Sexismus-Debatte Der schmale Grat zwischen Flirt und Belästigung

Wo hört der Witz auf und wo beginnt die sexuelle Belästigung? Wann wird eine Berührung zum Kündigungsgrund? Unternehmen überdenken die Zusammenarbeit von Männern und Frauen.

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Mächtige Männer und ihre Fehltritte
Mosche Katzav Quelle: AP
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Keith Rabois Quelle: Presse

Es begann harmlos. Seit drei Jahren arbeitete Annabelle Neumann* bei einem Personaldienstleister. Ihre Aufgabe: neue Kunden finden und alte bei Laune halten. Ein klassischer Job im Vertrieb, bei dem – das war der 31-Jährigen durchaus klar – Dienstreisen genauso zum Tagesgeschäft gehörten wie Anspielungen, Schoten und Zoten.

Etwa die Bemerkungen eines externen Geschäftspartners: Immer wenn dieser zu beruflichen Besprechungen in sein Büro lud, wollte er vor seinen Kollegen mit flapsigen Sprüchen punkten. Sie sollten sich nicht wundern, so der 50-Jährige, wenn aus seinem Raum in den nächsten Minuten weibliches Stöhnen zu hören sei. Er werde vorsichtshalber mal die Tür schließen. Bald wurde der Mann auch bei Geschäftsessen aufdringlicher. Schrieb Neumann am Wochenende E-Mails, machte ihr Komplimente. Und gestand, dass er doch gerne mal ein paar ruhige Minuten mit ihr hätte. Ehefrau hin oder her.

Bis Annabelle Neumann den Mann aufforderte, vom hormonellen Gaspedal zu steigen und die Anspielungen sein zu lassen. Und tatsächlich: Er hielt sich daran.

Warnung von Kolleginnen

Bei Veronica Köhler* blieb es nicht bei verbalen Obszönitäten: Die damals 21-Jährige absolvierte ein Praktikum bei einer Krankenversicherung. Alle paar Tage wechselte sie das Team, um das Unternehmen kennenzulernen. Auch eine Station beim Betriebsarzt stand auf dem Programm. Im Vorfeld hatten Kolleginnen sie gewarnt. Der Mediziner sei bekannt „für seine derben Anmachsprüche gegenüber Frauen“. Sie sollten recht behalten.

An ihrem ersten Tag musste Köhler Excel-Tabellen anlegen. Doch dem Arzt arbeitete sie angeblich zu langsam. Er setzte sich dicht neben die Studentin und legte seine Hand auf ihre. Führte mit ihr gemeinsam die Maus, minutenlang, bis er ihr alles erklärt hatte. Dann ließ er los.

Als Praktikantin einen Abteilungsleiter in die Schranken weisen?

Wenn Veronica Köhler sich heute an diesen Moment erinnert, empfindet sie ihn immer noch als „ekelhaft“. Trotzdem schwieg sie und ließ die Berührung über sich ergehen. „Ich fühlte mich total überrumpelt und wusste nicht, wie ich reagieren sollte“, sagt sie. Als Praktikantin einen Abteilungsleiter in die Schranken zu weisen? Das traute sie sich damals nicht zu. Heute würde sie anders reagieren.

Wohl auch, weil sie sich durch die neu entbrannte Diskussion um sexistische Übergriffe ermutigt fühlen könnte. Angestellte in Kantinen, Freunde an Stammtischen und Paare am Esstisch kennen seit knapp zwei Wochen nur noch ein Thema: FDP-Politiker Rainer Brüderle und sein „Dirndl-Gate“. Auf gerade mal 52 Zeilen schilderte die „Stern“-Journalistin Laura Himmelreich ein Treffen mit dem Politiker an einer Hotelbar in Stuttgart. Doch diese Zeilen reichten, um Brüderle als alten Lustmolch dastehen zu lassen. Er habe nach einem Blick auf ihre Brüste diagnostiziert, damit könne sie „ein Dirndl auch ausfüllen“.

Sexuelle Belästigung

Nun lässt sich über das Verhalten von Himmelreich durchaus streiten. Ist es wirklich angebracht, einen 66-Jährigen nachts an einer Hotelbar zu fragen, „wie er es findet, im fortgeschrittenen Alter zum Hoffnungsträger aufzusteigen“? Mindestens ebenso diskutabel ist das Verhalten Brüderles. Der erfahrene Politiker hätte wissen müssen, dass er mit seinen Anspielungen zumindest ein verbales Eigentor schießt.

