Nebel wabert durch den Raum, Scheinwerfer flackern, 2000 Menschen stehen dicht gedrängt vor einer Musikbühne, sie klatschen und schreien und lachen und jubeln – so ist es immer, wenn Kölns berühmteste Castingshow startet: Linus’ Talentprobe.
Hier darf jeder, der singen will, auf die Bühne und sich vor Publikum beweisen. Zum Beispiel der junge Mann, der soeben die Bühne betritt. Unter seinem weißen T-Shirt mit V-Ausschnitt lässt sich ein durchtrainierter Oberkörper erahnen, er verzichtet auf die große Geste und legt gleich los: „Und wenn ein Lied meine Lippen verlässt …“ – es ist die Coverversion eines Songs von Xavier Naidoo. Die Kölner Kopie verzerrt das Gesicht, um die Ballade mimisch zu beglaubigen. Im Publikum verzerren sie ihre Gesichter, um ihrer Entgeisterung Ausdruck zu verleihen. Kurzum: Der erste Eindruck ist verpatzt.
Kein Problem? Die Zuhörer wissen doch, dass der Sänger kein Profi ist? Ein paar schiefe Töne am Anfang werden sie ihm schon verzeihen? Von wegen. „Wer nicht in den ersten Sekunden überzeugt“, sagt Talentproben-Moderator Linus Büttgen, „hat schon verloren.“ Und das gilt nicht nur für die Bühne. Unser Gehirn ist auch dann aktiv, wenn wir es nicht wissen, ständig beobachtet, vergleicht und urteilt es. Die Macht des ersten Eindrucks, der schnellen Impression, ist daher größer als ein Vernunftwesen es von sich annehmen würde.
Der Einfluss der Evolution
Der Auftritt im Büro zum Beispiel. Ob beim Bewerbungs- oder im Kundengespräch oder auch beim ersten Aufeinandertreffen mit neuen Geschäftspartnern: „Der erste Eindruck entscheidet stark darüber, wie erfolgreich ein Treffen wird“, sagt Inga Freienstein, Psychologin beim Cologne Career Center. Warum das so ist, hat der US-Sozialpsychologe Solomon Asch bereits 1946 herauszufinden versucht: „Wir schauen eine Person an und haben sofort einen bestimmten Eindruck ihres Charakters.“
Spätere Studien haben Aschs Beobachtung bestätigt. Der Saarbrücker Psychologe Ronald Henss etwa zeigte Studienteilnehmern Fotos von fremden Gesichtern und kam zu dem Schluss, dass seine Probanden schon nach 150 Millisekunden – der Dauer eines Lidschlags – sagen konnten, welches Alter die Person auf dem Foto hat, ob sie attraktiv erscheint und in welcher Stimmung sie ist. Und Wissenschaftler um Nicholas Rule von der Universität Toronto zeigten vor wenigen Monaten, dass sich im Gesicht sogar ablesen lässt, ob jemand arm oder reich ist.
Michelle Dauthe-Kunz hat den Einfluss der fix einschätzenden Blicke schon oft zu spüren bekommen. Die 25-Jährige studiert Maschinenbau an der Rheinischen Fachhochschule und bereitet sich in einem metallverarbeitenden Betrieb in Österreich auf ihre Masterarbeit vor. Sie ist 1,58 Meter groß, hat strohblonde Haare und trägt gern elegante Blazer und Blusen. Und sie hat den Eindruck, dass viele Kommilitonen und Kollegen sie auf den ersten Blick falsch einschätzen. „Klein und blond – wie passt das zu Maschinenbau?“
Oberflächlich? Frauenfeindlich? Sicher. Doch aus evolutionsbiologischer Sicht sind Vorurteile durchaus sinnvoll. Sie basieren auf Erfahrungen und gehorchen einer alltagspraktischen Lebensklugheit. Sie folgen einer leitenden Norm und statten die Menschen mit Handlungssicherheit aus: Nicht auszudenken, man müsste sich auch der flüchtigsten Bekanntschaft ausführlich, abwägend und rundum vernünftig nähern.
Wenn aber der schnelle Eindruck ein prägendes Vorurteil ist – wie ließe er sich nutzen? Wenn vor allem die ersten Minuten eines Treffens entscheidend sind für die Gunst, die man sich entgegenbringt – wie kann ich diese Gunst beeinflussen? Ganz einfach: Wer positiv und sicher auftritt, wirkt sympathisch und glaubwürdig. Ist dieses Ersturteil einmal getroffen, nehmen Menschen vor allem jene Eindrücke wahr, die es bestätigen. Oder anders gesagt: Es ist sehr schwierig, ein vorgeprägtes Image zu verändern.
