Nordrhein-Westfalen Abitur 2012: Die Konkurrenz ist jung

2013 werden in Nordrhein-Westfalen zwei Jahrgänge gleichzeitig die Schulen verlassen. Auf vielen Internetseiten wird die Problematik diskutiert. Doch niemand denkt an den Jahrgang von 2012, der sich gegen eine wesentlich jüngere und schon viel gelobte Konkurrenz durchsetzen muss.

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2013 werden in Quelle: AP

Carsten Gassen ist ein "G8-Kind" und damit einer von vielen Schülern über die man sich zur Zeit in Nordrhein-Westfalen besonders die Köpfe zerbricht. Er ist einer von den Schülern, die 2013 in NRW zum ersten Mal das Abitur nach nur acht Jahren Gymnasium machen werden. Er ist Teil des Doppeljahrganges in Nordrhein-Westfalen, der aus den Schülern besteht, die als letzte nach 13 Jahren Abitur machen (G9), und aus den ersten, die nach zwölf Jahren ihr Reifezeugnis erhalten werden. In Internet  und Presse wird beklagt, was den ersten G8-Schülern angetan wird: 35-Stunden-Woche, die doppelte Anzahl an Konkurrenten um einen Studien- oder Ausbildungsplatz und die ewige Frage, ob dabei nicht die für die Sozialisation so wichtige Kindheit auf der Strecke bleibt. "Den Schülerinnen und Schülern wird ein Stück Kindheit genommen", urteilte der bayerische Landessportverband bei der zweiten Anhörung zu G8. "Bildung braucht Zeit und ist auch eine Frage der geistigen Reife. Das funktioniert nicht unter Zeitdruck", meint die Mutter eines G8-Kindes, die selbst Lehrerin ist.

Alle sorgen sich um den Doppeljahrgang von 2013 und um die folgenden Jahrgänge mit G8. Doch an die künftigen Schulabgänger des Jahres 2012 scheint niemand zu denken - das letzte Jahr Abitur mit normalen Absolventenzahlen in NRW vor dem Doppeljahrgang. Kim Bytomski und Anna Büldt sind Schüler dieses Jahrganges. Dass sich Anna, Kim und ihre Mitschüler dem doppelten Ansturm früher oder später stellen müssen, ist offenbar nicht allen klar.

"Natürlich mache ich mir Gedanken, dass es besser ist, nicht in den Doppeljahrgang hinein zu kommen, weil dann die Chance auf einen Ausbildungs- oder Studienplatz verringert wird", erklärt Anna. Vielleicht werden sich die Wege von Carsten und der zwei Jahre älteren Anna nicht direkt an der Universität oder der Ausbildungsstelle kreuzen. Vielleicht dauert es so lange, bis sie auf Stellensuche auf dem Arbeitsmarkt gehen.

Die Reduzierung der Schulzeit auf zwölf Jahre führt bundesweit zu einer temporär erhöhten Nachfrage nach Studienplätzen und Lehrstellen. 2012 verlassen die Doppeljahrgänge von Baden-Württemberg, Bremen, Berlin und Brandenburg die Schulen. Nach Berechnungen der Kultusministerkonferenz, des statistischen Bundesamtes und des Bundesinstituts für Berufsbildung werden 2012 rund 864.000 Schüler die allgemein bildenden Schulen verlassen. Eine sehr große Konkurrenz für Kim und Anna.

"Das wird der Markt regeln müssen. In Deutschland gibt es viele Hochschulen, an denen genügend Plätze frei sind. Da müssen die Abiturienten auch mal über Nordrhein-Westfalen hinaus blicken und dort einen Studienplatz annehmen“, empfiehlt Regine Schwarzhoff, Vorsitzende des Elternvereins des Landes Nordrhein-Westfalen. Die Statistik sagt etwas anderes: Rund 81 Prozent der NRW-Abiturienten bleiben jedoch auch zum Studieren im eigenen Bundesland. Doch der Rat ist keine Lösung angesichts des Studienplatzmangels im bevölkerungsreichsten Bundesland. Die Doppeljahrgänge der anderen Bundesländer werden diese Hochschulen voraussichtlich schon gänzlich auslasten.

