Plurale Ökonomen Neue Lehren für die Volkswirtschaft

Mit Piketty zum Papierflieger: Onlinelehrbuch will die VWL modernisieren. Quelle: Getty Images

Ein von George Soros unterstütztes Onlinelehrbuch soll die VWL modernisieren. Viele deutsche Studenten sind aber auch damit unzufrieden.

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Für rund 400 Ökonomiestudenten der Berliner Humboldt-Universität verlief der Einstieg in die Volkswirtschaftslehre im vergangenen Semester ziemlich ungewöhnlich. Im Audimax der Hochschule hielt ihr Professor Nikolaus Wolf sie an, Papierflieger zu basteln. Der Wirtschaftshistoriker bildete mehrere Teams mit wechselnder Personenzahl und ließ sie gegeneinander antreten. Wolf wollte den Studenten das Phänomen abnehmender Grenzerträge bei steigendem Arbeitseinsatz verdeutlichen. Mit Erfolg: Bekam eine Gruppe zusätzliches Personal, stieg die Produktion der Papierflieger im Hörsaal nur unterproportional an.

Die Idee zu der akademischen Bastelstunde stammte nicht von Wolf, sondern aus einem neuen Lehrkonzept, das er für seine Vorlesung nutzt. Das Projekt nennt sich „Curriculum Open Access Resources in Economics“, kurz Core. Dabei handelt es sich um ein kostenlos nutzbares Onlinelehrbuch, das am University College London (UCL) unter Führung der Volkswirtschaftsprofessorin Wendy Carlin konzipiert worden ist. „Core schafft es auf eine neue und innovative Art, Studierende an die Volkswirtschaftslehre heranzuführen“, lobt Wolf.

Das interaktive Lehrbuch beschreibe „nicht nur idealtypische Modelle, sondern konfrontiert die Theorie durch plastische Beispiele und wirtschaftshistorische Bezüge mit der Realität“. Im Gegensatz zu traditionellen Lehrbüchern spiele auch die ökonomische Ideengeschichte eine große Rolle.

Core richtet sich an Studienanfänger, aber nicht nur an sie. Das Projekt ist ein Reflex auf die anhaltende Legitimationskrise der Volkswirtschaftslehre, die sich stark an der Neoklassik und an ihre abstrakten Modelle und Methoden anlehnt. Die VWL seit den Achtzigerjahren, so die Kritiker, sei zu realitätsfern und habe die Warnsignale vor der Finanzkrise übersehen. Der Rückgang der Studentenzahlen sei nicht zuletzt eine Reaktion auf die staubtrockene und übermathematisierte Vermittlung ökonomischen Wissens an vielen Hochschulen.

„Wir müssen die Ökonomie in einen sozialen Kontext stellen – und viel stärker auf Themen wie Ungleichheit, Globalisierung, Migration und Umweltprobleme wie den Klimawandel eingehen“, sagt Core-Chefin Carlin. Es gelte, bei jungen Leuten einen neuen Enthusiasmus für das zu wecken, was die Wirtschaftswissenschaften zum Verständnis der Welt beitragen können.

VWL-Student Daniel Obst vom Netzwerk Plurale Ökonomik Quelle: David Klammer für WirtschaftsWoche

Wie das geht? Das erste Kapital von Core („Die kapitalistische Revolution“) etwa beschreibt die historischen Wurzeln der Ungleichheit. Es folgen 19 weitere Abschnitte, unter anderem über technologischen Wandel, Wachstum und Verhaltensökonomie – Themen, die alle angehen. Mafia und Piratenschiffe dienen als Anschauungsmaterial, Videos mit Beiträgen von prominenten Ökonomen wie James Heckman oder Thomas Piketty lockern den Lehrstoff auf. Auch mathematische Modelle werden vermittelt. Nur kommen sie bei Core interaktiv daher, sind in den Text eingestreut, kenntlich gemacht mit einem Button.

20 Wissenschaftler aus aller Welt waren als Autoren an Core beteiligt, rund 300 weitere stellten kostenlos Material zur Verfügung.

Core ist ein Spendenprojekt und hat bisher knapp eine halbe Million Pfund gekostet. Insgesamt liegt der Finanzrahmen bei knapp 1,5 Millionen Pfund. Auf der Geberliste stehen unter anderem das britische Finanzministerium und die Bank of England, ein wichtiger Finanzier ist auch, wenn auch auf indirektem Wege, der Hedgefondsmilliardär George Soros. Das von ihm mitgegründete Institute for New Economic Thinking (Inet) hat 426.000 Pfund bereitgestellt, die ebenfalls von Soros gegründeten Open Society Foundations spendierten weitere 480.000 Pfund.

Soros? Ausgerechet der zum Philanthropen gewendete Erzkapitalist, dessen Spekulation gegen das britische Pfund Anfang der Neunzigerjahre fast das Europäische Währungssystem zum Einsturz brachte, will Studenten eine neue Sicht auf die Wirtschaft vermitteln? Wendy Carlin kann bei entsprechenden Nachfragen ziemlich resolut werden. Soros entscheide „weder bei Inet noch bei den Open Society Foundations über die Vergabe von Spendengeldern“. Er habe auch niemals inhaltlichen Einfluss auf das Core-Projekt genommen: „Core ist unabhängig von seinen Geldgebern.“

Zwar bestreitet sie nicht, 2010 bei einem Ökonomentreffen dabei gewesen zu sein, zu dem Soros geladen hatte. „Doch die Core-Idee wurde erst mehrere Jahre später geboren.“

Resonanz aus der Fachwelt

Mit der bisherigen Resonanz aus der Fachwelt ist Carlin zufrieden. Rund 35.000 Menschen haben sich das E-Book bereits heruntergeladen; weltweit sind rund 2800 Lehrkräfte auf der Website registriert, darunter mehr als 400 aus Deutschland. Wie viele Institutionen Core tatsächlich einsetzen, kann Carlin allerdings nicht beziffern. Zu den bekannten Beispielen zählen neben der Londoner UCL und der HU Berlin die Pariser Sciences Po und die Universitäten von Toulouse, Manchester und Siena.

