Aufschieberitis vor Semesterende Warum Studenten lieber putzen als pauken

Das Lernen vor dem Semesterende ist für Studenten eine Qual - und für ihre Wohnungen ein richtiger Luxus. Denn wohl in keiner anderen Zeit greifen die Studenten lieber zum Putzlappen. Grund dafür ist ein weit verbreitetes Phänomen: Die Aufschieberitis.

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Stifte sortieren, Oma anrufen, Wohnung putzen: Bei der Aufschieberitis ist jedes Mittel recht um nicht mit der eigentlichen Aufgabe anfangen zu müssen. Quelle: Blumenbüro Holland/dpa/gms

Eine Studenten-WG ist nicht sauber. Wer hat zuletzt das Bad geputzt? Er? Sie? Egal, machen wir morgen. Gegen Ende des Semsters sieht das anders aus. Dann blitzt Badewanne, der Herd erstrahlt plötzlich in neuem Glanz und sogar der Staubsauer steht verlockend in der Ecke - aber die Lernbücher bleiben angestaubt im Schrank. Schuld daran ist die "Aufschieberitis", denn mit den Klausuren und Abgabefristen kommen auch die Ausreden. In extremen Fällen werden sie chronisch und zum Persönlichkeitsproblem. Nur woher kommt das?

Im Prinzip ist Aufschieberitis nichts anderes als eine Verzögerungstaktik – mit einem Haken: Man täuscht nicht andere, sondern sich selbst. Und ist sich dessen auch noch vollkommen bewusst. Kern des „Aufschiebens“ ist es, unangenehme, lästige oder anstrengende Arbeiten vor sich herzuschieben, frei nach dem Motto: „Das mache ich schon morgen“. Um dringenden Aufgaben aus dem Weg zu gehen, ziehen die „Aufschieber“ alle anderen erdenklichen Tätigkeiten vor, auch die, vor denen sie sich sonst drücken. An dieser Stelle ist Staub wischen dann wirklich „notwendig“ und E-Mails checken wird doppelt wichtig. Viele Aufschieber kriegen ihre kleinen Bummeleien zwar irgendwann wieder in den Griff, andere jedoch nicht: Sie sind aber nicht besonders faul, sondern haben eine psychische Arbeitsstörung. „Prokrastination“ nennt sich das und bedeutet sinngemäß übersetzt „Vertagung“.

Seit einigen Jahren beschäftigen sich auch die Universitäten mit Prokrastination – und das mit gutem Grund, denn vor allem unter Studenten finden sich überdurchschnittlich viele Aufschieber. Professor Matthias Nückles von der Uni Freiburg begründet das mit den Umständen, in denen Prokrastination häufig auftritt: „Das sind konkrete Leistungssituationen, in denen das Individuum signifikante Freiheitsgrade hat und von sich aus Dinge angehen muss.“ Also Situationen, in denen sich vor allem Studenten häufig wiederfinden: Kein Chef schaut ihnen auf die Finger, bis zur Abgabefrist ist individuelles Zeitmanagement gefragt und normalerweise hat die nächste Hausarbeit keinen direkten Auswirkungen auf den Lebensunterhalt. Sprich: Perfekte Bedingungen um die Hausarbeit erst morgen anzufangen. In einer Studie der Uni Freiburg geben sechs von zehn Studenten an, selber „aufzuschieben“ und die Uni Münster hat herausgefunden, dass mindestens sieben Prozent der Studenten unter der extremeren Ausprägung, der Prokrastination leiden. Amerikanische Studien gehen sogar von bis zu 20 Prozent aus.

Die Psychologie-Diplomandinnen der Münsteraner Studie haben anhand ihrer fast 1000 Befragten das Durchschnittprofil eines Aufschiebers analysiert. Demnach sind Aufschieber unter den beiden Geschlechtern etwa gleich oft vorhanden, sind ängstlich und unsicher, eher bereits am Ende des Studiums und studieren ein „unstrukturiertes“ Fach wie beispielsweise eine Sprache oder Philologie.

Eine Ambulanz für Aufschieber

Je länger man aufschiebt, desto größer wird der Druck. Einige glauben sogar, sie brauchen den um erst wirklich loslegen zu können. Studien zeigen aber: Aufschieber haben tendenziell schlechtere Noten. Quelle: dpa

Eine allgemeingültige Ursache für häufiges oder chronisches Aufschiebeverhalten gibt es nicht. Im Gegenteil, denn die Hintergründe können aus allen Richtungen kommen. „Es können etwa die hohen Erwartungen an sich selbst blockieren und zu einem  Aufschub der zu bearbeitenden Aufgaben führen oder die Unterschätzung des Umfangs und der Leistung den sprichwörtlichen „Aufgabenberg“ wachsen lassen.“, vermutet der Freiburger Professor Matthias Nückles.

