Auf den ersten Blick erscheint die Reduzierung der Gymnasialzeit um ein Jahr - G8 statt G9 - eher nebensächlich. Einige neue Bundesländer und fast alle Staaten um uns herum und in der Welt lassen die Schulzeit nach insgesamt zwölf Jahren enden. Nur wir Deutschen haben bisher mehrheitlich an dreizehn Jahren festgehalten.
Was steht bei der so marginal scheinenden Kürzung der Schulzeit um ein Jahr auf dem Spiel?
Es gilt die Vereinbarung der Kultusminister, dass die Schüler nach acht Jahren auf dem gleichen Leistungsstand sein sollen wie nach neun Jahren. Was bis vor wenigen Jahren nur hochbegabten „Turbo“-Abiturienten vorbehalten war, nämlich das Ablegen des Abiturs nach acht Jahren, gilt nun für alle. Hatten die ehemaligen „Turbo“-Schüler seinerzeit den elften Jahrgang übersprungen, so müssen heute sämtliche Schüler die Stunden des entfallenen Jahres in den zuvor unterrichtsfreien Nachmittagen ihres gymnasialen Schülerlebens ableisten, verteilt auf die verbleibenden acht Jahre.
Tipps für Studienplatzbewerber
Abiturienten, die örtlich oder deutschlandweit zulassungsbeschränkte Fächer studieren wollen, sollten sich schon vor der Bewerbung bei der Hochschule oder der Stiftung Hochschulzulassung (hochschulstart.de) über die Chancen einer Kapazitätsklage informieren.
Die Widerrufsfrist auf dem Ablehnungsbescheid von Hochschulstart ist nicht maßgeblich für eine Kapazitätsklage. Hier gelten eigene Fristen, die sich je nach Bundesland und Fach unterscheiden und sich oft ändern.
Ein "regulärer" Widerspruch gegen den Ablehnungsbescheid von Hochschulstart hat sehr viel geringere Aussichten als Kapazitätsklagen. Denn beim Widerspruch geht es nur um die gemeldeten Studienplätze. Eine Kapazitätsklage versucht, zusätzliche Plätze ausfindig zu machen.
Eltern, Lehrern und Schulbehörde entgeht der Stress nicht, der durch die Neuerung entstanden ist, doch da eine Rücknahme der Reform für die Hardliner nicht in Frage kommt, greifen sie auf Praktiken zurück, die jedem kritischen Betrachter die Haare zu Berge stehen lassen.
Fetischisierung der Noten
Wie weiland in der DDR werden diejenigen Kollegen von Schulleitung und Schulbehörde hofiert, die „gute“ Ergebnisse liefern, sprich: gute Noten produzieren. Welche tatsächlichen Leistungen die Noten spiegeln, wird nicht hinterfragt. Befeuert wird die Fetischisierung der Noten durch landesinterne Rankings der Schulen und die demographisch bedingte Abnahme der Schülerzahlen, welche die Schulen in schärfere Konkurrenz gegeneinander stellt. Kein Schulleiter, der in seiner Schule einen guten Schnitt erreicht hat, wird daher versäumen, dies stolz bei den Abiturfeierlichkeiten zu verkünden! Und natürlich hat er vorher darauf hingewirkt, dass seine Lehrer die guten Noten auch liefern! Die sogenannte „eigenverantwortliche“ Schule, die Schulleitern neuerdings Einfluss auf Einstellung und Beförderung von Lehrern gibt, verleiht seinem Wirken den nötigen Nachdruck. Wenn dann später bei Einstufungstests an der Uni im Fach Englisch 800 von 1.200 Abiturienten durchfallen, ist das nicht mehr sein Bier.