Bei Linus’ Talentprobe etwa dürfen die Laienkünstler je zwei Lieder zum Besten geben. Der junge Mann hat sich erneut für eine Ballade entschieden, für Lionel Ritchies „Hello“. Und dieses Mal wartet das Publikum nicht mal die ersten Takte ab. Es wird gepfiffen und gebuht, der Song geht unter – und der junge Mann wird von der Bühne geschrien.
Es ist der klassische Fall des umgekehrten Halo-Effekts, den auch Personaler gut kennen. Halo ist das englische Wort für den Heiligenschein, den man zum Beispiel Kollegen verpasst, die man einmal für sympathisch befunden hat. Man sieht dann nur noch die guten Seiten des Gegenübers – und das führt natürlich zu Trugschlüssen: Wer binnen weniger Sekunden seinen Kollegen abschätzt, kann nicht wissen, ob er auch tatsächlich kreativ, offen oder gewissenhaft ist.
Stabil stehen
Reiner Neumann hat aus seinem Talent, souverän vor Gruppen aufzutreten, einen Beruf gemacht. Der Psychologe und Coach steht in einem Konferenzraum in einem Hotel, vor ihm sitzen vier Männer in Hemd und Jackett: Als Teilnehmer der Haufe-Akademie wollen sie von Neumann etwas lernen über ihre Wirkung. Und siehe da: „Die gute Nachricht ist, dass man den ersten Eindruck trainieren kann“, sagt Neumann. Gestik, Mimik, Körperhaltung, Stimme, Artikulation – das alles bestimmt, wie wir wahrgenommen werden.
Lektion eins: der Stand. Hüftbreit, Beine fest auf den Boden, nicht wippen. Lektion zwei: die Körperhaltung. Schultern zurück, Kopf gerade. Lektion drei: ein fester Händedruck. Lappalien, klar, man kennt diese Tipps: die übliche Ratgeberprosa. Doch tatsächlich zeigen Studien, dass solche Kleinigkeiten den Unterschied machen. Beispiel Blickkontakt. Ein Mensch wirkt nun mal selbstbewusst und offen, wenn er einem anderen geradewegs in die Augen schaut.
Der Psychologe Alan Johnston vom University College London zeigte im Jahr 2015 rund 400 Freiwilligen Videos von Schauspielern, die direkt in die Kamera schauten. Sein Fazit: Die optimale Länge für den Blickkontakt liegt bei exakt 3,2 Sekunden.
Unser Gehirn ist in mancher Hinsicht nun mal ziemlich simpel gestrickt: Wir mögen nicht nur gut aussehende Menschen, sondern auch Personen, die uns ähnlich sind – weil sie vertraut wirken. Der US-Sozialpsychologe Donn Byrne hat 1973 Studierende auf 26 Wesensmerkmale und Eigenschaften hin befragt, vom Musikgeschmack bis hin zur Religiosität. Später legte er ihnen Fragebögen ihrer Kommilitonen vor. Was die Studierenden nicht wussten: Die Angaben waren gefälscht.
Eine Gruppe erhielt Antworten, die sich mit den eigenen Aussagen deckten. Bei zwei weiteren Gruppen deckten sich die Antworten teilweise, bei der vierten Gruppe überhaupt nicht. Das Ergebnis: Studierende mit 100-prozentiger Übereinstimmung fanden ihre vermeintlichen Kommilitonen sympathisch und intelligent. Gruppe vier schnitt mit Abstand am schlechtesten ab.
Inga Freienstein vom Cologne Career Center empfiehlt, sich den vorurteilenden Sympathieeffekt im Berufsleben zunutze zu machen. Etwa, indem man sich vorab über seinen Gesprächspartner informiert. Arbeitet man an gleichen Themen oder hat ähnliche Berufserfahrungen gesammelt? Wer Gemeinsamkeiten anspricht, sagt Freienstein, sammelt Pluspunkte.