"Ich hätte nichts dagegen, außerhalb von NRW zu studieren. Bei mir hängt es aber auch von der Stadt ab, denn ich möchte nicht so gerne an einer 'Massenuni' studieren", überlegt Anna. Carsten sieht das völlig entspannt: " Ich würde gerne in Amerika studieren. Wenn ich in Deutschland bleiben müsste, wäre es auch kein Problem für mich, außerhalb von Nordrhein-Westfalen zu studieren. Wenn es sein muss." Aber nicht jeder kann ein Leben weg von der Familie finanzieren.

Das Problem betrifft jdeoch nicht nur Gymnasiasten, sondern auch Abgänger von Real-, Gesamt- und Hauptschulen. "Das Problem wird sich 2013 eher für Haupt- und Realschüler stellen, die angesichts der doppelten Abiturientenmenge deutlich schlechtere Chancen auf dem Ausbildungsmarkt haben werden", meint Clemens Urbanek, Geschäftsführer der Abteilung Berufsbildung und Prüfungen der Industrie- und Handelskammer (IHK) Düsseldorf. Dieser Verdrängungswettbewerb wird sich vermutlich auch noch in der Zeit nach der Ausbildung fortsetzen, wenn die jungen Leute eine Anstellung suchen.

Zusätzliches Engagement eher hinderlich?

Durch freiwilliges soziales Jahr, Praktika oder Auslandsaufenthalte qualifizieren sich viele Schulabgänger zusätzlich für einen Arbeitsplatz. "Natürlich machen solche besonderen Aktivitäten einen guten Eindruck, zumal wir beispielsweise in unserer Ausbildung Aufenthalte bei in- und ausländischen Tochtergesellschaften integrieren", sagt Heidi-Marie Maier, stellvertretende Pressesprecherin des Werkzeugherstellers Trumpf in Ditzingen bei Stuttgart. Doch solch zusätzliches Engagement dürfte für den Abiturjahrgang von 2012 eher hinderlich als sinnvoll sein. "Ich hatte vor, für ein halbes Jahr nach Amerika zu gehen. Aber wenn ich sehe, was im Moment auf dem Arbeitsmarkt los ist, weiss ich noch nicht, ob ich das wirklich tun soll", meint Kim.

Durch den Auslandsaufenthalt würde sie in den "Doppelansturm" von 2013 geraten. "Auch deshalb überlege ich mir das mit dem Auslandsaufenthalt noch", fügt sie hinzu, "da es in dieser Zeit schwierig sein wird, einen Ausbildungsplatz zu bekommen." Für Schüler wie Carsten bieten diese Möglichkeiten die optimale Chance, aus dem Doppeljahrgang "auszubrechen" und sich noch einen Pluspunkt für später zu sichern. Er hält solche und andere Qualifikationen jedenfalls für sinnvoll: "Ich glaube, solche Dinge werden wichtig sein um einen Arbeitsplatz zu bekommen. Man unterscheidet sich von den anderen und wird deshalb vielleicht eher genommen."

Kims und Annas Jahrgang steht vor einem goßen Problem: Sie und ihre Mitschüler müssen gegen jüngere Konkurrenz kämpfen, die in kürzerer Zeit ähnliche Leistungen erbringen soll. Für die Unternehmen stellt dies alles offenbar kein großes Problem dar: "Wir werden da keinen Unterschied machen. Alle Kandidaten für eine Ausbildung bei Henkel müssen unser Einstellverfahren positiv durchlaufen und unseren Anforderungen genügen. Die konkrete Anzahl von Schuljahren ist nich ausschlaggebend", erklärt Loert de Riese-Meyer, Ausbildungsleiter bei Henkel. "Wir haben ein Auswahlverfahren etabliert, das sowohl fachliche wie auch soziale Kompetenzen berücksichtigt. Die Anforderungen an unsere Auszubildenden durch den G8-Zug verändern sich nicht", erläutert Maier. Doch es stellt sich die Frage, ob und wie sich die Einstellung der Unternehmen ändern wird, wenn beispielsweise 2011 die Doppeljahrgänge von Bayern und Niedersachsen auf den Ausbildungsmarkt kommen.

