Bildungsökonomie Vergesst die OECD!

Die Agenda des OECD-Berichts "Bildung auf einen Blick" hat sich in Ministerien und vielen Redaktionen durchgesetzt. Falsch bleibt sie trotzdem. Nicht immer mehr Akademiker, sondern die Qualität des Wissenschaftssystems sollte oberstes Ziel sein.

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So steht es um die deutsche Bildung
Ein Studium und eine gute Berufsausbildung zahlen sich in wirtschaftlichen Krisenjahren besonders aus. So gibt es für Akademiker und Meister in Deutschland laut dem aktuellen Bildungsbericht der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) nahezu Vollbeschäftigung. Nur 2,4 Prozent von ihnen waren in der Bundesrepublik 2011 erwerbslos - während es im Schnitt der 30 wichtigsten OECD-Industrienationen 4,8 Prozent waren. Aber selbst für EU-Krisenländer wie Griechenland und Spanien gilt: Je höher die Qualifikation, desto niedriger die Arbeitslosenquote. Quelle: dpa
Laut dem Bericht ist die Zahl der Studienanfänger in Deutschland zwischen 2005 und 2011 von 36 auf 46 Prozent eines Altersjahrganges gestiegen - im Schnitt der anderen Industrienationen im gleichen Zeitraum von 54 auf 60 Prozent. 28 Prozent der jungen Deutschen zwischen 25 und 34 verfügen über einen akademischen Abschluss (OECD-Schnitt: 39 Prozent). Quelle: dpa
Als besonders positiv für die Bundesrepublik wird der überdurchschnittliche Anstieg der Studienanfängerzahlen in naturwissenschaftlichen und technischen Fächern herausgestellt. Und bei den Abschlüssen in diesen Disziplinen dringen zunehmend Frauen nach vorn: So ist in den Naturwissenschaften der Anteil der weiblichen Absolventen innerhalb von zehn Jahren von 27 Prozent auf 42 Prozent (2011) gestiegen. Quelle: dpa/dpaweb
Viele Akademiker lohnen sich auch für den Staat: Pro ausgebildetem Akademiker erhält der Staat in Deutschland über das gesamte Lebenseinkommen gerechnet im Schnitt 115.000 Euro mehr an Steuern zurück als er in die Studienkosten investiert hat. Erstmals hat der OECD-Bericht auch Nebenaspekte wie die Gesundheit von unterschiedlich gebildeten Bevölkerungsgruppen untersucht. Danach neigen Akademiker seltener zu Fettsucht und rauchen auch deutlich weniger. Quelle: dpa/dpaweb
Und eine gute Ausbildung zahlt sich aus: Akademiker verdienten 2011 nahezu zwei Drittel mehr als Absolventen einer Lehre. Im Jahr 2000 waren dies erst 40 Prozent mehr. „Bei Spitzenqualifikationen hat die Bundesrepublik nach wie vor Nachholbedarf“, sagte OECD-Experte Andreas Schleicher. Dies schlage sich auch in den hohen Gehälter für Akademiker nieder. In Deutschland ist der Einkommensunterschied zwischen Akademikern und beruflich ausgebildeten Fachkräften in den vergangenen zehn Jahren laut OECD sprunghaft gestiegen, und zwar um 20 Prozentpunkte. Das ist mehr als in jeder anderen Industrienation. Quelle: dpa
Doch auch eine sehr gute Ausbildung schützt nicht vor Gehaltsunterschieden: In Deutschland verdienen Frauen nur etwa 74 Prozent des Gehalts der Männer. Besonders deutlich wird der Unterschied bei Spitzenfunktionen. So erhalten 43 Prozent der Männer mit akademischer Qualifikation mehr als das doppelte des Durchschnittseinkommens. Bei den Frauen sind dies hingegen nur 11 Prozent. Als eine mögliche Begründung verweist der Bericht darauf, dass 56 Prozent der Frauen mit akademischem Abschluss nur Teilzeit beschäftigt sind, während dies nur für 19 Prozent der Männer gilt. Quelle: dapd
Bei den Doktorarbeiten liegt Deutschland im weltweiten Vergleich an der Spitze. 2,7 Prozent eines Altersjahrganges schließen ihre akademische Ausbildung mit einer Promotion ab. Nur in der Schweiz (3,2 Prozent) und Schweden (2,8) werden mehr Doktorhüte vergeben. Quelle: dpa

Ereignisreiche Tage liegen hinter der Bildungsrepublik Deutschland. Die Nachrichten wurden weniger von Politikern produziert, als von den so genannten Bildungsökonomen. Da war unter anderem der "Chancenspiegel" der Bertelsmann-Stiftung und vor allem der alljährliche Bericht "Bildung auf einen Blick" der OECD.