Dass aus dem nächtlichen Stelldichein eine landesweite Grundsatzdebatte über das angemessene Verhalten zwischen Männern und Frauen wurde, lag auch an Anne Wizorek. Die 31-jährige freiberufliche Beraterin hatte unter dem Stichwort „Aufschrei“ eine Twitter-Debatte gestartet. Seitdem erzählen Tausende Frauen von ihren Erfahrungen mit sexueller Belästigung – viele davon passierten am Arbeitsplatz.

Ein Sexismus-Problem?

Hier könne man „prima in Ruhe eine Nummer schieben“, zitiert „Ichhebgleichab“ ihren Chef von einer Besichtigungstour durchs neue Firmenarchiv. „Fraufeli“ beschrieb, wie ihr der Ex-Chef „mit dem Finger über den Nacken strich“. Seine Begründung: „Na, na, Ihre Kette ist ja ganz verdreht.“ Und Ex-Microsoft-Managerin Anke Domscheit-Berg erinnert sich an einen Vorgesetzten, „der mir riet, nimm das Wort Frau ein Jahr lang nicht in den Mund, dann klappt’s auch mit der Beförderung“.

Haben Deutschlands Unternehmen ein Sexismus-Problem? Eine Befragung des Zentrums für Interdisziplinäre Frauen- und Geschlechterforschung der Universität Bielefeld unter rund 10.000 Frauen im Alter von 16 bis 85 könnte den Eindruck entstehen lassen. Das Ergebnis: Etwa jede fünfte Frau hatte mindestens einmal sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz, in der Schule oder während der Ausbildung erlebt – überwiegend durch Männer.

50 Prozent

Die wichtigsten Sexismus-Urteile
Urteil wegen Brust-Belästigung IEin Chef eines städtischen Personalamtes wollte von Beamtenanwärterinnen die genaue BH-Größe wissen. Zudem erkundigte er sich, ob er sie "anmachen dürfe" und schlug Treffen zur "gemeinsamen Entspannung" vor. Das müssen sich die Frauen, die mit ihm arbeiten, nicht gefallen lassen. Der Beamte wurde seines Posten enthoben und um eine Position zurückgestuft, urteilte das Verwaltungsgericht Trier. Quelle: REUTERS
Urteil wegen Brust-Belästigung IIIm Einzelhandel fasste ein Verkäufer einer taubstummen Kollegin an den Busen. Er wurde gefeuert. Er wollte auf Wiedereinstellung klagen. Das Arbeitsgericht Frankfurt urteilte: Die fristlose Kündigung ist gerechtfertigt. Quelle: REUTERS
Machtausübung und BelästigungEin Firmenchef fasste den Körper seiner Mitarbeiterinnen wiederholt ohne erkennbaren Grund an und drängte sich nah an sie. Das Oberlandesgericht Frankfurt wies die Kündigungsschutzklage ab. Am Arbeitsplatz müsse man die allgemein übliche körperliche Distanz wahren. Wer dies nicht tut, der begeht eine sexuelle Belästigung, so die Urteilsbegründung. Quelle: dpa
SMS INoch so ein Beispiel, bei dem Machtausübung und sexuelle Belästigung einhergehen: Ein Vorgesetzter bedrängte eine Auszubildende per SMS und forderte sie zum Geschlechtsverkehr auf. Das Landesarbeitsgericht Rheinland-Pfalz urteilte: Weil sich Azubis in einer besonderen Abhängigkeit befinden, ist die fristlose Entlassung des Vorgesetzten gerechtfertigt. Quelle: dpa
SMS IIDie Grenzen zur Belästigung per SMS sind nicht immer eindeutig. Ein Bankangestellter flirtete mit einer Kundin per SMS und sprach sie in der Schalterhalle an. Die Frau fühlte sich belästigt. Doch die Kündigung des Mitarbeiters war nicht gerechtfertigt, wie das Landesarbeitsgericht Rheinland Pfalz urteilte. Der Angestellte machte sich allerdings des Datenmissbrauchs schuldig - er hatte die Telefonnummer der Frau aus der Kundendatei entnommen. Quelle: REUTERS
Belästigung mit dem SmartphoneDas Zeigen von Bildern mit modernen Handys hat seine Grenzen: Ein Krankenpfleger schickte einer Kollegin auf dem Mobiltelefon Bilder mit nackten Frauen und belästigte sie obendrein mit anzüglichen Anrufen, während er im Alkohol-Rausch war. Das Landesarbeitsgericht Schleswig-Holstein urteilte: Die fristlose Kündigung ist rechtens. Quelle: dpa
Sex gegen GeldManche unmoralischen Angebote können mit Geldstrafen enden. Ein Mann bot einer Frau, die er gerade kennengelernt hatte, Geld gegen Sex an. Die Frau, die keine Prostituierte war, fühlte sich dadurch in ihrer Ehre verletzt. Wegen Beleidigung verurteilte das Oberlandesgericht Oldenburg den Mann zu einer Geldstrafe. Quelle: dpa

