkeit wird belohnt – nach 40 erfolglosen Versuchen trifft er auf Henrik Schwerdtner: „Ich habe gleich gespürt, dass er es ernst meint mit seinem Schritt, das war mir wichtiger als das Alter im Pass“, sagt der nur unwesentlich ältere Schreinermeister. Obwohl Deege anfangs überall hängen bleibt, gegen Werkbänke läuft, ist er fasziniert von seiner neuen Welt. „Ich stand mit weit aufgerissenen Augen und offenem Mund da, wie unter Drogen“, erinnert er sich, „ich konnte nicht fassen, dass man Dinge so einfach herstellen kann.“
Sich von einem der Gesellen – „er hätte mein Sohn sein können“ – anleiten zu lassen ist unproblematisch für Deege – der seinerseits Meister Schwertner Nachhilfe in Zeitmanagement gibt. Und seinen Lehrern in der Berufsschule zeigt, wie sie unruhige Schüler in den Griff bekommen („einfach mal nichts sagen“).
Gesellenstelle
Nach drei Jahren Lehre ist der Abschied dennoch beschlossene Sache, Deege auf Stellensuche. Nach drei Regentagen auf dem Rad durch Berlin wird er in Kreuzberg fündig. „Er stand völlig durchnässt vor uns, fragte nach einer Gesellenstelle“, erinnert sich Georg Stockburger, Gesellschafter der 1984 gegründeten Schreinerei. „Die Chemie stimmt, fachlich lernt er eifrig dazu.“
Statt sich, wie früher als Versicherungsmanager, schon am Vorabend den Kopf über Gesprächsstrategien für den kommenden Tag zu zerbrechen, kommt Deege heute entspannt gegen 9 Uhr in die Schreinerei und geht „abends mit einem guten Gefühl nach Hause“ – mal um 18, mal um 20 Uhr. „Gehetzt wird nicht mehr“, sagt der Mann, der sein Telefon heute oft mal bewusst für ein paar Stunden ausschaltet und E-Mails nur alle paar Tage beantwortet. „Lieber lasse ich mir mehr Zeit.“ Schließlich müsse er sich „nicht mehr verbiegen, um Dinge bezahlen zu können, die ich eigentlich nicht brauche zum Glücklichsein. Die Zukunft gehört denen, die ihren Job gern machen.“