Produktivität Stress ist eine Frage der Einstellung

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Stress ist, was du draus machst

In den darauffolgenden acht Jahren analysierten die Forscher die Todesstatistik und suchten nach einem Zusammenhang zwischen dem gefühlten Stress und der Sterbewahrscheinlichkeit. Die Korrelation, die sie aufdeckten, war eindeutig: Wer viel Stress empfand und gleichzeitig dessen großen Einfluss auf die Gesundheit befürchtete, hatte ein um 43 Prozent erhöhtes Risiko, frühzeitig zu sterben. Wer seine Gesundheit dagegen nicht durch Stress beeinträchtigt sah, hatte kein höheres Sterberisiko.

Dieser positive Effekt der Geisteshaltung könnte eine biologische Ursache haben, wie Jeremy Jamieson von der Harvard Medical School herausfand. Bei der typischen Stressreaktion beschleunigt sich der Herzschlag und die Adern verengen sich. Auf Dauer kann das zu Herz-Kreislauf-Erkrankungen führen. Jamieson beobachtete an seinen Probanden: Wer Stress als hilfreich einstufte, dessen Adern verengten sich nicht, negative gesundheitliche Folgen blieben aus.

„The Upside of Stress“

Solche Studien haben mittlerweile einige Forscher dazu gebracht, ihre Einstellung zu überdenken. Eine prominente Vertreterin ist die Psychologin Kelly McGonigal, die an der Stanford-Universität lehrt. In einem viel beachteten Vortrag auf der Ideenkonferenz Ted rang sich McGonigal schon im Juni 2013 ein Geständnis ab: „Etwas, das ich in den vergangenen Jahren gelehrt habe, hat mehr Schlechtes bewirkt als Gutes. Ich hatte Stress zum Feind erklärt, jetzt habe ich meine Meinung geändert.“ Sie beichtete, dass sie Stress jahrelang verteufelt habe und vor allem darauf aus war, diesen Zustand zu vermeiden. Doch eben das würde die moderne Forschung widerlegen. „Es ist entscheidend, wie man über Stress denkt“, sagt McGonigal. Heute ist die Psychologin geläutert, ihre Erkenntnisse fasste sie im Buch „The Upside of Stress“ zusammen. Ihr Motto: „Stress ist, was du draus machst.“

Einer von McGonigals liebsten Belegen stammt von Michael Poulin von der Universität Buffalo. Er ließ 850 Menschen von stressreichen Ereignissen erzählen, die sie im vergangenen Jahr erlebt hatten, und auch davon, wie viel sie anderen Menschen in dieser Zeit bei deren Problemen geholfen hatten. In den darauffolgenden fünf Jahren untersuchte er die Sterblichkeitsraten seiner Versuchsgruppe.

Die erste Erkenntnis ist so naheliegend wie ernüchternd. Ein einschneidendes, stressreiches Erlebnis wie der Tod eines Angehörigen oder eine Scheidung erhöhten das individuelle Sterberisiko um 30 Prozent. Doch dieser Effekt verpuffte, wenn die Probanden gleichzeitig vielen ihrer Mitmenschen bei der Bewältigung ihrer Probleme halfen.

„Die schädlichen Effekte von Stress sind nicht unvermeidbar“, sagt McGonigal, „Helfen macht belastbarer.“ Außerdem kann Stress noch mit einem weiteren Phänomen in Verbindung gebracht werden: dem Flow. So taufte der Psychologe Mihalyi Csikszentmihalyi in den Siebzigerjahren ein ganz besonderes Gefühl: wenn man einer anspruchsvollen Aufgabe gewachsen ist, alles im Griff hat und sich derart im Arbeitsfluss befindet, dass man alle Ablenkungen ausblendet.

Wechsel zwischen An- und Entspannung ist entscheidend

Aktuelle Studien der Psychologin Corinna Peifer, Professorin an der Ruhr-Uni Bochum zeigen, dass Flow und Stress zusammenhängen. In einer Untersuchung setzte Peifer die Teilnehmer zunächst großem Stress aus. Danach mussten sie eine komplizierte Computersimulation spielen. Und siehe da: Nicht diejenigen, die eine geringe hormonelle Reaktion auf den Stresstest zeigten, kamen bei der Aufgabe am stärksten in den Flow – sondern jene mit einer mittleren Hormonausschüttung. „Physiologisch gesehen sind die Übergänge zwischen Flow und Stress fließend“, sagt Corinna Peifer, „moderater Stress scheint Flow sogar zu fördern.“

Ganz ohne Einschränkung sollte man sich trotzdem nicht in den Stress stürzen. Denn auf die Ausnahmezustände der körperlichen Höchstleistung müssen Ruhephasen folgen. „Der Wechsel zwischen An- und Entspannung ist entscheidend“, sagt Peifer, „deshalb ist es wichtig, nach der Arbeit abzuschalten.“

Außerdem ist das Stressempfinden ohnehin subjektiv. Was der eine noch akzeptabel findet, bringt den anderen schon um den Schlaf. Ob man ihn als positiv oder negativ wahrnimmt, hängt zudem davon ab, ob man sich in der Lage sieht, ein Problem zu lösen oder nicht. „Wie groß eine Bedrohung für einen Menschen ist, lässt sich von außen nur schwer beurteilen“, sagt Tim Hagemann von der Hochschule der Diakonie. Wer nicht genügend Ressourcen zur Bewältigung der Bedrohung zur Verfügung hat, empfindet ein Problem eher als unlösbar. Die Folge: ein Gefühl von Hilflosigkeit.

Das verfolgt einige auch am Feierabend. „Es ist eine Besonderheit des Menschen, dass er sich mit seiner großen Vorstellungsgabe in stressige Situationen hineindenken kann, obwohl keine akute Gefahr besteht“, sagt Hagemann. Wer nachts im Bett über die Probleme im Büro grübelt, tut sich keinen Gefallen. „Stress ist ein toller Mechanismus“, sagt Hagemann, „aber nur, solange er nicht über längere Zeit konstant auftritt.“

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