Herr Professor Klein, in Ihrem neuen Buch nehmen Sie PISA- und Zentralabituraufgaben einzelner Bundesländer auseinander. Was bereitet Ihnen da so große Sorgen?
Hans Peter Klein: Die Leistungskursaufgabe mit den Streifenhörnchen aus Nordrhein-Westfalen aus dem Jahre 2009, die Schüler aus der Jahrgangsstufe 9 ohne Probleme teilweise mit guten Noten lösen konnten, ist mittlerweile weitgehend bekannt. Lesekompetenz genügt, um derartige Aufgaben lösen zu können. Denn dass die Streifenhörnchen eher die Eicheln fressen und nicht umgekehrt oder, wie in einer Aufgabe aus Hamburg, die Haie und Schwertwale eher die See-Elefanten jagen und nicht anders herum, dürfte Alltagswissen sein.
Zur Person
Hans Peter Klein ist Professor für Didaktik der Biowissenschaften an der Goethe-Universität in Frankfurt und ein gefragter Gesprächspartner und Autor zum Thema Bildung und Wissen und Bildungspolitik.
Aber selbst wer das nicht verstanden hat, ist bei derartigen Aufgabenstellungen keineswegs verloren, denn man hat ja immer noch den ausführlichen Text mit allen notwendigen Angaben, der in einzelnen Bundesländern bis zu fünf oder gar sechs Seiten beträgt. Jedes Jahr beschweren sich zehntausende von Schülern nach dem schriftlichen Abitur, dass sie für derartige lesekompetenzorientierte Aufgabenstellungen eigentlich nichts hätten lernen müssen.
Sie gelten als einer der schärfsten Kritiker des Kompetenzkonzepts. In diesem Zusammenhang weisen sie auch schwere fachliche Fehler in den Zentralabituraufgaben nach. Hat es die nicht schon immer gegeben und können Sie uns ein Beispiel dazu nennen?
Unklare Formulierungen in Abiturarbeiten hat es in der Tat immer schon gegeben, auch als die Lehrer die Arbeiten für ihre Schüler selbst erstellt haben. Dies war aber in der Prüfung kein Problem, da der Lehrer auf Nachfragen hier leicht eine Korrektur vornehmen konnte. Bei zentral gestellten Aufgaben legen unklare Formulierungen oder gar sachliche Fehler vor allem in Mathematik zum Zeitpunkt des Schreibens ganze Ministerien lahm.
Neu ist allerdings, dass in dem umfangreichen Arbeitsmaterial selbst komplett falsch dargestellte Sachverhalte im Rahmen der den Schulen verordneten Kompetenzorientierung niemandem mehr auffallen. In der Zentralabituraufgabe aus Hamburg von 2015 wird zum Beispiel gefragt, ob die Pazifische Auster die Miesmuschel verdrängt hat, und ob die Schnecke „Austerndrill“ zur Bekämpfung der Pazifischen Auster eingesetzt werden könnte. Tatsächlich jedoch gibt es gar keine Schnecke „Austerndrill“ und die Pazifische Auster wird überhaupt nicht bekämpft. Aber das spiele keine Rolle mehr, denn es komme ja schließlich auf die kompetenzorientierte Lösung an, mit derartigen Texten und Grafiken umgehen zu können, so die Befürworter dieser Entwicklung. Fachinhalte werden hier zum beliebig austauschbaren Füllmaterial von Lesekompetenzaufgaben degradiert.
Sie kritisieren auch die von der Politik ausgewiesenen Bildungserfolge des letzten Jahrzehnts als „kognitive Form der alchemistischen Goldherstellung“. Können Sie uns das näher erläutern?