Nach Schätzungen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) wurden in der Europäischen Union etwa 50 Prozent der Frauen schon einmal im Beruf sexuell belästigt. Bereits 2002 legte die EU-Kommission eine Richtlinie vor, die sicherstellen soll, dass Frauen und Männer denselben Zugang zu Ausbildung und Beschäftigung haben und unter denselben Bedingungen arbeiten. Darin sind die Mitgliedstaaten ausdrücklich aufgefordert, sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz zu bekämpfen.

Nun ist es unmöglich, alle behaupteten Fälle sexueller Belästigung verbaler oder physischer Natur zu beweisen. Doch ebenso unwahrscheinlich ist, dass die Betroffenen lediglich fantasierten. Klar ist in jedem Fall: Die Sexismus-Debatte ist längst vom Stammtisch an den Schreibtisch gewandert – und sorgt in Deutschlands Unternehmen für nachhaltige Verunsicherung.

Zweifelhafte Bemerkungen

In Diskussionsrunden werden zweifelhafte Bemerkungen inzwischen schon mal in „Brüderle“ gemessen. Und Fragen aufgeworfen, die seit Überwindung der Nachkriegsprüderie längst beantwortet schienen – und ab sofort die Grenzen zwischen Sensibilität und geistiger Burka neu definieren könnten.

Wo also ist künftig die Trennlinie zwischen Kompliment und verbaler Belästigung? Wann wird ein kerniger Witz zur inakzeptablen Zote, wann ein anerkennendes Schulterklopfen unter Kollegen zum Kündigungsgrund mit Ansage? Können Männer und Frauen noch unbefangen in gemischten Teams zusammenarbeiten, ohne dass ein Arbeitsrechtler bei jeder Besprechung zugegen ist?

Kleiderordnungen

Müssen Unternehmen, ähnlich wie es an manchen Schulen üblich ist, Kleiderordnungen erlassen, in denen sie zentimetergenau definieren, wie kurz Röcke oder wie tief Ausschnitte am Arbeitsplatz sein dürfen? Sollten Männer den Aufzug verlassen, wenn eine Frau zusteigt, um sich vor einer Klage wegen sexueller Belästigung zu schützen, deren Behauptung sie ohne Zeugen nur schwer widerlegen können?

„Unternehmen sind auf jeden Fall gezwungen, neu über diese Fragestellungen nachzudenken“, sagt Managementtrainerin Birgit Bergmann. „Die derzeitige Debatte wird die Möglichkeiten und Grenzen der Zusammenarbeit am Arbeitsplatz neu definieren.“

Sexismus: Regeln für Anstand im Büro

Sexismus senkt Produktivität

Nicht zuletzt, weil sexuelle Belästigung dem Arbeitgeber selbst schadet. Die Folge sind nicht selten niedrigere Produktivität, höhere Fehlzeiten, größere Wechselbereitschaft, sinkende Loyalität. Und ein Klima der Angst. Zu diesem Ergebnis kam die Psychologin Kathi Miner-Rubino von der Texas-A&M-Universität. Sie befragte 2007 knapp 2000 Angestellte einer Hochschule. Das Ergebnis: Wer Akte sexueller Belästigung auch nur beobachtet habe, fühlte sich an seinem Arbeitsplatz unwohler, war unproduktiver, neigte eher zum Burn-out und hatte den Job häufig schon innerlich gekündigt – egal, ob Männer oder Frauen. Und diese Gefühle waren umso stärker, wenn sie den Eindruck hatten, dass ihr Arbeitgeber nichts gegen diese Belästigung unternahm. Allein die Beobachtung einer Belästigung reichte schon aus, um die Angestellten ins geistige Exil zu schicken.

