Vor wenigen Tagen veröffentlichte die ARD die Ergebnisse einer Repräsentativbefragung, wonach die Verunsicherung angesichts der Flüchtlingsproblematik überdurchschnittlich groß bei Menschen mit geringem Bildungsniveau sei: 63 Prozent mit Volks- und Hauptschulabschluss sowie 55 Prozent mit Realschulabschluss gaben an, dass es ihnen Angst mache, wenn so viele Flüchtlinge nach Deutschland kommen. Demgegenüber teilten nur 33 Prozent der Menschen mit Abitur oder Fachhochschulreife diese Ängste. Die Botschaft liegt scheinbar auf der Hand: Bessere Bildung schützt vor Ängsten. So deutlich diese auf den ersten Blick erscheinen mag, so falsch und auch problematisch ist sie und auch die dazugehörige Erhebung auf den zweiten Blick:
Erstens wird suggeriert, dass Menschen mit einer besseren, weil höher qualifizierenden schulischen Bildung – die nicht gleichzusetzen ist mit allgemeiner Bildung! – einen besseren, weil weniger ängstlichen Wertekosmos besitzen. Nichts ist negativer konnotiert als Angst. Dass man damit jedem, der keinen höheren Schulabschluss besitzt, indirekt mitteilt, dass er selbst minderbemittelt ist, wird übersehen und ist gefährlich. Denn Ängste werden durch diese Botschaften nicht abgebaut. Ganz im Gegenteil: Wir wissen aus der Psychologie, dass die Negation und Abwertung von Befindlichkeiten dazu führen, dass diese weiter verfestigt werden.
Über das Mittelmeer nach Europa: Zahlen zu Flüchtlingen
Trotz der lebensgefährlichen Fahrt über das Mittelmeer wagen viele Tausend Menschen die Flucht nach Europa. 219.000 Menschen flohen laut Flüchtlingshilfswerk UNHCR 2014 über das Mittelmeer nach Europa; 2015 waren es bis zum 20. April 35.000.
3.500 Menschen kamen 2014 bei ihrer Flucht ums Leben oder werden vermisst; im laufenden Jahr sind es bis zum 20. April 1600.
170.100 Flüchtlinge erreichten 2014 über das Meer Italien (Januar bis März 2015: mehr als 10.100); weitere 43.500 kamen nach Griechenland, 3.500 nach Spanien, 570 nach Malta und 340 nach Zypern.
66.700 Syrer registrierte die EU-Grenzschutzagentur Frontex 2014 bei einem illegalen Grenzübertritt auf dem Seeweg, 34.300 Menschen kamen aus Eritrea, 12.700 aus Afghanistan und 9.800 aus Mali.
191.000 Flüchtlinge stellten 2014 in der EU einen Asylantrag (dabei wird nicht unterschieden, auf welchem Weg die Flüchtlinge nach Europa kamen). Das sind EU-weit 1,2 Asylbewerber pro tausend Einwohner.
...beantragten 2014 in der EU Asyl (2013: 50.000).
202.700 Asylbewerber wurden 2014 in Deutschland registriert (32 Prozent aller Bewerber), 81.200 in Schweden (13 Prozent) 64.600 in Italien (10 Prozent), 62.800 in Frankreich (10 Prozent) und 42.800 in Ungarn (7 Prozent).
Um 143 Prozent stieg die Zahl der Asylbewerber im Vergleich zu 2013 in Italien, um 126 Prozent in Ungarn, um 60 Prozent in Deutschland und um 50 Prozent in Schweden.
Mit 8,4 Bewerbern pro tausend Einwohner nahm Schweden 2014 im Verhältnis zur Bevölkerung die meisten Flüchtlinge auf. Es folgten Ungarn (4,3), Österreich (3,3), Malta (3,2), Dänemark (2,6) und Deutschland (2,5).
600.000 bis eine Million Menschen warten nach Schätzungen der EU-Kommission allein in Libyen, um in den nächsten Monaten die Überfahrt nach Italien oder Malta zu wagen.
Rückschlüsse sind sachlich nicht haltbar
Zweitens ignoriert die Darstellung der Ergebnisse, dass die Mehrheit der Befragten Ängste besitzt. Wenn wir großzügig davon ausgehen, dass jeweils ein Drittel der Befragten Volks- und Hauptschulabschluss, Realschulabschluss sowie Abitur oder Fachhochschulreife besitzen, dann führen die Daten dazu, dass 51 Prozent der Befragten Ängste haben. Das Verhältnis dürfte vor dem Hintergrund einer Repräsentativbefragung über die Generationen hinweg anders aussehen und einen größeren Anteil an Menschen mit Volks- und Hauptschulabschluss vorweisen.
Die sieben größten Ängste der Deutschen
41 Prozent fürchten sich vor einer schlechten Wirtschaftslage.
Quelle: R+V-Langzeitstudie „Die Ängste der Deutschen“
43 Prozent sorgen sich vor Spannungen durch Ausländer.
Skeptisch bewerten die Deutschen die handelnden Politiker: 44 Prozent haben Angst, dass diese überfordert sind.
47 Prozent fürchten sich vor schweren Erkrankungen.
Rund 2,5 Millionen Pflegebedürftige gibt es in Deutschland – Tendenz steigend. Dementsprechend hoch ist auch die Besorgnis der Deutschen, im Alter anderen als Pflegefall zur Last zu fallen. Mit 51 Prozent liegt dieses Thema gemeinsam mit der Furcht vor Naturkatastrophen auf Platz 2.
Überschwemmungen durch Starkregen, Hagel, Stürme: Mit 51 Prozent liegt die Furcht vor zunehmenden Naturkatastrophen auf Platz 2 der Ängste-Skala – gleichauf mit der Angst vor Pflegebedürftigkeit.