Ein Vorteil der G8-Schüler scheint zu sein, dass sie schon früh lernen mit hohem Druck und langen "Arbeitszeiten“ umzugehen. Der Jahrgang 2012 wird zwangsweise ein Jahr länger brauchen, um sich gleichwertiges Wissen anzueignen. "Beide haben ihre Vorteile: G8-Schüler sind noch jünger, die G9-Schüler hatten eine längere Bildungsphase", fasst Anna das Problem zusammen. "Die Wirtschaft wird die Bewerber nehmen, die am besten geeignet sind: Die Leistungsstarken aus beiden Jahrgängen", meint Clemens Urbanek von der Düsseldorfer IHK. "Ob zwölf oder 13 Jahre bis zum Abitur ist dabei egal."

Die Schaffung zusätzlicher Ausbildungsplätze, um sich den Doppeljahrgängen anzupassen, haben Unternehmen wie Henkel allerdings bislang nicht in Betracht gezogen. "Damit haben wir uns noch nicht konkret beschäftigt. Die jährliche Anzahl an Ausbildungsplätzen richtet sich nicht allein nach dem Markt, sondern vielmehr nach den aktuellen Anforderungen des Unternehmens", erklärt de Riese-Meyer von Henkel. Bei Trumpf könne man dazu nach Auskunft der stellvertretenden Pressesprecherin derzeit noch keine Aussage machen. Doch Experten warnen: Dies könnte zu einem Mangel an Ausbildungsplätzen führen.

Schlauer werden durch ein Jahr mehr?

Der Druck auf Anna und ihre Mitschüler ist vor diesem Hintergrund und mit den Aussichten auf einen kommenden Konkurrenzkampf groß: Einige Lehrer würden diesen Konkurrenzkampf schon jetzt unbewusst dadurch schüren, dass sie vor ihren Schülern Vergleiche ziehen zwischen den G8-Klassen und den Schülern, die noch G9 machen müssen, bemängeln Anna und ihre Klassenkameraden. Die G8er würden als diziplinierter und leistungsbereiter gelten, würden ihre Hausaufgaben angeblich öfter und sorgfältiger anfertigen und lernen schneller - trotz des Drucks, der auf ihnen lastet. Das Wissen, dass die jüngeren Schüler besser sind, helfe niemandem weiter, sagt Anna. Für sie wirkt es nur demotivierend und frustrierend.

Auch einigen Lehrern ist aufgefallen, dass die Schulen den Jahrgang von 2012 offenbar nicht ausreichend fördern. Nach Aussagen einiger Gymnasiallehrer werden zwar zusätzliche Qualifikationsmöglichkeiten für die G8-Schüler angeboten, nicht jedoch für die G9-Absolventen. Dieser Mangel an Unterstützung der Schüler durch die Schulen unterscheide die "Konkurrenzjahrgänge" zusätzlich voneinander, heißt es.

Viele Schüler erkennen das volle Ausmaß des Problems, das auf sie zukommt, noch gar nicht. "Ich denke nicht, dass ich Probleme bekommen werde, denn wenn ich ein gutes Zeugnis habe, dann werde ich auch einen Ausbildungsplatz bekommen", meint Kim optimistisch. Die Tatsache, dass sicherlich auch Schüler aus dem Jahrgang 2013 sehr gute Abiturzeugnisse haben werden, wird oftmals übersehen oder einfach ignoriert. Viele ihrer Mitschüler hoffen, dass sie durch die längere Zeit, die ihnen zum Lernen bleibt, auch "schlauer werden" als die G8-Schüler. Doch wenn alles nach dem Plan der Landesregierung geht, wird der Wissensstand der G8-Schüler nach ihrem Abschluss auf dem gleichen Niveau sein wie der der G9-Absolventen.

Den Schülerinnen und Schülern des Abiturjahrganges 2012 fehlt besonders eines: Unterstützung und Hilfe. "Die Konkurrenz ist groß und viele von uns fühlen sich nicht genügend unterstützt. Manchmal fühlt man sich richtig allein gelassen mit allem. Viele haben Angst spätestens bei der Arbeitssuche unterzugehen. Besonders für die schwächeren Schüler sollten zusätzliche Fördermaßnahmen erlassen werden, damit die nicht durch Wiederholen in den Doppeljahrgang rutschen", fordert Anna.

*) Die Verfasserin besucht derzeit die 13. Klasse des Gymnasiums Norf in Neuss.

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