2016 konnte Carlin auf der Jahrestagung des Vereins für Socialpolitik (VfS), der größten Ökonomenvereinigung im deutschsprachigen Raum, das Projekt in einem Workshop präsentieren, ebenso bei der Bundesbank und der Vereinigung der amerikanischen Volkswirte. Für dieses Jahr gibt es Einladungen aus Australien, Neuseeland, Frankreich, Spanien und Südafrika.

Das Interesse aus aller Welt kann allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass Core in der Praxis den Durchbruch noch nicht geschafft hat. In Deutschland ist der Berliner Ökonom Wolf bislang der einzige Hochschullehrer, der das Lehrbuch in größerem Stil nutzt. Entsprechende Überlegungen gibt es, so weit bekannt, nur noch in Jena und Heidelberg. Da spielt zum einen die Sprachbarriere eine Rolle – Core ist nur auf Englisch, Französisch und Italienisch verfügbar.

Wendy Carlin. Quelle: Privat

Vor allem aber ist das VWL-Curriculum hierzulande derart formalisiert, dass Standardlehrbücher – etwa das der US-Ökonomen Greg Mankiw und Hal Varian – für Prüfungen nach wie vor unverzichtbar sind.

Core habe „die inhaltliche Debatte in der VWL belebt“, sagt der VfS-Vorsitzende Achim Wambach, aber er könne sich vorstellen, „dass das Buch nicht in die Lehrstruktur vieler deutscher Hochschulen passt“. Studien des Netzwerks Plurale Ökonomik (NPÖ), in dem sich rund 30 wissenschaftskritische Studentengruppen zusammengeschlossen haben, monieren, dass Wirtschaftsgeschichte und „reflexive“ Fächer im VWL-Bachelor nach wie vor keine Rolle spielen und dass das Lehrangebot strikt neoklassisch geprägt sei.

Gleichwohl ist die Reaktion auf Core auch in der pluralen Szene verhalten. Das Projekt sei „alter Wein in neuen Schläuchen“, kritisiert NPÖ-Vorstandsmitglied Daniel Obst, 28. Zwar sei das Lehrbuch „rein didaktisch für VWL-Studenten ein großer Fortschritt“. Es würden Themen wie Verteilungsgerechtigkeit und Mindestlohnpolitik „mit empirischen Erkenntnissen diskutiert“ und nicht „wie so oft in der ökonomischen Lehre“ an „realitätsfernen Modellen“ gemessen. Doch für die – häufig prinzipiell marktskeptischen – Fundamentalkritiker des ökonomischen Mainstreams reicht das nicht aus.

„Core baut auf dem vorherrschenden neoklassischen Paradigma auf“, meint Obst, „und stellt dessen Grundannahmen wie effiziente Märkte, vollständige Konkurrenz und rationales Verhalten nicht grundsätzlich infrage.“

Der Student, der gerade auf seinen Master an der Universität Köln hinarbeitet, entwickelt daher mit Kommilitonen und Wissenschaftlern ein Konkurrenzprodukt zu Core. Ende 2016 ging die Lernplattform Exploring Economics online. Deren Ziel sei es, „Themen zu behandeln, die im gängigen Studium kaum oder gar nicht vorkommen“, sagt Obst. Und so finden sich hier Abhandlungen über die Österreichische Schule und den Postkeynesianismus, aber auch über Sachgebiete, die nicht unbedingt jeder im herkömmlichen Studium vermisst, über den Marxismus etwa und feministische Ökonomik.

Hinzu kommt eine Art Ökonomen-YouTube mit Erklärvideos. Förderer des Portals, das laut Obst im ersten Monat mehr als 40.000 Seitenaufrufe hatte, ist unter anderem Till van Treeck, Professor für Sozialökonomie an der Universität Duisburg-Essen und einer der führenden Köpfe der pluralen Ökonomenzunft.

Ein Patensystem – jeder Beitrag wird von einem Professor gegengelesen – soll die Qualität der von Studenten und Doktoranden geschriebenen Texte gewährleisten. Das freilich scheint noch nicht optimal zu funktionieren. Die WirtschaftsWoche bat den Präsidenten des Ludwig-von-Mises-Instituts, Thorsten Polleit, den Plattformtext zur Österreichischen Schule zu begutachten. Sein Urteil: „Ich würde den Beitrag meinen Studenten nicht empfehlen. Die prägenden Entwicklungslinien innerhalb der Österreichischen Schule werden nicht deutlich.“

Derweil entwickelt sich auch Core weiter. Für Juli kündigt Wendy Carlin eine überarbeitete Fassung mit zwei neuen Kapiteln an. Darin geht es um Arbeitsmarktpolitik und die komplizierte Beziehung von Kapitalismus und Demokratie. Erstmals soll es Core dann auch als Printausgabe geben. Die freilich wird nicht umsonst sein, sondern unter dem Titel „The Economy“ vom Verlag Oxford University Press für 40 Pfund auf den Markt gebracht. Am Ende, glaubt Carlin, greifen Studenten vor Prüfungen, ganz alte Schule, lieber doch auf ein physisches Lehrbuch zurück.

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