Bildungsforscher Volker Ladenthin "PISA gefährdet unser Bildungssystem"

Heute wurde die neue PISA-Studie vorgestellt. Doch was da gemessen, quantifiziert und zu Länder-Rankings verarbeitet wird, hat mit wahren Bildungszielen nichts zu tun, kritisiert der Bildungsforscher Volker Ladenthin.

  • Teilen per:
  • Teilen per:
Volker Ladenthin (63), ist Erziehungswissenschaftler an der Universität Bonn. Er war vor seiner akademischen Karriere sechs Jahre lang Lehrer am Gymnasium.

Herr Ladenthin, morgen, am 3. Dezember, werden die Ergebnisse der neuesten, fünften PISA-Studie vorgestellt. Was haben Sie daran auszusetzen?

Zum einen misst PISA die deutschen Schulen nicht an den Kriterien, die in Verfassung, Schulgesetzgebung und Lehrplänen als Ziele derselben ausgegeben sind. „Die Jugend soll erzogen werden im Geist der Menschlichkeit, der Demokratie und der Freiheit, zur Duldsamkeit und zur Achtung vor der Überzeugung des anderen, zur Verantwortung für Tiere und die Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen, in Liebe zu Volk und Heimat, zur Völkergemeinschaft und zur Friedensgesinnung.“ So steht es beispielsweise im Schulgesetz von Nordrhein-Westfalen. Bisher haben die PISA-Macher aber nicht nachgewiesen, dass ihre Kriterien derlei Ziele unterstützen. Vielmehr wird immer deutlicher, wie sehr die PISA-Kriterien das Erreichen dieser Ziele behindern.

Zum anderen hat PISA eigenmächtig fremde, nicht vorab demokratisch verabredete Kriterien für das, was gute Bildung sein soll, eingeführt. Die gesetzten Kriterien haben sich dabei keiner breiten und wissenschaftlichen Diskussion über das, was Schule überhaupt soll und will, versichert. Ohne Auseinandersetzung mit dem Stand der Wissenschaft, mit bestehenden Schul- und Bildungstheorien, und auch nicht gemeinsam mit Lehrer- oder Elternverbänden werden die Kriterien der OECD, die übrigens niemand hierzu legitimiert hat, dies zu tun, nun einfach als Maßstäbe gesetzt. So etwas war bisher in der Wissenschaft unüblich.

Und außerdem, womit wir beim dritten und letzten Punkt wären, immunisiert sich die PISA-Crew gegen offene Diskussionen sowie Kritik, weil sie nur auf ausgewählte Repliken überhaupt eingeht – jene nämlich, die ihr nicht zu nahe kommen. Das hat es in der Wissenschaft eines demokratischen Landes bisher noch nicht gegeben.

So eine Art feindliche Übernahme des Bildungssystems durch Dritte und deren Interessen, meinen Sie?

Ja, die Bildungspolitik, laut Grundgesetz doch eigentlich Sache der Bundesländer, wird inzwischen längst international gesteuert – durch die Abkommen von Lissabon, Bologna und jetzt auch noch durch „Europa 2020“. Inzwischen werden die Lehrziele, die bis in die letzte Kita verbindlich werden sollen, international festgelegt.

Und was hat PISA mit all dem zu tun?

PISA diente und dient der Durchsetzung dieser Beschlüsse. PISA ist kein Messinstrument, sondern dient vielmehr der Implementierung vorab gesetzter Ziele. Die OECD will etwas durchsetzen und nicht erst über etwas einen Konsens herstellen.

PISA krempelt das Bildungssystem um und das gefällt Ihnen nicht. Dem würde ich entgegnen: Es ist längst höchste Zeit, dass endlich einmal qualitativ etwas besser wird in unserem maroden und hoch selektiven deutschen Bildungssystem, finden Sie nicht?

Für qualitative Verbesserungen bin ich immer zu haben. Nicht aber für quantitative Messkunststücke. Dass es sich hierbei aber genau um solche handelt, erkennen Sie daran, dass bisher noch jeder aus PISA das abgeleitet hat, was er auch vor PISA bereits gefordert hatte. Übrigens: Seit der ersten OECD-Datenerhebung 1974 stellt auch die OECD stets das Gleiche fest und fordert auch immer wieder Dasselbe. Da kann messmethodisch doch irgendetwas nicht stimmen, finden Sie nicht?

Inhalt
Artikel auf einer Seite lesen
© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%