Darauf haben sich deutsche Unternehmen bereits eingestellt, wie eine Umfrage der WirtschaftsWoche unter den 30 größten börsennotierten Unternehmen ergab. Egal, ob „Verhaltenskodex“, „Corporate Rules“ oder „Business Conduct Guidelines“ – alle erwarten von ihren Mitarbeitern, dass sie respektvoll miteinander umgehen. Doch manche gehen noch weiter.

Lernprogramm zur Gleichbehandlung

Die Allianz lässt alle neuen Mitarbeiter in den ersten Arbeitstagen ein Lernprogramm zum Thema Gleichbehandlung absolvieren. Das Programm schließt mit einer Zertifizierung ab, die in der Personalakte abgelegt wird. Wer dieses Wissen auffrischen will, kann das jederzeit tun.

Der Telekommunikationskonzern Telefónica schickt seine 5000 Mitarbeiter in Deutschland alle drei Jahre in ein Training zum Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz. In einem Online-Tool werden diverse Situationen geschildert, zu denen die Mitarbeiter die richtige Herangehensweise auswählen oder eine Einschätzung der Situation abgeben sollen.

Anonyme Hotlines

Etwa, wenn die Geschäftsführung einen Vorgesetzten abmahnt und versetzt, weil dieser die Brust einer Auszubildenden berührt haben soll. Ist die Versetzung rechtens? Bestanden ist der Test nur bei einem klaren Ja. Zeigt sich ein Mitarbeiter unsensibel und fällt durch den Test, muss er ihn so oft wiederholen, bis er ihn besteht.

Einige bieten anonyme Hotlines, bei denen sich die Betroffenen melden können. Kaum ein Unternehmen nimmt das so ernst wie BMW. Die entsprechende Durchwahl steht den Mitarbeitern in 47 Ländern 24 Stunden lang an 365 Tagen im Jahr zur Verfügung. Die Meldung kann in 34 Sprachen telefonisch oder online als Texteingabe erfolgen.

Code of Conduct

Adidas sieht keinen Grund für „einen detaillierten Regelkatalog für den Umgang zwischen Mann und Frau“. Denn „respektvollen Umgang kann man nicht durch starre Regeln erreichen, vielmehr müssen Mitarbeiter ständig dafür sensibilisiert werden“. Deshalb gibt es bei Adidas, wie bei den meisten anderen großen Konzernen auch, einen sogenannten Code of Conduct, in dem jeder Mitarbeiter zum respektvollen Miteinander und zur Toleranz gegenüber Minderheiten aufgefordert wird. Im Intranet können sich Mitarbeiter über sexuelle Belästigung informieren. Kommt es zu einem solchen Zwischenfall, stehen den Betroffenen interne Ansprechpartner zur Verfügung – etwa ein Manager aus der Personalabteilung oder der Betriebsrat. Wer anonym bleiben möchte, kann eine Krisen-Hotline anrufen.

Letztendlich landen alle Fälle sexueller Belästigung auf dem Schreibtisch des Adidas-Personalchefs. „Meistens reicht dann ein ernstes Gespräch, um dem Mitarbeiter klarzumachen, dass seine Bemerkungen für andere verletzend sind. Bei schweren Fällen kann es auch zu Abmahnungen oder Entlassungen kommen.“

Anzügliche Bemerkungen

Für eine fristlose Kündigung reichen schon sexuell anzügliche Bemerkungen. Das musste im Jahr 2011 etwa ein 61-jähriger Angestellter eines Möbeleinzelhändlers mit mehreren Hundert Angestellten feststellen. Alles begann vier Jahre zuvor. Da erteilte der Mann einer Kollegin einen Klaps auf den Po. Von seiner Chefin erhielt er eine Abmahnung, gewissermaßen die erste gelbe Karte. Im Juni 2008 machte er gegenüber einer 26-jährigen Kollegin „bei vier Gelegenheiten Bemerkungen sexuellen Inhalts“.