Man muss sich hier nur des gesunden Menschenverstandes bedienen, dann wird jedem klar, wie der Hase läuft. Durch die Ökonomisierung der Bildung und den dadurch eingesetzten Vermessungswahn spielt heute die Outcome-Orientierung eine dominierende Rolle. Auch an den Hochschulen erhalten diejenigen mit den höchsten Quantitäten an Abschlüssen und Publikationen die meisten Forschungsgelder. Auf allen Ebenen im Bildungswesen werden derzeit exponentielle Steigerungen erreicht. Die Abiturientenquoten so mancher Bundesländer nähern sich der 60-Prozent-Marke, ausgehend von noch rund dreißig Prozent um die Jahrtausendwende. Es scheint eine enorme Evolution des Geistes in kurzer Zeit gegeben zu haben.
"Je anspruchsloser die Zentralabiturarbeiten, desto höher die Abiturientenquote"
Um ihre Thesen zu stützen, untersuchen sie in erster Linie das fachliche Niveau von Zentralabituraufgaben in Biologie und Mathematik. Stammen die aus allen Bundesländern?
Leider können wir nicht aus allen sechzehn Bundesländern Aufgaben auf ihr fachliches Niveau hin untersuchen, da neun von sechzehn Bundesländern trotz mehrfacher schriftlicher Anfrage uns ihre Zentralabituraufgaben und die dazugehörigen Lehrerhandreichungen und Erwartungshorizonte mit mehr als fadenscheinigen Ausreden nicht zur Verfügung stellen. Der Grund ist offensichtlich: Man weiß anscheinend selbst, dass derartige Vergleiche die entsprechenden Ministerien nicht gerade mit Ruhm auszeichnen würden.
Wie viele Zentralabituraufgaben welcher Länder haben Sie denn bisher analysiert und was ist dabei heraus gekommen?
Wir werden in Kürze ausführlich unsere Ergebnisse vorstellen. Bisher haben wir im Fach Biologie weit über fünfzig Zentralabiturarbeiten aus fünf Bundesländern sowohl im Längs- als auch im Querschnitt auf ihr fachliches Niveau hin untersucht. Außerdem gehe ich in meinem Buch ausführlich auf Abituraufgaben ein, die teilweise realsatirischen Charakter besitzen. Beispielsweise eine Aufgabe zum Zustand eines Baches, indem die Schüler anhand von ihnen überlassenen Daten die Gewässergüteklasse berechnen und bewerten sollen und dann sicherlich völlig perplex feststellen, dass in der ihnen zur Verfügung gestellten Grafik bereits alles berechnet und ausgefüllt ist. Das Ergebnis ist nicht verwunderlich: je fachlich anspruchsloser die Zentralabiturarbeiten, desto höher die Abiturientenquote.
Gibt es denn auch noch Länder mit fachlich anspruchsvollen Zentralabituraufgaben?
Ja die gibt es. Überraschenderweise gehören dazu einige der neuen Bundesländer. In Mecklenburg-Vorpommern können Schüler mit Lesekompetenz keinen Blumentopf gewinnen. Entweder sie wissen, wie beispielsweise eine Zelle aufgebaut ist und können eine eigenständige Zeichnung mit allen Zellbestandteilen erstellen oder sie müssen passen. Entweder sie wissen, was Gel-Elektrophorese ist – wegen des aktuellen Bezuges zu den laufenden Tatorten am Sonntagabend eine Art Lieblingsthema kompetenzorientierter Fragestellung – oder sie müssen zur nächsten Aufgabe übergehen. In Nordrhein-Westfalen und nicht nur dort wird den Schülern in ähnlichen Aufgabenstellungen erst einmal ausführlich erklärt, was unter Gel-Elektrophorese denn überhaupt zu verstehen ist. Wer also schon mal einen Tatort gesehen hat und über Lesekompetenz verfügt, muss für die Beantwortung derartiger Fragen nicht zwingend am Biologieunterricht teilgenommen haben.
Das Ganze ist schwer zu verstehen. Wir haben doch seit 2004 Bildungsstandards. Wie kann es sein, dass die anscheinend von einigen Bundesländern komplett unterlaufen werden?