Erfolgreiche Aura
Coach Neumann lässt die Teilnehmer seines Seminars einen kurzen Vortrag halten, den er auf Video aufzeichnet. Für IT-Berater André Baumgarten gehören Präsentationen zum Alltagsgeschäft. Dennoch habe ihn die Analyse überrascht: „Viele Dinge waren mir gar nicht bewusst: Etwa, dass ich seltener ‚Ähm‘ sagen und viel öfter lächeln muss.“
In Deutschland werde in Bewerbungsgesprächen oder Geschäftsmeetings eher wenig gelächelt, sagt Neumann – auch aus Angst, nicht ernst genommen zu werden. Aus psychologischer Sicht ein Fehler: „Menschen, die öfter lächeln, wirken sympathisch. Und wer sympathisch ist, mit dem arbeiten wir gerne zusammen.“
Gelungener erster Auftritt
Dass die Kompetenz darunter nicht leidet, zeigen Untersuchungen von Psychologin Alice Isen an der Cornell-Universität in New York. Demnach sind Menschen, die positiv denken und das auch ausstrahlen, nicht nur belastbarer und zufriedener; sie werden meist sogar öfter befördert. Neben dem Lächeln will sich André Baumgarten künftig auf klare Gesten konzentrieren: „Lieber weniger, aber bewusster.“ Die Hände hektisch zu bewegen wirkt fahrig. Wer sich vorher überlegt, was er sagt und welche Geste dazu passt, wirkt präsent.
Für einen gelungenen ersten Auftritt gilt es also, viel zu beachten. Wie schade daher, dass im Job kaum Zeit bleibt, jedes Gespräch gut vorzubereiten. Und überhaupt: Was, wenn alle guten Vorsätze plötzlich weg sind, sobald sich die Köpfe am Konferenztisch auf einen richten und man die Aufregung in sich hochsteigen fühlt?
Ein Teilnehmer von Neumanns Seminar berichtet von seiner Tätigkeit als Sachbearbeiter bei einem Versicherungsunternehmen. Ein Job mit viel Routine, aber wenig Kundenkontakt. Künftig soll er öfter interne Meetings leiten und will daher lernen, souverän und selbstbewusster aufzutreten. „Ich mag es überhaupt nicht, im Mittelpunkt zu stehen“, sagt der gelernte Bürokaufmann. „Das ist für mich ein ganz unangenehmes Gefühl.“
Eines sollten Schüchterne unbedingt vermeiden: eine Rolle spielen, der sie nicht gerecht werden können. Der Kölner Showmaster Linus hat oft beobachtet, dass die Kluft zwischen Können und Wollen besonders unangenehm auffällt: „Wer im Glitzeroutfit auf die Bühne tritt, aber dabei wirkt, als würde er sich am liebsten hinter dem Schlagzeug verstecken“, so Linus, der „wäre in einem schlichten Kostüm ganz sicher besser aufgehoben“.
Im Job gilt dieselbe Regel. Das konnten Forscher der Bocconi-Universität in Mailand und des University College London kürzlich beobachteten. Ein Team um Celia Moore prüfte in Interviews mit rund 2000 Personen, wie selbstreflektiert sie waren. Dann verglichen sie deren Resultate bei Bewerbungsgesprächen. Und siehe da: Jene, die offen über ihre Stärken und Schwächen sprachen, sich natürlich verhielten und ohne zu zögern Antworten gaben, schnitten am besten ab.
Coach Neumann rät, sich Schritt für Schritt an den perfekten Auftritt heranzutasten: „Zuerst gilt es, sich bewusst zu machen, wo man mit seinen Fähigkeiten steht. Dann kann man ein oder zwei Punkte herausgreifen, an denen man als Erstes arbeiten will.“
Der Sachbearbeiter etwa hat sich vorgenommen, künftig bei Präsentationen mehr Blickkontakt zu halten und in Konferenzen aufrechter zu sitzen. Danach will er den nächsten Schritt angehen. Für Neumann ein guter Plan: „So verhindert man, dass Mimik und Gestik aufgesetzt wirken.“ Zudem sei es sinnvoller, in manchen Punkten zu brillieren, als alles mittelmäßig zu machen: „Wer weiß, dass ihm große Gesten nicht liegen, aber eine angenehme Stimme hat, konzentriert sich auf Klang und Rhetorik.“
Denn trotz aller Studien gibt es für den erfolgreichen ersten Eindruck keine Blaupause. Bei Linus’ Talentprobe haben in den vergangenen 25 Jahren schon Hausfrauen im Kittel gewonnen, Rapperinnen mit Dreadlocks und Rocker mit langer Mähne. Eines aber hatten alle gemeinsam: eine realistische Einschätzung davon, was sie können – und was nicht.