Darunter: „Warum hast du denn keinen Minirock an, wenn du auf die Leiter steigst? Dies hätte ich von dir doch erwartet.“ Etwas später meinte er dann, nachdem sie sich einen Alu-Zollstock ausgeliehen hatte: „Der ist so hart und dick wie meiner.“ Dann erkundigte er sich beim gemeinsamen Essen, ob sie noch nie Sex beim Essen gehabt hätte und fügte hinzu: „Du kannst auch Sex von mir haben.“

Anzügliche Sprüche, gierige Blicke – die Grenze zur sexuellen Belästigung ist schnell erreicht. Wir zeigen, wie Frauen auf Übergriffe reagieren können.

Fristlose Kündigung

Eine Woche später erhielt er die fristlose Kündigung. Zwar verteidigte er sich, er habe die Mitarbeiterin nicht sexuell belästigt, sondern lediglich „geneckt“. Doch das Bundesarbeitsgericht bestätigte die Entscheidung im Juni 2011. Die fristlose Kündigung blieb bestehen – nach mehr als 30 Jahren Betriebszugehörigkeit.

Vor allem in den USA können Fälle sexueller Belästigung teuer werden: 1994 sprach ein Richter einer ehemaligen Angestellten der Rechtsanwaltskanzlei Baker & McKenzie umgerechnet etwa knapp drei Millionen Euro zu. Sie hatte ihrem Chef vorgeworfen, ihre Brüste und ihre Hüfte betatscht zu haben.

1998 zahlte Mitsubishi 34 Millionen Dollar an Hunderte weibliche Angestellte, die sich in einer Fabrik im Bundesstaat US-Illinois sexuell belästigt gefühlt hatten.

Klaps auf den Po

Der Schweizer Pharmakonzern Novartis musste vor einigen Jahren 253 Millionen Dollar wegen der Diskriminierung von Frauen zahlen. Gegen die US-Tochter des deutschen Pharmariesen Bayer läuft noch ein Verfahren wegen Diskriminierung von Frauen. Im Frühjahr 2011 hatten sechs Mitarbeiterinnen eine Sammelklage in Millionenhöhe wegen Diskriminierung gegen Bayer USA eingereicht. Der deutsche Konzern benachteilige Frauen systematisch, bezahle Männer besser und bevorzuge sie bei Beförderungen, lautet der Vorwurf.

Doch das ist noch gar nichts gegen die Summe, die die amerikanische Assistenzärztin Ani Chopourian im Februar 2012 zugesprochen bekam. Während ihrer Arbeit auf der Herzchirurgie begrüßte sie ein Kollege morgens immer mit der Bemerkung „Ich bin spitz“ und gab ihr einen Klaps auf den Po. Außerdem erzählte er, dass er mit seiner Ehefrau kaum noch Sex habe, das aber gerne mal mit Kolleginnen nachholen würde. Ein anderer gestand ihr sein Faible für Prostituierte. Der Richter sprach ihr die Rekordsumme von umgerechnet 124 Millionen Euro zu.

Nacktfotos im Büro

Es ist eines der brenzligsten Themen in jedem Betrieb und auch im Arbeitsrecht: Sexuelle Belästigung. Was das juristisch bedeutet und wie Unternehmen damit umgehen.
von Claudia Tödtmann

Zugegeben, solche Summen sind im deutschen Rechtsstaat illusorisch. Dabei ist auch hierzulande das tägliche Miteinander zwischen Männlein und Weiblein am Arbeitsplatz zumindest formaljuristisch längst geregelt: Seit dem 1. September 1994 gab es das Gesetz zum Schutz der Beschäftigten vor sexueller Belästigung am Arbeitsplatz. Dieses wurde im August 2006 vom Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz, kurz AGG abgelöst, das auch Antidiskriminierungsgesetz genannt wird.

