Kommunisten und Kapitalisten und das gesamte wirtschaftspolitische Spektrum zwischen diesen Polen eint ein Glaube. Nämlich der, dass das Heil des Menschen in der Arbeit liegt. Die Geschichte dieses Glaubens beginnt mit „ora et labora“ im Mittelalter und spätestens mit Luther, der Arbeit für „köstlich“ hielt, waren diejenigen, die sie für eine Last hielten, ins diskursive Abseits verbannt.
Arbeitslosigkeit gilt infolgedessen als ein individuelles und gesamtgesellschaftliches Unglück, vor dem die Menschen bewahrt werden sollen. Die Sozialforschung sieht Arbeitslose entsprechend einseitig als ausgegrenzte und seelisch kranke Opfer. Und sowohl für Sozialdemokraten alter Schule als auch für liberale Leistung-muss-sich-lohnen-Fetischisten ist die Vorstellung, dass arbeitslos zu werden für manch einen Betroffenen möglicherweise gar nicht so schrecklich sein muss, schlicht unsagbar.
In der Wirklichkeit kommt aber genau das durchaus vor. Angesichts der flächendeckenden Zunahme von Stress und psychischen Belastungen am Arbeitsplatz, wird immer deutlicher, dass auch moderne, vordergründig nicht gesundheitsschädliche Büroarbeit eine Qual sein kann. „Ugly, horrible, uninteresting work“ bleibt seit Oscar Wildes Zeiten traurige Realität für viele Menschen. Manch einer erreicht irgendwann einen Arbeitsüberdruss, der den Verlust des festen Gehalts übersteigt und den Verlust des Jobs als Befreiung erleben lässt.
Der Bremer Sozialwissenschaftler Benedikt Rogge hat jetzt in einer erstaunlichen Doktorarbeit („Wie uns Arbeitslosigkeit unter die Haut geht. Identitätsprozess und psychische Gesundheit bei Statuswechseln“) basierend auf knapp 60 Interviews mit überwiegend aus Bremen stammenden Kurz- und Langzeitarbeitslosen das Selbstbild und die Psyche von Arbeitslosen untersucht. Er zeigt die Vielfalt von individuellen Handlungs- und Deutungspraktiken und sozialen Kontexten auf. Rogges Fazit: Arbeitslos zu werden, lässt kaum jemanden kalt. Es ist zwar für viele Menschen eine schwere psychische Last, aber andere sehen ihre Arbeitslosigkeit sogar als Gewinn.
Rogge schlägt eine „Theorie biographischer Identitätsmodi“ vor. Einfacher gesagt: Wie jemand seine Arbeitslosigkeit durchlebt, hängt von der Stelle ab, die er hatte, von den Menschen seines persönlichen Umfeldes, vom eigenen Lebensentwurf und nicht zuletzt von dem, was Soziologen „ökonomisches und kulturelles Kapital“ nennen, also Bildung, gesellschaftliches Standing und nicht zuletzt auch den Aussichten auf dem Arbeitsmarkt. Arbeitslose erfahren ihr Schicksal dementsprechend auf verschiedene Weisen. Rogge kristallisiert fünf Idealtypen der Empfindung von Arbeitslosigkeit heraus: Umstellung, Befreiung, Kampf, Verfall und Transformation.
Verschiedene Erfahrung
Als oft wiederkehrende Umstellung bedeutet Arbeitslosigkeit für viele gering qualifizierte Menschen keine allzu schwere psychische Belastung. Wer an Leiharbeit und andere prekäre Arbeitsverhältnisse gewohnt ist, kann sich meist schnell an Phasen der Arbeitslosigkeit anpassen. Der nächste Job, so die berechtigte Erwartung, wird problemlos zu finden sein, auch wenn es wohl nur einer als Kassiererin oder Lagerarbeiter ist.
Anders geht es jenen, die ihren Job verlieren und sich keine Hoffnung machen (können), eine vergleichbare Anstellung zu finden. Das sind vor allem Menschen mit geringen oder nicht mehr gefragten Qualifikationen und Arbeitslose fortgeschrittenen Alters. Die Betroffenen finden sich mit der Aussicht auf dauerhafte Arbeitslosigkeit ab, entweder als schicksalhafte Katastrophe, die den Verfall der sozialen Stellung und psychischen Gesundheit zur Folge hat, oder als „Transformation“, in der das arbeitslose Leben einen neuen arbeitsunabhängigen Sinn erhält.
Die härteste Arbeitslosenzeit machen jene durch, die sie als Kampf um eine neue statusgleiche Beschäftigung empfinden. Rogge sprach mit einem 30-jährigen Mediendesigner, für den die Arbeitslosigkeit ein Schock und der Beginn einer extrem stressigen Lebensphase war. Als Workaholic ertrug er den Gedanken, arbeitslos zu sein, kaum und war von morgens bis abends „rasend“ mit der Suche nach einer neuen Stelle beschäftigt. Beim zweiten Interview, acht Monate später, hatte er sie gefunden – und wirkte wie erlöst.
Und schließlich die glücklichen Arbeitslosen im „Befreiungsmodus“. Rogge berichtet von einem Controller, der nach 15 Jahren im selben Unternehmen nicht mehr der "Zahlenknecht" sein wollte. Seinen Job empfand er, obwohl gut bezahlt, als monoton und entfremdet. Die selbst gewählte Arbeitslosigkeit nutzt er zur Wiederherstellung des Selbst, wie er sagt. Meist seien es, so Rogge, Menschen höheren Bildungsstands, die gelernt haben, ihre freie Zeit zu kultivieren, Bücher lesen, spazieren gehen, Sport treiben. Menschen meist auch, die gewisse finanzielle Mittel haben, um sich vor einer Phase geringer Einkünfte nicht fürchten zu müssen. Menschen, die sich meist sicher sind, bald eine neue, vergleichbare Beschäftigung zu finden.
So wie der Verlust der Arbeit nicht immer eine Katastrophe bedeutet, ist aber auch die Rückkehr in die Erwerbstätigkeit nicht immer erlösend. Wenn "Kämpfer" die Wunscharbeit gefunden haben, ist das alte Leben wiederhergestellt, die Psyche wieder repariert. Für rund 20 Prozent der Betroffenen sei der Neubeginn aber eher eine enttäuschende Erfahrung. Vor allem bei denjenigen, die sich schließlich genötigt sehen, eine Arbeit anzunehmen, die erheblich hinter den Wunschvorstellungen zurückbleibt, verschlechtert sich meist das Wohlbefinden mit dem Wiedereintritt in die Arbeitswelt.
Rogge hat einen wertvollen, befreienden Beitrag zur Entideologisierung der Arbeitslosigkeit geleistet. Sein Buch ist ein gesellschaftlicher Appell, die Stigmatisierung von Arbeitslosigkeit als sozialen Makel ebenso zu beenden wie ihre pauschale Pathologisierung durch Politik und Wohltätigkeitsindustrie.