Die Bildungsstandards sind verfasst in Form kompetenzorientierter Output-Formulierungen und einen Input in Form vorgegebener verbindlicher Fachinhalte gibt es nicht mehr. Die erstellt jedes Bundesland für sein Zentralabitur selbst. In Mecklenburg-Vorpommern werden beispielsweise sechs Teilgebiete der Biologie geprüft: Zellbiologie, Stoffwechselbiologie, Genetik, Evolution, Ökologie, Neurobiologie, in Bremen sind das gerade mal noch die zwei Gebiete Ökologie und Genetik.
Da muss man eigentlich gar keine Abiturvergleiche mehr anstellen. Der Unterschied ist für jeden von vornherein offensichtlich. Nicht nur in Nordrhein-Westfalen sind die für das grundlegende Verständnis der Biologie wichtigsten Teilgebiete der Zell- und Stoffwechselbiologie im Zentralabitur strengstens verboten. Klar, ohne chemische Kenntnisse muss man bei solchen Aufgaben passen und dies steht natürlich den angestrebten hohen Abiturientenquoten entgegen.
"Die Abwärtsspirale scheint an Fahrt aufzunehmen"
Demnach wäre auch die Hochschulzulassung alles andere als angemessen. Wie sehen Sie das?
Die Abwärtsspirale im Niveau gerade im Zentralabitur scheint zwischen den einzelnen Bundesländern sogar an Fahrt aufzunehmen, da die Schüler aus Bundesländern mit deutlich niedrigeren Abiturientenquoten und Bestnoten das Nachsehen bei der Hochschulzulassung haben und die Eltern den dortigen Bildungsministerien zurecht die Leviten lesen.
Gerade an den aus allen Nähten platzenden Universitäten darf der sich bewerbende Abiturient nämlich wegen akutem Personalmangel nur seine im Abitur erreichte Durchschnittsnote auf einen Zettel schreiben und nur danach erfolgt die Zulassung, ein in der ganzen Welt einmaliger Vorgang. Das ist in der Tat himmelschreiend ungerecht, denn hier werden die Nivellierer des deutschen Bildungssystems auch noch belohnt und die Hochschulen vor kaum zu bewältigende Probleme gesetzt, sollten sie nicht auch in den Abwärtsstrudel mit hinein gezogen werden.
Wie man hört, werden ja immer mehr Brückenkurse für nicht studierfähige Abiturienten an den Hochschulen angeboten. Was ist der Inhalt dieser Kurse?
Da die Vermittlung von Wissen laut reformpädagogischem Credo in den Schulen den Lehrern zunehmend untersagt wird, müssen die Hochschulen nun Brückenkurse in nahezu allen Fachbereichen anbieten. Das, was noch bis vor rund zehn Jahren von der Schule geleistet wurde, wird jetzt in die Hochschulen verlagert. Dies ist nichts anderes als ein bildungspolitischer Offenbarungseid des Bundesministeriums für Bildung und Forschung, das genau diese hier beschriebene Entwicklung längst zur Kenntnis genommen hat und nun drei- bis vierstellige Millionenbeträge aus Steuergeldern dafür ausgeben muss, dass jetzt an den Hochschulen der Stoff der Mittelstufe unterrichtet wird.
PISA, TIMSS, IQB, IGLU, VERA - Schulvergleichstests im Überblick
Diese vier Buchstaben stehen für den weltweit größten Schulvergleichstest, das „Programme for International Student Assessment“. Es wird alle drei Jahre von der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) in Paris organisiert. Sie tut dies im Auftrag der Regierungen - oder in Deutschland für die Kultusministerkonferenz (KMK) der 16 Länder. Getestet werden 15-Jährige in Naturwissenschaften, Mathematik sowie Lesen und Textverständnis. An „PISA 2015“, dessen Ergebnisse am 6. Dezember präsentiert werden, nahmen weltweit mehr als eine halbe Million Mädchen und Jungen aus über 70 Ländern und Regionen teil, darunter etwa 10.000 aus Deutschland.