Das AGG definiert sexuelle Belästigung als „unerwünschte sexuelle Handlungen und Aufforderungen zu diesen, sexuell bestimmte körperliche Berührungen, Bemerkungen sexuellen Inhalts sowie unerwünschtes Zeigen und sichtbares Anbringen von pornografischen Darstellungen“, die die Würde der betreffenden Person verletzen – „insbesondere wenn ein von Einschüchterungen, Anfeindungen, Erniedrigungen, Entwürdigungen oder Beleidigungen gekennzeichnetes Umfeld geschaffen wird“.

Dazu gehören obszöne Witze ebenso wie sexuelle Anspielungen; ungewollte Berührungen, aber auch Nacktfotos im Büro.

Kündigungen von verzweifelten Frauen

Das Gesetz ist bereits sieben Jahre alt – doch erst seit der vergangenen Woche stehen die Telefone bei der Antidiskriminierungsstelle des Bundes nicht mehr still. Dort können sich Betroffene melden, die sexuell belästigt werden – offenbar meist am Arbeitsplatz, durch Vorgesetzte und Kollegen. Eine Frau berichtete etwa, sie habe ihren Vorgesetzten nicht mehr ertragen können und schließlich gekündigt. Der Chef hatte sie jahrelang schikaniert und ihr unter anderem empfohlen, „lieber mal wieder zu bumsen, als ständig RTL zu schauen“.

Solche Kündigungen von verzweifelten Frauen kommen häufiger vor. Christine Lüders, Leiterin der Antidiskriminierungsstelle, kennt aber auch den umgekehrten Fall. Eine Monteurin hatte sich gegen die Anzüglichkeiten ihres Chefs gewehrt. Sie verlor nach der Probezeit ihren Job. Begründung: Sie sei eine „Spaßbremse“.

Der Aufzug

Lüders rät in solchen Fällen, sich mit Kolleginnen auszutauschen. Ihre Erfahrung: Auffällige Kollegen versuchen es meist bei mehreren Frauen. Ihr Tipp: Gedächtnisprotokolle solcher Vorfälle könnten später vor Gericht hilfreich sein. In jedem Fall sollten die Frauen sich an ihren Arbeitgeber wenden.

Dass Männer deshalb in deutschen Unternehmen künftig nicht mehr mit Frauen Aufzug fahren können, wie es zum Teil in den USA bereits Usus ist, glaubt Michael Kastner zwar nicht. Dennoch rät der Geschäftsführer des Instituts für Arbeitspsychologie und Arbeitsmedizin in Herdecke auch Männern zu erhöhter Aufmerksamkeit in problematischen Situationen. „Komme ich in den Aufzug und da steht eine ältere Dame, kann ich ohne Probleme einsteigen. Ist die Dame jung und herausgeputzt, sollte ich vielleicht den nächsten Fahrstuhl nehmen“, sagt Kastner.

Missverständnissen vorbeugen

Ein anderer Professor hat solche Erfahrungen bereits gemacht – mit einer Studentin, die in dessen Sprechstunde kam, stark parfümiert, mit einem Ausschnitt bis zum Bauchnabel. Als sie die Tür schloss, den Professor duzte und ihn für seine gelungene Vorlesung lobte, schrillten dessen Alarmglocken. Sofort öffnete er die Tür und bat sie zu gehen.

Um solchen Missverständnissen vorzubeugen, empfiehlt Kastner künftig nach dem Prinzip zu kommunizieren „Ich darf, was du darfst“. Umso mehr, wenn ein Abhängigkeitsverhältnis zwischen den beiden Personen besteht. Ein Chef müsse noch viel sensibler sein als ein normaler Kollege, denn die Mitarbeiterin hat vielleicht eher Probleme damit, den eigenen Vorgesetzten in die Schranken zu weisen.

Entschärfung

Der anhaltende Erfolg junger Frauen im Beruf und ihr damit verbundener Aufstieg in die Chefetagen könnte die Problematik der sexuellen Belästigung ohnehin entschärfen. „Frauen werden dann eher als Autorität wahrgenommen, die man nicht einfach von der Seite anmachen kann“, sagt Antidiskriminierungsexpertin Lüders.

Nicht nur das: „Die neue Generation von Führungskräften ist anders sozialisiert worden“, ergänzt Managementtrainerin Bergmann. „Viele Männer haben inzwischen ein moderneres Frauenbild als frühere Generationen. Und auch die Frauen gehen wesentlich selbstbewusster mit Männer um.“

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