Deren Botschaft ist seit einigen Jahren stets dieselbe, und durch dauernde Wiederholung hat sie sich offenbar auch vielen Nachrichtenjournalisten so sehr eingeprägt, dass sie sie ohne jede Distanz weiterverbreiten: "Deutschland hinkt bei der Zahl der Hochschulabsolventen vielen Industriestaaten hinterher", meldet zum Beispiel Reuters. Die Pressestelle der OECD und deren Bildungsökonomen um Andreas Schleicher werden sich freuen. Wenn Nachrichtenagenturen in ihren Meldungen den Spin der eigenen Verlautbarungen übernehmen, ist das der größte annehmbare PR-Erfolg. Wer hinterherhinkt, muss sich sputen. Genau das ist die Agenda der OECD und der meisten anderen Vertreter der Bildungsökonomik, ob Bertelsmann-Stiftung oder Stifterverband: Steigert den Anteil der höheren Bildungsabschlüsse!

Das Argument des obersten Bildungsökonomen der OECD, Andreas Schleicher, ist simpel und daher scheinbar überzeugend: Menschen mit Studienabschluss verdienen mehr und sind - zumindest in Deutschland - kaum arbeitslos. Ein Hochschulabsolvent verdient im Leben durchschnittlich 145.000 Euro mehr als jemand ohne Studium, nach Abzug aller direkten und indirekten Kosten. Also mehr davon! Wie ein Investor beim Aktienkauf, so solle auch der Staat seine Bildungsinvestition am Ertrag bemessen: "Für den deutschen Steuerzahler … gilt, dass er von jedem Hochschulabsolventen 156.000 Euro mehr an Steuern bekommt, als er an Steuergeldern in dessen Studium investiert. Es lohnt sich also für den Staat, in bessere Bildung zu investieren."

WirtschaftsWoche Uni-Ranking 2012

Ähnlich vereinfachend argumentiert auch der "Chancenspiegel: Als wichtigste Belege dafür, dass die "Chancengerechtigkeit … in den vergangenen zwei Jahren tendenziell verbessert" habe, nennen die Bertelsmann-Autoren: "Das Risiko, die Schule ohne Abschluss zu verlassen, ist gesunken und die Chancen, die Hochschulreife zu erwerben, sind in fast allen Bundesländern gestiegen." Ob hinter der formalen Studienberechtigung eine tatsächliche Studienbefähigung steht, ist den Autoren ganz offensichtlich egal.

Wenn alle jungen Menschen in Deutschland Abitur machten, wäre nach dieser absurden Logik der Bertelsmannschen Bildungsökonomen die absolute Gerechtigkeit erreicht. Tatsächlich kommen wir diesem Ziel mit großen Schritten näher: Die deutsche Studentenquote, also der Anteil der Studienanfänger an der gleichaltrigen Bevölkerung ist in nur fünfzehn Jahren von 28,1 (1996) auf 54,7 Prozent (2012) gestiegen. Wenn das so weitergeht, studieren in fünfzehn Jahren drei von vier jungen Menschen - und in dreißig Jahren alle.

