Karl Marx hat doch noch gewonnen. Zumindest was die Wertschätzung der Arbeit angeht. Das „Feuer der Gestaltung“ nannte der große Dialektiker sie, und glaubte, dass „die Gesellschaft nun einmal nicht ihr Gleichgewicht“ finde, „bis sie sich um die Sonne der Arbeit dreht.“
Die modernen Menschen sind in dieser Hinsicht Marxisten. Sie halten ihre Arbeit für das Zentrum des Lebens. Fast alles scheint sich in unseren gegenwärtigen, westlichen Gesellschaften um die Erwerbsarbeit zu drehen. Die Ökonomie herrscht unangefochten. Aber ob die Menschen dadurch ihr Gleichgewicht gefunden haben, kann man durchaus bezweifeln.
Dass Arbeit Depressionen, Rückenschmerzen und anderes Unglück mit sich bringen kann, zeigt nicht erst der heute erschienene Gesundheitsreport der Techniker Krankenkasse. „Vielen sitzt der Stress buchstäblich im Nacken“, heißt es in der Pressemitteilung der TK. Die Fehlzeiten auf Grund von „psychischen und Verhaltensstörungen“ haben im Vergleich zum Jahr 2000 um rund 70 Prozent zugenommen.
Unzählige Studien dokumentieren das wachsende Ausmaß arbeitsbedingter psychischer Leiden, meist unter dem Stichwort Burn-Out zusammengefasst. Gleichzeitig mit der TK veröffentlicht die Konkurrenz von der DAK ihre Sonderauswertung ihres vor einigen Tagen erschienenen Gesundheitsreports zum Thema „Stressbewältigung und Burn-Out-Prävention“. Man findet fast täglich einen Anlass, um über Burn-Out zu berichten.
Und diesem Volksleiden an der Arbeit steht auf der anderen Seite das große Versprechen der Selbstverwirklichung durch die Erwerbsarbeit gegenüber. Kindern wird von früh auf eingetrichtert, dass ihr Glück in einem tollen Beruf zu finden sei. Und die meisten glauben das. Die emotional entwurzelten, von den traditionellen Sinnangeboten der Religion oder des Nationalstolzes entkoppelten Menschen suchen in Ermangelung von Alternativen die Selbstverwirklichung, das Glück, allein in der Erwerbsarbeit. Oder zumindest Spaß!
Was für eine Katastrophe ist es für Menschen, die solcherart alles auf eine Karte setzen, wenn die nicht sticht! Wenn die Arbeit nicht das Selbst verwirklicht, kein Glück bringt. Nicht mal Spaß.
Stattdessen nur Erschöpfung. Der Psychologe und Deutschland-Versteher Stephan Grünewald sieht uns als „erschöpfte Gesellschaft“. In seinem gleichnamigen Buch, entstanden auf der Grundlage tausender Tiefeninterviews, schreibt er über Menschen, die am Ende des Tages nichts spüren als „bleierne Müdigkeit“, die ihnen immerhin beweist, dass sie sich „rechtschaffen abgearbeitet“ haben.
Nicht der Sinn und Zweck der Arbeit, nicht ihr Ergebnis steht im Mittelpunkt, sondern die schiere Arbeit als Selbstzweck. Sie ist zur Sonne geworden, um die sich alles dreht. Aber diese Sonne wärmt nicht mehr nur, sie verbrennt die Menschen auch.
Arbeit ist für viele junge Menschen, was sie für unsere Ahnen nie war: die ganz große Verheißung. Und gerade dadurch kann sie erst zur ganz großen Enttäuschung werden, die sie für unsere weniger enthusiastischen Vorfahren nicht sein konnte.