Aber auch andere Ursachen sind möglich. Aufschieberitis tritt häufig auf, wenn die Betroffenen unter Versagens- oder Kritikängsten leiden. Sie gelten dann lieber als faul denn als unfähig bestimmte Aufgaben, beispielsweise die nächste BWL-Klausur, zu bestehen. Andere haben schlicht Motivations-, Zeiteinteilungs- oder Prioritätensetzungsprobleme. Prokrastination kann aber auch als Teil einer diagnostizierbaren psychischen Störung, wie einer Depression, einer Angststörung oder von ADHS auftreten. Amerikanische Prokrastinationsforscher wie der Psychologieprofessor Joe Ferrari vermuten die Ursachen hingegen in der frühen Kindheit, etwa wenn Eltern zu früh und zu häufig Leistung von den Kindern fordern.  Nur in der Babywiege liegt die Prokrastination noch nicht. Ferrari betont: „Niemand wird als Prokrastinator geboren, dafür gibt es kein Gen.“

Wenn das Vertagungsmuster als Teil einer Depression oder von ADHS auftritt, dann hilft meistens nur die akute Behandlung der psychischen Ursprungsstörung. Für Studenten der Universität Münster gibt es mittlerweile auch konkrete Hilfen von Seiten der Hochschule. In einer speziellen Prokrastinationsambulanz gibt es Beratung und Therapieangebote –für einfache Bummler wie für chronische Aufschieber. Bereits mehrere Hundert Studenten haben das Angebot angenommen.

In einer gründlichen Diagnostik werden dann zuerst  die individuellen Faktoren analysiert, die das Aufschieben auslösen und aufrechterhalten. Dabei helfen unter anderem Selbstbeobachtungen und Fragebögen. Anschließend beginnt die Therapie in Form von Beratungen , Gruppen-Trainings und sogar Psychotherapie.  Besonders erfolgreiche Methoden sind dabei die Strukturierung des Arbeitsverhaltens, das Setzen realistischer Ziele und ein positiver Umgang mit Ablenkungsquellen und negativen Gefühlen. Durch systematisches Üben des alternativen Arbeitsverhaltens soll das „Aufschieben“  Schritt für Schritt abgebaut werden.

So überwinden Sie die lästige Aufschieberitis
Einplanen, dass Dinge länger brauchen.Machen Sie sich einen Arbeitsplan und bedenken Sie dazu, dass Sie für die Arbeit höchstwahrscheinlich doppelt solange brauchen werden. Schreiben Sie sich auf, wie lange Sie für welche Tätigkeit gebraucht haben. So können Sie ihr Arbeitstempo realistisch einschätzen. Ein Nebeneffekt: So merken Sie auch gleich, wovon Sie sich wie stark ablenken lassen. Quelle: dpa
Die Arbeit auch mal liegenlassen.Nehmen Sie sich bewusst Freizeit, denn niemand kann länger als acht Stunden wirklich effektiv arbeiten. Planen Sie Ihren Tag außerdem so, dass sie aufwendige und schwierige Aufgaben dann erledigen, wenn Sie sich besonders gut konzentrieren können. Quelle: dpa
Belohnen Sie sich! Ein schönes Essen mit Freunden nach getaner Arbeit oder mit dem neuen Buch auf die Couch: Schaffen Sie sich neue Anreize für die Arbeit am nächsten Tag in dem Sie sich selbst belohnen. Dann klappt es auch wieder mit der Motivation. Quelle: dpa
Mit kleinen Schritten zum Ziel Eine lange To-Do-Liste macht keinen Sinn: Teilen Sie sich den Tag in kleinere Arbeitseinheiten auf und legen Sie dafür konkrete Ziele fest - ein Tag hat schließlich nur 24 Stunden und eine kleine Pause kann zwischendurch auch mal ganz hilfreich sein. Quelle: dpa
Ein aufgeräumter SchreibtischWenn morgens immer erst der Schreibtisch oder der Computer-Desktop aufgeräumt werden muss, verliert man wertvolle Zeit, die eigentlich in Arbeit investiert werden sollte. Je aufgeräumter die Arbeitsfläche jedoch ist, desto mehr fokussiert man sich auf sein Ziel - Ablenkung ist passé. Quelle: dpa
Sport treiben!Ein gesunder Geist wohnt in einem gesunden Körper, heißt es in einem Sprichwort. Nehmen Sie sich das zu Herzen. Schon 20 Minuten Bewegung am Tag reichen, um Energiereserven wieder aufzufüllen und Glückshormone auszuschütten. Quelle: dpa
Suchen Sie sich Hilfe! Der Drang Dinge aufzuschieben, muss nicht immer nur ein Motivationstief sein. Prokrastination geht häufig einher mit Depressionen. Zögern Sie deshalb nicht einen Psychologen aufzusuchen. Quelle: dpa

Den unangenehmen Anruf verschieben, die Rechnung erst morgen bezahlen oder mit dem Lernen noch ein bisschen warten: Den kleinen Aufschieber in sich kennt vermutlich jeder. Der erste Schritt um ihn zu besiegen, wäre jetzt mit dem Lesen aufzuhören und endlich den Vermieter anzurufen. Endlich die VWL-Bücher hervorzukramen. Oder sich noch schnell die besten Tipps gegen das Aufschieben anzusehen.

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