Inflation der Bildungsabschlüsse

Wo die Schulen am besten sind
Schülerinnen schreiben am 28.02.2012 in einem Gymnasium in Frankfurt am Main ein Diktat Quelle: dpa
Schülerinnen und Schüler der Klassen drei und vier der Grundschule Langenfeld Quelle: dpa
SaarlandStärken: Im Saarland machen 51,9 Prozent das Abitur. Das ist über Bundesdurchschnitt und befördert das Land damit in die Spitzengruppe im Ländervergleich. Auch in puncto Integration ist das Saarland weit vorne: Nur 4,3 Prozent aller Schüler sind vom Regelschulsystem ausgeschlossen und werden in speziellen Förderschulen unterrichtet.Schwächen : Wirkliche Schwächen haben die Schulen beziehungsweise das Bildungssystem im Saarland laut dem Chancenspiegel nicht. In den einzelnen Bereichen der Kategorien Durchlässigkeit und Kompetenzförderung bewegt sich das Bundesland immer im Mittelfeld. So hat ein Kind auf einer sozial starken Familie eine dreimal höhere Chance, aufs Gymnasium zu gehen als ein Kind aus einer schwächer gestellten Familie. Das ist unschön, aber immer noch überdurchschnittlich gut. 15,9 Prozent aller Schüler in der Primar- und Sekundarstufe 1 besuchen eine Ganztagsschule (Bundesdurchschnitt: 26,9 Prozent). Ländervergleich: Untere Gruppe. Auch das Verhältnis 1:3,3 beim Wachsel der Schulform (pro Schüler, der von der Real- oder Hauptschule "aufsteigt", wechseln 3,3 Schüler vom Gymnasium auf die Realschule beziehungsweise von Real- zu Hauptschule) liegt noch unterhalb des Bundesdurchschnitts von 1:4,3. Auch im Lesen sind saarländische Schüler aud den vierten und neunten Klassen mittelmäßig. huGO-BildID: 25450255 ARCHIV - Schüler und Schülerinnen schreiben am 28.02.2012 in einem Gymnasium in Frankfurt am Main ein Diktat. Zu den Ergebnissen der Koalitionsrunde vom Wochenende gehört das Ziel, noch in dieser Wahlperiode eine Grundgesetzänderung zu erreichen, die das Kooperationsverbot von Bund und Ländern in der Bildungspolitik aufhebt. Foto: Frank Rumpenhorst dpa +++(c) dpa - Bildfunk+++ Quelle: dpa
Eine behinderte Schülerin sitzt am 01.11.2011 im Gebäude einer Integrierten Gesamtschule Quelle: dpa
Constanze Angermann steht vor dem Finale des Schreibkampfes "Frankfurt schreibt! - Der große Diktatwettbewerb" vor einer Tafel Quelle: dpa
 Ein Schulkind bearbeitet Schulaufgaben Quelle: dpa
Malstunde in der deutsch-chinesischen Kita im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg Quelle: dpa

Nach der Argumentation von Schleicher müssten wir davon ausgehen, dass die Arbeitsagenturen dann dicht machen und die Finanzämter von einem gewaltigen Steuersegen erfasst werden, der alle unsere Sorgen beseitigt. Da behaupte noch mal jemand, Ökonomen seien nüchterne Analysten! Was die OECD, Bertelsmann und andere Brutstätten der Bildungsökonomie verbreiten, ist eine bildungspolitische Heilslehre, die umso absurder wird, je stärker sich die praktische Bildungspolitik an ihr orientiert und auf diesem Weg fortgeschritten ist.

In einem völlig unterentwickelten Land ohne flächendeckende Bildungsinfrastruktur, wo also nur eine dünne Oberschicht ihren Kindern den Zugang zu höherer Bildung ermöglichen kann, ist es naheliegend, unter anderem das Ziel höherer Bildung für einen größeren Teil der Bevölkerung zu verfolgen und die Zahl der Studenten zu steigern.

Doch in einem Land, wo seit Jahrzehnten auch so genannten Arbeiterkindern die Pforten der höheren Schulen und Universitäten längst nicht mehr verschlossen sind, liegen die Dinge anders. Längst klagen in Deutschland Handwerksbetriebe und andere Anbieter nicht-universitärer Ausbildungen über einen Mangel an Bewerbern. Während gleichzeitig für kaufmännische Aufgaben, die noch vor ein oder zwei Generationen jedem Realschulabsolventen offenstanden heute ein BWL-Studium erwartet wird. Bedeutet das, dass die unstudierten Kaufleute in den 1950er oder 1960er Jahren weniger fähig waren? Wohl kaum. Vermutlich wussten und konnten sie mit einem guten Realschulabschluss oder Abitur und kaufmännischer Lehre genauso viel, wie heute ein BWL-Uni-Absolvent.

Inflation der Bildungsabschlüsse

Die Aufforderung von Ökonomen an die Bildungspolitik, die Zahl der höheren Abschlüsse zu erhöhen, ist in etwa so wie die Aufforderung an Zentralbanken, mehr Geld beizuschaffen. Dafür ist leicht gesorgt, solange sein Wert nicht stabil zu bleiben hat. Wenn alleine die Steigerung des Studentenanteils zum Erfolgskriterium erklärt wird - wie es OECD und Co seit Jahren tun - dann ist die Versuchung für Bildungspolitiker unwiderstehlich. Denn mehr Abiturienten und Uni-Absolventen erzeugt man recht einfach. Schulen können Abiturzeugnisse drucken wie Zentralbanken Papiergeld. Indem sie die Vorgaben für Lehrer zur Benotung entsprechend aufweichen können sie eine Inflation der Abschlüsse ankurbeln. Dann wird Schülern eben die Benutzung zweisprachiger Wörterbücher gestattet oder der Fehlerquotient bei Klassenarbeiten abgeschafft, oder gleich das Sitzenbleiben. Wenn aber weniger reale Kenntnisse hinter den Zeugnissen stehen, verlieren sie genauso an Wert wie ungedecktes Papiergeld.