Abkürzung für die ebenfalls internationale Schulstudie „Trends in International Mathematics and Science Study“, hier geht es um mathematische und naturwissenschaftliche Kompetenzen. Bei der jüngsten Erhebung im Jahr 2015 ließen sich unter Federführung von Bildungsforschern der Technischen Universität Dortmund bundesweit 4000 Viertklässler an 200 Grund- und Förderschulen testen. Weltweit waren es in rund 50 Staaten und Regionen gut 300.000 Kinder, zudem wurden 250.000 Eltern, 20.000 Lehrer und 10.000 Schulleiter befragt.
Diese Studie des Berliner Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) wurde zuletzt Ende Oktober vorgestellt. Sie liefert im KMK-Auftrag Daten und Fakten zum Stand der Schulpolitik in den Ländern. Der „Bildungstrend“, früher „IQB-Ländervergleich“, ersetzte vor einigen Jahren die regionalen PISA-Erweiterungsstudien (PISA-E). 2015 nahmen an den Tests in Deutsch und Fremdsprachen gut 37.000 Schüler der neunten Jahrgangsstufe aus über 1700 Schulen in ganz Deutschland teil.
Dabei handelt es sich in Deutschland um die „Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung“, international lautet die Abkürzung PIRLS („Progress in International Reading Literacy Study“). Mit diesem Projekt wird in fünfjährigem Rhythmus das Leseverständnis am Ende der vierten Jahrgangsstufe erfasst. Für IGLU ist wie bei TIMSS das Institut für Schulentwicklungsforschung (IfS) der TU Dortmund unter Leitung von Wilfried Bos zuständig. Ergebnisse von PIRLS/IGLU wurden zuletzt im Dezember 2012 veröffentlicht, der nächste Bericht kommt 2017 heraus.
Diese länderspezifischen wie auch länderübergreifenden Tests mit Vergleichsarbeiten (kurz VERA) sind Teil eines Bündels von Maßnahmen, mit denen Qualitätsentwicklung und -sicherung auf Ebene der einzelnen Schule gewährleistet werden soll. „Unter den Lernstandserhebungen nehmen die bundesweit einheitlichen Vergleichsarbeiten für die Jahrgangsstufe 3 und 8 (VERA 3 und VERA 8) eine besondere Stellung ein“, schreibt die KMK.
Das wird von der Kultusministerkonferenz und der Hochschulrektorenkonferenz als Qualitätsoffensive gepriesen und an den Hochschulen wegen des unerwarteten Geldzuflusses teilweise in höchsten Tönen gelobt. Daher wird der zweite Band unserer Buchreihe den Titel haben „Für eine Handvoll Euro...“ und sich mit den Entwicklungen an den Hochschulen seit der Jahrtausendwende intensiv beschäftigen.
Könnte die angestrebte Digitalisierung des Bildungswesens denn eine Besserung für diese nicht gerade erfreulichen Entwicklungen bedeuten?
Ganz im Gegenteil. Wir befinden uns in Schulen und demnächst wohl auch in den Hochschulen in einer postfaktischen Ära, denn auch hier üben die Kultusminister- und die Hochschulrektorenkonferenz massiven Druck aus zu kompetenzorientierten Studiengängen und Prüfungen hin – bei gleichzeitiger Verabschiedung von grundlegenden Wissensbeständen, wie das HRK-Gutachten zur Einführung der Kompetenzorientierung an Hochschulen zeigt.
Im Rahmen des jetzt neu auf die Gleise gesetzten Digitalisierungszuges, der nun von internationalen Großkonzernen des Silicon Valley durch Datenklau von Schülern und Studierenden durch Algorithmen gesteuert werden soll, hat die Politik sich endgültig von ihrem ureigenen demokratischen Bildungsauftrag verabschiedet und überlässt jetzt Drittanbietern das Feld, die von nun an darüber bestimmen, was wir in ihrem Interesse wissen sollen und was nicht. Bürger mit gefühltem Wissen sind halt leichter mit Worten manipulierbar und stellen keine Fragen, wie die aus der Sesamstraße bekannten: "Wieso? Weshalb? Warum? Wer nicht fragt bleibt dumm!"