An die Möglichkeit eines permanenten Glückes am Arbeitsplatz glaubt der Soziologe und Historiker Richard Sennet ohnehin nicht. „Aber ich bin davon überzeugt, dass sich das Gefühl einer grundlegenden Zufriedenheit einstellt, wenn man das Gefühl hat, seine Sache gut zu machen“, schreibt er im Sammelband „Architekten der Arbeit“ von Sven Rahner. „Um das zu erreichen, müssen Menschen die Möglichkeit haben, über einen Zeitraum von zwei bis drei Jahre hinweg gleiche oder sehr ähnliche Aufgaben zu bearbeiten. Das Flexibilitätspostulat im Personalmanagement der letzten Jahre steht dieser Erkenntnis diametral gegenüber: Die Leute werden permanent von einer Aufgabe zur anderen geschoben, um sie ständig auf einem Niveau der Einarbeitung und Unsicherheit zu halten. Damit wird letztlich das Gefühl der Genugtuung, das sich nach einer erfolgreich erledigten Aufgabe einstellt, zerstört.“
Die Fugenlosigkeit der Arbeit
Den Mangel, den Sennet beklagt, nennt Grünewald "Werkstolz". In immer mehr modernen Arbeitsplätzen ist die Möglichkeit, in absehbaren Zeiträumen Werke zu schaffen, auf die man stolz blicken und verschnaufen kann, abhanden gekommen. Sowohl für Manager zum Beispiel als auch für weniger qualifizierte Mitarbeiter in der Dienstleistungsbranche, etwa in Call-Centern steht am Ende eines Arbeitsabschnittes kaum ein greifbares Ergebnis, kein Werk, das man stolz betrachten – und währenddessen verschnaufen kann. Die Arbeit bietet keine spürbaren Zäsuren.
Beschleunigung - nicht nur im Arbeits-, sondern auch im Privatleben - ist für den Soziologen Hartmut Rosa das zentrale Merkmal der Gegenwartsgesellschaft: Wir sparen immer mehr Zeit, sind aber nie schnell genug und können die Ersparnis daher nie genießen. Ein Acht-Stunden-Tag 2014 ist nicht derselbe wie ein Acht-Stunden-Tag 1980. Die Brutto-Arbeitszeitreduzierungen, die die Gewerkschaften erkämpft haben, holten sich die Arbeitgeber nämlich beim Netto klammheimlich zurück. "Die Fugen in der Arbeitszeit, die in den Betrieben früher stets vorhanden waren, das Schwätzchen auf dem Gang oder bei der Rauchpause, sind verschwunden", sagt der Zeitforscher Karl-Heinz Geißler. "Das ist die Ursache des Stresses, über den heute geklagt wird: die Fugenlosigkeit der Arbeit."
Psychische Erschöpfung entsteht, wenn sich Menschen als Getriebene widriger Umstände und vielfältiger Ansprüche empfinden, die unaufhörlich auf sie wirken: Hohe Arbeitsanforderungen bei niedrigem Tätigkeitsspielraum. Psychisch krank werden daher meist nicht die Chefs und nicht die Freiberufler, sondern Angestellte.
Abstellen kann der einzelne Arbeitende die Belastung durch das immerwährende Effizienzdiktat nicht. Aber er kann sich innerlich, emotional befreien. Isabella Heuser, Direktorin der Klinik für Psychiatrie an der Berliner Charité empfiehlt leidenden Arbeitnehmern genau das, was Arbeitgeber nicht hören wollen: die innere Emigration. Sich nicht aufreiben für die Firma, Nein sagen, Distanz zum Job, sein Selbstbewusstsein aus anderen Lebensbereichen ziehen.
Das heißt nichts anderes als das moderne – zugleich marxistische und kapitalistische – Heilsversprechen der Erwerbsarbeit vergessen. Heuser empfiehlt Menschen, die an ihrem Job leiden einen Einstellungswechsel: „Die Arbeit muss mich nicht glücklich machen, sie ist auch nicht dafür da, meinem Leben einen Sinn zu geben – sie muss mir nicht mal Spaß bringen. Sie ist einfach nur mein Broterwerb.“
Der alte Marx und die modernen McKinsey-Kapitalisten, die ihm näher stehen, als sie meinen, verdienen deutlichen Widerspruch: Die Gesellschaft ist eben gerade nicht im Gleichgewicht, wenn sie sich allein um das Zentralgestirn Arbeit dreht, sondern wenn keine gesellschaftliche Domäne überproportional betont wird. Auch die Wirtschaft nicht. Der Wert eines Menschen für sich selbst und die Gesellschaft sollte nicht allein nach seiner Arbeit bemessen werden. Das tut ihm unrecht, verletzt seine Würde – und seine seelische Gesundheit.