Der Anteil der Menschen mit akademischem Abschluss sagt fast nichts über die Bildungsstandards und die ökonomische Leistungsfähigkeit eines Landes aus. Beim stichprobenartigen Vergleich von nationaler Akademikerquote und BIP pro Kopf oder Lebenszufriedenheit (laut Happy Planet Index) lässt sich jedenfalls kein eindeutiger Zusammenhang feststellen. Es genügt aber auch die einfache Betrachtung der guten wirtschaftlichen Position Deutschlands und der katastrophalen volkswirtschaftlichen und Arbeitsmarktsituation in den Südländern der Europäischen Union, die laut OECD teilweise (zum Beispiel Frankreich, Spanien und Griechenland) viel höhere Akademikerquoten aufweisen als Deutschland.

Auf die Forschung kommt es an

Bildung sei die entscheidende oder gar einzige Ressource in technisch fortgeschrittenen Volkswirtschaften. Dieses Mantra von Ökonomen, Politikern und Journalisten ist natürlich nicht falsch, aber auch nicht die ganze Wahrheit. Denn nicht nur Bildung, sondern Bildung und Forschung zusammen sind der Schlüssel zum ökonomischen Erfolg einer Gesellschaft. In Griechenland und den anderen Südländern der EU zum Beispiel mangelt es nicht so sehr an Studenten, sondern an Forschungseinrichtungen, also dem Humus, aus dem technische Innovationen und damit wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit erwachsen. In den arabischen Staaten wird das noch sehr viel deutlicher. Sie züchten an ihren Universitäten alljährlich ein Heer von Akademikern heran, doch in den Autorenlisten der angesehensten Fachzeitschriften - dem wichtigsten Indiz für exzellente Forschung - kommt die gesamte islamische Welt kaum vor. Forschungsleistungen, nicht Akademikerquoten sind ein untrüglicher Indikator für wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit.

Die beliebtesten Abschlüsse

Die Forschungsstärke wiederum hängt unmittelbar mit der Qualität der Bildung in Schulen und Universitäten zusammen. Nur wenn Bildungs- und Forschungssysteme eng miteinander verwoben sind, gedeiht die Wissenschaft und am Ende meist auch die Wirtschaft. Diese weitsichtige Erkenntnis von Wilhelm von Humboldt gerät in der aktuellen Bildungspolitik immer mehr in Vergessenheit. Nur aus Abiturienten, die wirklich zu einem wissenschaftlichen Studium befähigt sind, kann das Wissenschaftssystem die geeigneten jungen Forscher rekrutieren, die sein Rückgrat bilden. An Universitäten, die die Hälfte eines Geburtsjahrganges durch ihre Hörsäle schleusen, und dabei möglichst wenige Abbrecher zurücklassen sollen, wird diese Aufgabe schnell vernachlässigt.

Nicht die Zahl der Menschen mit irgendwelchen Abschlüssen ist das entscheidende Kriterium für die Güte eines Bildungssystems, sondern die tatsächlichen Kenntnisse und Fähigkeiten, die junge Menschen in diesem System erlernen. Dass die Gesamtheit dieser Kenntnisse mit dem statistischen Handwerkszeug des Ökonomen nicht eindeutig messbar und kaum vergleichbar sind, liegt eigentlich auf der Hand. Man müsste sich in den Ministerien nur trauen, die OECD und andere Bildungserbsenzähler daran zu erinnern.

Wie erfolgreich ein Bildungssystem tatsächlich ist, können allenfalls im Nachhinein die Historiker beurteilen. Dafür dass das humboldtsche System in Preußen und Deutschland wohl nicht ganz so schlecht war, spricht der große Erfolg der deutschen Wirtschaft vor 1914 und nach 1945. Davon profitierten übrigens nicht nur, wie Bildungsreformer uns weismachen wollen, die etwa zehn Prozent Abiturienten und Studenten, sondern auch Real- und Volksschüler, denen oft berufliche Chancen offenstanden, für die ihre Enkel heute ein abgeschlossenes Studium benötigen.