Wie erreicht ein Lehrer gute Notenschnitte? Nun, er greift, etwa in den Fremdsprachen, grundsätzlich nicht unterstützend und korrigierend in die Äußerungen der Schüler im Unterricht ein, sondern er lässt sie reden, selbst wenn sie elementare Fehler aneinander reihen. Bewertet wird dann primär die Länge der gemachten Äußerung. Nur noch nachrangig geht es um grammatische Korrektheit, logische Konsistenz und differenzierten Ausdruck, sondern vorrangig um sogenannte „Kommunikationskompetenz“. Das bedeutet die Fähigkeit, möglichst lange am Stück zu reden. Ein Schüler weiß grundlegende Vokabeln zu einem Thema nicht? Macht nichts, der Lehrer „gibt sie herein“, bevor eine Unterrichtseinheit beginnt. Der Schüler muss nicht wissen, es genügt, dass er „kompetent“ ist, also selbstbewusst ohne Pause am Stück reden kann. Aus dem passiven Lehrerverhalten folgt, dass zahlreiche so unterrichtete Schüler in den Fremdsprachen nicht mehr über den Grundwortschatz verfügen, dass sie die Formen der wichtigsten unregelmäßigen Verben nicht mehr beherrschen, dass sie nicht mehr wissen, was es heißt, selbstkritisch an Stringenz und Stil ihrer Äußerungen zu feilen. Ein älterer Kollege brachte es einmal sarkastisch auf den Punkt, als er aus einer unerquicklichen Englischstunde ins Lehrerzimmer zurückkehrte: „Die Schüler sollen heute zwar alles können, aber sie brauchen nichts mehr zu wissen. Leider können sie dann auch nichts mehr.“
Die Tricks zur Hebung des Notendurchschnitts
Es trifft sich gut für diejenigen, die als didaktische Innovatoren das große Wort führen, dass Können sich im Gegensatz zu Wissen flexibler bewerten lässt. Wenn ein Schüler etwa zwei Minuten am Stück in der Fremdsprache redet, zeugt das in den Augen „innovativer“ Didaktiker und Kollegen ungeachtet sprachlicher und inhaltlicher Mängel bereits von positiv zu bewertender „kommunikativer Kompetenz“. Die Politik unterfüttert solche Denkweise mit Formulierungen wie: „Die Lehrpläne müssen … auf den Erwerb von Kompetenzen statt überflüssigem Detailwissen fokussiert“ werden (Wahlprogramm der FDP in NRW von 2010). Eine sprachliche Leistung, die in einem wissensorientierten Unterricht wahrscheinlich mit „ausreichend“ bewertet würde, kann so in kompetenzorientiertem Unterricht ohne weiteres zu einem „Befriedigend“ oder „Gut“ mutieren.
Ein weiterer Trick zur Hebung des Notenschnitts besteht darin, dass der Lehrer bei der Bewertung schriftlicher Arbeiten nicht mehr wie früher alle Fehler registriert, nach Schwere gewichtet und dann eine Gesamtbeurteilung vornimmt, sondern dass er Punkte vergeben muss, und zwar ausdrücklich für isolierte Fertigkeiten. Dieses Verfahren zwingt ihn zum Beispiel, aus einer Grammatikaufgabe alle Rechtschreibfehler, aus einem Aufsatz sämtliche Grammatik- oder Rechtschreibfehler oder beide zusammen aus der Wertung herauszunehmen. Darüber hinaus kann er anspruchsvolle Einzelaufgaben mit wenigen Punkten, einfachere mit vielen Punkten versehen. Auf diese Weise wird es auch dem schwächeren Schüler möglich, viele Punkte zu sammeln, und der Lehrer zaubert aus einer nach alter Wertung mit „mangelhaft“ zu bewertenden Arbeit ein „Befriedigend“. Ich erinnere mich an Eltern, die aus allen Wolken fielen, als ich ihnen erläuterte, warum das Zählen von Fehlern als Grundlage von Bewertungen aus der Mode gekommen ist.
Verschiebung des Notenbilds
Als letzter Trick sei ein „innovatives“ Verständnis der Notenskala genannt. War früher die „Eins“ die Bestätigung einer absoluten Spitzenleistung, wird sie inzwischen für ein breites Band guter Leistungen unterhalb der Spitze vergeben. Daraus folgt, dass auch für die „Zwei“ und „Drei“ mehr Raum bleibt. Das Notenbild verschiebt sich also nach oben.
Die hier genannten Tricks sind bereits über etliche Jahre hinweg im Zuge der Globalisierung implementiert worden, um möglichst vielen Schülern ein - vermeintlich - hohes Bildungsniveau in Form des Abiturs zu vermitteln und um zu verhindern, dass Deutschland von aufstrebenden Ländern in internationalen Statistiken abgehängt wird. Die FDP in NRW formuliert entsprechend in ihrem Parteiprogramm, dass die Beratung von Eltern zur Schulkarriere ihrer Kinder „zielgerichtet auf den Aufstieg“ ausgerichtet werden solle, gemeint ist: in Richtung Gymnasium und Abitur.
Ich will nicht in Abrede stellen, dass all dies gut gemeint ist. Allerdings kann das Gymnasium den Andrang von Schülern schon seit Jahren nur unter Zuhilfenahme hier beispielhaft genannter Tricks eher schlecht als recht bewältigen. Dass neuerdings nun auch noch ein Jahr weniger zur Verfügung steht, erhöht den Druck, das Spiel des Lehrens und Lernens mit gefügigen oder gefügig gemachten Lehrern in eine neue Runde zu schicken - mit noch mehr „innovativer“ Didaktik und noch „schülerfreundlicheren“ Bewertungsprinzipien. Für viele Lehrer eine Horrorvision, für viele Gymnasiasten vielleicht eine Glücksperspektive, da sie ihrem mit Schule zugepflasterten Alltag ein Jahr früher entkommen.