Workaholics Jeder neunte Deutsche ist arbeitssüchtig

Mindestens jeder neunte Arbeitnehmer in Deutschland ist der AOK zufolge arbeitssüchtig. Viele nehmen Medikamente, um ihre Leistung noch zu steigern.

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Was die Deutschen bei der Arbeit krank macht
Die Liste prominenter Namen ist lang: Ex-SPD-Chef Matthias Platzeck, Schauspielerin Renée Zellweger, Fernsehkoch Tim Mälzer, Skispringer Sven Hannawald, Profifußballer Sebastian Deisler und auch die Medienwissenschaftlerin Miriam Meckel. Ihre Gemeinsamkeit: Wegen völliger Erschöpfung zogen sie die Reißleine. Aber es trifft nicht nur Prominente. Psychische Erkrankungen sind der Grund Nummer eins, warum Arbeitnehmer eine Auszeit brauchen - oder sogar in Frührente gehen. Ganze 41 Prozent der Frühverrentungen haben psychische Erkrankungen als Ursache. Diese nahmen laut Krankenkasse DAK-Gesundheit 2012 um vier Prozent zu, rückten erstmals auf Platz zwei aller Krankschreibungen hinter Muskel- und Skeletterkrankungen. Und die Ursachen für diese Krankheiten der Seele liegen oft im Job. Quelle: Fotolia
Die globalisierte Arbeitswelt, die internationalen Verflechtungen der Konzerne, der Konkurrenzdruck: All das zusammen erhöht die Anforderungen an die Beschäftigten. Ihre Arbeitstage werden immer länger, auch an den Wochenenden sitzen sie im Büro oder zu Hause am Schreibtisch, überrollt von einer Lawine von E-Mails. In dieser Tretmühle sind viele dann ausgelaugt, überfordert, verzweifelt, kraftlos. Der Akku ist - salopp gesprochen - leer. Quelle: Fotolia
Die Arbeitsbelastung führe zudem auch immer öfter zu Krankheiten, heißt es weiter. Klagten 2006 noch 43 Prozent über Rückenschmerzen waren es im vergangenen Jahr bereits 47 Prozent. Während 2006 nur 30 Prozent unter stressbedingten Kopfschmerzen litten, waren es 2012 bereits 35 Prozent. Die Anzahl der von nächtlichen Schlafstörungen geplagten Arbeitnehmern stieg von 20 auf 27 Prozent. Quelle: Fotolia
Am häufigsten belastet fühlen sich die Beschäftigten - 58 Prozent - nach dem neuen "Stressreport Deutschland 2012 " der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) durch Multitasking, also das Sich-Kümmern-Müssen um mehrere Aufgaben gleichzeitig. Quelle: Fotolia
Jeder zweite der rund 18000 Befragten (52 Prozent) arbeitet unter starkem Termin- und Leistungsdruck. Laut BAuA hat sich der Anteil der von diesen Stressfaktoren betroffenen Beschäftigten auf dem relativ hohen Niveau des vergangenen Jahrzehnts stabilisiert. Jeder vierte (26 Prozent) lässt sogar die nötigen Ruhepausen ausfallen, weil er zu viel zu tun hat oder die Mittagspause schlicht nicht in den Arbeitsablauf passt. Quelle: Fotolia
Immerhin 43 Prozent klagen aber über wachsenden Stress innerhalb der vergangenen zwei Jahre. Außerdem wird fast jeder Zweite (44 Prozent) bei der Arbeit etwa durch Telefonate und E-Mails unterbrochen, was den Stress noch erhöht. Quelle: Fotolia
Insgesamt 64 Prozent der Deutschen arbeiten auch samstags, 38 Prozent an Sonn- und Feiertagen. So kommt rund die Hälfte der Vollzeitbeschäftigten auf mehr als 40 Arbeitsstunden pro Woche, rund ein Sechstel arbeitet sogar mehr als 48 Stunden. Und das ist nicht gesund: Seit Längerem weisen Wissenschaftler auf einen Zusammenhang zwischen langen Arbeitszeiten, psychischer Belastung und gesundheitlichen Beschwerden hin: Je mehr Wochenarbeitsstunden, desto anfälliger. Bei Menschen, die 48 Stunden und mehr pro Woche arbeiten, ist die Gefahr für physische und psychische Erkrankungen am höchsten. Quelle: Fotolia

„Die Betroffenen hängen an der Arbeit wie der Fixer an der Nadel“, sagte der Bonner Wirtschaftspsychologe Stefan Poppelreuter der „Bild“-Zeitung. Die Arbeitssüchtigen verbringen mehr Zeit mit Arbeit als mit Freizeit und zeigen ohne Arbeit die gleichen Entzugserscheinungen wie Drogensüchtige, so das Ergebnis des Wissenschaftlichen Instituts der AOK. 10,6 Prozent der Arbeitssüchtigen nehmen Medikamente, um leistungsfähiger zu sein. 

Bundesweit sei jeder siebte Arbeitnehmer (14 Prozent) gefährdet, abhängig von Arbeit zu werden. Poppelreuter, der in Bonn die erste empirische Studie in Deutschland zu dem Thema leitete, unterscheidet vier Typen: entscheidungsunsichere, überfordert-unflexible, verbissene und schließlich überfordert-zwanghafte Arbeitssüchtige. Zu den gefährdeten Berufsgruppen zählen unter anderem Manager, Politiker und Führer großer Verbände, deren Ansehen, Macht und Einkommen von ihrem „unermüdlichen“ Einsatz abhängen, heißt es. Genauso trügen Erwerbstätige, die intensiv mit anderen Menschen arbeiten, etwa Ärzte, Sozialarbeiter und Lehrer, ein höheres Risiko, ihrer Arbeit zu verfallen.

Die Folgen können Schweißausbrüche, Magengeschwüre, Schlafstörungen und Herzrasen sein bis hin zum Herzinfarkt.  Die Arbeit bildet den Mittelpunkt des Lebens, soziale Kontakte oder Hobbys spielen nur noch eine untergeordnete Rolle. Am Arbeitsplatz fallen Arbeitssüchtige laut Poppelreuter oft dadurch auf, dass sie auch in nebensächlichen Dingen perfektionistisch sind, dass sie kaum delegieren können und Mühe haben, Prioritäten zu setzen.

Der Psychologe fordert daher, Arbeitssucht wie Glücksspiel- und Kaufsucht „als ernst zu nehmende Krankheit“ anzuerkennen. Das würde nicht nur Therapien erleichtern, sondern auch gezielte Vorsorgemaßnahmen in Betrieben ermöglichen.

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