Die Furcht vor steigenden Lebenshaltungskosten steht mit 58 Prozent an der Spitze.
Drittens legen die Ergebnisse für viele einen ursächlichen Zusammenhang nahe, der nicht richtig ist, nach dem Motto: Wenn jemand einen höheren Bildungsabschluss besitzt, dann verfügt er über einen besseren Wertekosmos. Und viele stimmen gleich ein: Wir brauchen mehr Akademiker! Allein ein Blick, gerade auch in die deutsche Geschichte, kann zeigen, dass dieser Schluss sachlich nicht haltbar ist.
Angst entsteht, wenn Menschen um ihren Status fürchten
Der Philosoph Max Müller hat in seinen Schriften immer wieder auf den hochgebildeten NS-Arzt verwiesen, der Versuche an Juden durchführt. Und auch wissenschaftsmethodisch ist das falsch, weil in den meisten Erhebungen, so auch in der von der ARD veröffentlichten, nur Korrelationen, also lineare Zusammenhänge erhoben werden und keine ursächlichen Zusammenhänge. Einzig und allein bleibt festzuhalten, dass, je höher das schulische Bildungsniveau ist, desto weniger Angst vor Flüchtlingen die Folge ist.
Allerdings ist auch dieser Schluss mit Vorsicht zu genießen, weil aus zahlreichen sozialwissenschaftlichen Forschungen hinlänglich bekannt ist, dass es Prädiktoren und Moderatoren in Erhebungen gibt. Erstere sind verantwortlich für einen Zusammenhang, letztere aber nicht, obschon diese den Ausgang einer Befragung beeinflussen können und insofern unter Umständen ein linearer Zusammenhang messbar ist. Übertragen auf die hier zu diskutierenden Ergebnisse wäre die entscheidende Frage, ob das schulische Bildungsniveau ein Prädiktor oder ein Moderator für Ängste gegenüber Flüchtlingen ist. Angesichts der Vielzahl an Befragungsergebnissen im Bereich der Sozialwissenschaften und der Komplexität menschlichen Denkens und Handelns ist Letzteres plausibler als Ersteres.
Reiche können sich Umweltschutz leisten, Arme haben kein Geld für Umweltverschmutzung
Beispielsweise weisen Studien nach, dass es zwischen sozioökonomischen Status und Umweltverhalten einen linearen Zusammenhang gibt, der auf einem Prädiktor-Variablen-Verhältnis beruht und dann auch überraschenderweise zu einer Parabelform führt, wohingegen das schulische Bildungsniveau als Moderator fungiert, aber eben nur bedingt: Menschen mit hohem sozioökonomischen Status und Menschen mit geringem sozioökonomischen Status weisen die besten Werte im Hinblick auf ihr Umweltverhalten auf, wohingegen die breite Masse als die größten Umweltsünder bezeichnet werden kann.
Warum? Weil Menschen mit hohem sozioökonomischen Status sich viel leisten können, so auch kostspielige Maßnahmen für den Umweltschutz und aufgrund ihres Bildungsniveaus auch darüber informiert sind, und Menschen mit geringem sozioökonomischen Status sich nicht einmal das leisten können, was zu Umweltbelastungen und Umweltzerstörungen führt, nahezu unabhängig von ihrem Bildungsniveau.
Vor diesem Hintergrund liegt die Vermutung nahe, dass schulische Bildungsabschlüsse kein Prädiktor von Angst gegenüber Flüchtlingen sind, sondern vielmehr ein Moderator, der den linearen Zusammenhang von sozioökonomischen Status einerseits und Ängsten vor Flüchtlingen andererseits beeinflusst. Denn es steht außer Frage, dass der sozioökonomische Status in einem Zusammenhang mit dem schulischen Bildungsabschluss steht. Und ebenso steht außer Frage, dass Ängste bei Menschen entstehen, wenn sie um ihren sozioökonomischen Status fürchten. Dass der Flüchtlingsstrom die wohlhabenderen in einer Gesellschaft kaum in ihrem Leben einschränkt, ist offensichtlich. Dass er aber jene Menschen, die selbst schon am Rande des Existenzminimums leben, verunsichert, liegt ebenso auf der Hand. Das ist für den arbeitslosen Volksschulabsolventen ebenso zu befürchten wie für den arbeitslosen Akademiker.
Streng genommen sind aber selbst die angestellten Überlegungen mit Vorsicht zu bewerten – sie sollten aber die Komplexität des Problems verdeutlichen. Denn letztendlich dürfte zur abschließenden Beantwortung der Frage nach den Ängsten gegenüber Flüchtlingen weder der schulische Bildungsabschluss, noch der sozioökonomische Status alleine ausreichen. Vielmehr wäre ein Blick auf das dahinterliegende Milieu, wie es beispielsweise in den Sinus-Studien aufgegriffen wird, aufschlussreich, um auch Wertungen, Haltungen und Einstellungen in den Blick zu nehmen. Denn häufig sind es divergierende Weltsichten, die über Ängste entscheiden.
Angesichts dieser Überlegungen ist wieder einmal die naive Präsentation von Befragungsergebnissen gefährlich, weil sie schnell zu falschen Schlussfolgerungen führen kann. Die breite Masse der Bevölkerung ist zu einer entsprechend differenzierten Betrachtung nicht vorbereitet. Journalismus sollte es aber sein. Allein schon wegen der Verantwortung, die er für die Gesellschaft hat. Das Flüchtlingsproblem wird mit einfachen Botschaften nicht gelöst, womöglich weiter verschärft. Es erfordert aufgrund der Komplexität höchste Sensibilität auf allen Seiten. Dass hohe Bildungsabschlüsse hilfreich sein können, soll nicht in Abrede gestellt werden, aber sie alleine werden nicht helfen.