Hilfe für orientierungslose Bildungspolitiker

Es liegt auch auf der Hand, dass das deutsche Bildungssystem vor dem PISA-Schock und dem Bologna-Reformwahn nicht so katastrophal schlecht gewesen sein kann. Schließlich manövrieren diejenigen, die es durchlaufen haben, derzeit recht erfolgreich deutsche Unternehmen durch die internationale Krise und erwirtschaften die Rettungsmilliarden für manch eine Volkswirtschaft, deren höheren Akademikerquoten wir nach Ansicht der OECD hinterherhinken.

Doch das Offensichtliche genügt orientierungslos gewordenen Bildungspolitikern immer weniger als Handlungsgrundlage. Sie verlangen zunehmend nach scheinbar handfesten Kriterien, also zählbaren Belegen für die Richtigkeit politischer Entscheidungen. So ist der OECD-Bericht als "Orientierungshilfe" auch beim BMBF willkommen. Die exakten Zahlenwerke, die die OECD und ähnliche Organisationen liefern, ändern aber nichts daran, dass man tatsächlichen Bildungserfolg nicht wirklich messen kann.

Eine gute, verantwortungsvolle Bildungs- und Wissenschaftspolitik würde sich dadurch auszeichnen, dass sie den Zahlenwüsten der OECD und den unablässigen Reformimpulsen der „empirischen Bildungsforschung“ sehr viel weniger Aufmerksamkeit widmete, und der unmessbaren Qualität der Bildungsgänge dafür umso mehr.

Dass das passiert, ist nach den Erfahrungen der vergangenen Jahre leider höchst unwahrscheinlich. Der "Qualitätspakt Lehre", den Johanna Wankas Bildungsministerium heute auf einer eigens eingerichteten Programmkonferenz feiert, ist mit seinen 3.000 neu geschaffenen Stellen grundsätzlich zu begrüßen. Doch die Quantität der Dozenten allein ist eben gerade kein Garant für Qualität, wenn gleichzeitig die Prüfungsanforderungen für Abiturienten still und heimlich herabgesetzt werden. Aus Studenten, die nicht studierfähig von den Schulen kommen, machen auch neue Studienmodelle und Lehrformen keine Geistesgrößen.

Wenn von Qualität die Rede ist, führen meist "empirische Bildungsforscher" des "Instituts für Qualitätsentwicklung im Bildungswesen" das Wort, die am Qualitätsverfall und der Inflationierung des Abiturs selbst großen Anteil haben. Deren Fetisch, nämlich die in den meisten Lehrplänen fixierte so genannte Kompetenz-Orientierung, ist die Grundlage dafür, dass die Anforderungen an Schüler stetig nach unten und damit die Zahl der Abiturienten nach oben reguliert wurden. "Kompetenz" bedeutet im Zweifelsfall die Fähigkeit des Schülers, in der Aufgabenstellung die verschlüsselt enthaltene Antwort zu finden. Im Geschichtsabitur in Nordrhein-Westfalen zum Beispiel gibt es schon Punkte für das Abschreiben einer Jahreszahl.

Der Lackmustest für die Qualität des Abiturs wird die Umsetzung der Beschlüsse der Kultusministerkonferenz zur Einführung einer bundesweit gültigen Aufgabensammlung für die Prüfungen sein. Diese Standardisierung wäre eigentlich grundsätzlich zu begrüßen. Aber die Erfahrung lehrt, dass sich die KMK bei der Reform des Abiturs meist auf Kompromisse einigte, die allgemeine Qualitätseinbußen bedeuteten. Es ist also zu befürchten, dass das Abitur zwar einheitlicher, aber unterm Strich noch leichter werden wird.

In Hamburg und Bremen werden vermutlich nicht weniger Schüler Abi machen, sondern in Bayern und Sachsen-Anhalt mehr. Das vernünftige Ziel des Deutschen Philologenverbands - eine Angleichung der Standards nach oben - ließe sich nur erreichen, wenn sich die KMK zumindest auf stichprobenartige Überprüfungen der Einhaltung der Standards in allen Ländern einigen könnte. Das ist wünschenswert, aber unwahrscheinlich, weil es bedeutete, dass manche Länder eine niedrigere Abiturquote akzeptieren müssten. Für die OECD-gläubigen Kultusminister der Gegenwart eine undenkbare Zumutung.

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