Sind die Leistungen von Kindern in der Schule durch angeborene Fähigkeiten und familiäre Voraussetzungen vorbestimmt? Die Frage ist nicht nur für Pädagogen von Interesse. Denn sie zielt ins Zentrum der Legitimation von sozialer Verschiedenheit. Bildungs- oder Chancengerechtigkeit wird heute meist als Voraussetzung einer gerechten Gesellschaft betrachtet. Das Gerechtigkeitsideal sind Kinder, die als unbeschriebene Blätter mit gleichen Voraussetzungen für ihre Schullaufbahn und damit ihren Lebensweg beginnen. In der realen Welt kommen Kinder seit jeher aber mit erheblich unterschiedlichen Startbedingungen - angeborenen und erworbenen - in die Grundschule.
Vorhersagen schon bei Vierjährigen möglich
Psychologen der Universität Hildesheim unter Leitung von Claudia Mähler haben sich in der Längsschnittstudie „Koko“ der Frage nach der Offenheit oder Vorbestimmtheit schulischen Erfolges genähert. Sie haben herausgefunden, dass in der frühen Kindheit vor allem die Leistung des Arbeitsgedächtnisses – und weniger Intelligenz – spätere Schulleistungen beeinflusst. Etwa 200 Kinder aus Hildesheim werden seit ihrem Eintritt in den Kindergarten über fünf Jahre halbjährlich getestet; inzwischen besuchen sie das zweite Schuljahr. In der Studie wurden Vorläuferfertigkeiten bereichsübergreifend (u.a. Intelligenz, Arbeitsgedächtnis, Konzentrationsfähigkeit) und bereichsspezifisch (u.a. Mengenverständnis, Zählfertigkeiten, phonologische Verarbeitung, sprachliche Fertigkeiten) untersucht. Seit Beginn der Schulzeit werden auch die Schulleistungen im Lesen, Schreiben und Rechnen mit erhoben. Auch der Einfluss von Umwelteinflüssen wie soziökonomischer Status, Migrationshintergrund und häusliche Lernumgebung wurde erfasst.
"Schulleistungen am Ende der 1. Klasse können wir zu 25 Prozent aus der Leistung des Arbeitsgedächtnisses im Alter von 4 Jahren vorhersagen“, sagt Psychologin Ariane von Goldammer. Das Arbeitsgedächtnis sei ein „guter Prädikator“. Es ist für die kurzfristige Speicherung und Bearbeitung von lautlichen und visuellen Informationen und deren Transfer (vom Hören ins Schreiben) zuständig und damit „von zentraler Bedeutung für das Lesen-, Schreiben- und Rechenlernen“, so von Goldammer. „Insgesamt können durch Erfassen von Arbeitsgedächtnis, phonologischen und numerischen Kompetenzen, sozioökonomischem Status und Migrationshintergrund bei 4-jährigen Kindern bereits 34 Prozent der Lese-, 52 Prozent der Rechtschreib- und 35 Prozent der Mathematikleistung am Ende der 1. Klasse vorhergesagt werden“, so das Fazit der Forscher. Sie weisen allerdings auch auf die Bedeutung weiterer Faktoren wie Motivation, Unterrichtsqualität und Klassenklima hin.
Auffällig ist, dass Mathematikleistungen bereits „sehr früh im Alter von 4 Jahren anhand von numerischen Vorläuferkompetenzen wie Zählen, Mengenvergleich und Benennen von Ziffern vorhergesagt werden können“ (35 Prozent). Ein signifikanter Einflussfaktor auf Lese-, Rechtschreib- und Rechenleistungen sei mit 10-16 Prozent der sozioökonomische Status der Familie.
Die Startbedingungen unterscheiden sich erheblich
Wie unterschiedlich die Startbedingungen in der Grundschule sind, offenbart die Untersuchung: „Schulanfänger kommen mit Wissen über Mengen, Zahlen und Laute in die Schule – das Ausmaß an numerischem und phonologischem Vorwissen unterscheidet sich jedoch erheblich voneinander“, sagt Mähler. Welche Merkmale bedingen diese unterschiedliche Entwicklung bis zum Schulanfang? „Anders als früher angenommen hat weniger Intelligenz, sondern die Leistung des Arbeitsgedächtnisses Einfluss auf spätere Schulleistungen.“ Bereits 4- bis 6-Jährige mit hoher Arbeitsgedächtniskapazität zeigen in allen Bereichen bessere Leistungen und stärkere Entwicklungssprünge. Sie haben stärker entwickelte numerische und phonologische Fähigkeiten, beherrschen also den Umgang mit Zahlen und sprachlichen Klängen besser.
Kinder mit Zuwanderungsgeschichte, vor allem diejenigen mit schwachen Deutschkenntnissen, schneiden schwächer ab als Kinder deutscher Herkunft. „Die Benachteiligung tritt nicht erst mit Schulbeginn ein, sondern beginnt in der Entwicklung schulrelevanter Vorläuferkompetenzen“, sagt Mähler. Die Forschergruppe hat die Entwicklungsverläufe von 115 deutschen Kindern mit 52 Kindern mit „Migrationshintergrund“ verglichen: „Trotz vergleichbarer Lernmöglichkeiten während der zwei Jahre im Kindergarten bleiben Kinder mit Zuwanderungsgeschichte in den schulischen Vorläuferkompetenzen hinter den deutschen Kindern zurück.“ Daraus schließen die Forscher: „Eine niedrige Arbeitsgedächtniskapazität und Migrationshintergrund sind Risikofaktoren." Der sozio-ökonomische Status der Familie und die häusliche Lernumwelt seien schon im Kindergartenalter für die Ausbildung von Vorläuferkompetenzen von Bedeutung.
Was heißt das für den Kindergartenalltag? Gewisse Vorhersagen über Probleme sind schon bei Vierjährigen möglich. Die Studienautoren raten daher, mit Diagnosen nicht bis zum Schulalter zu warten. "Risikokinder könnten bis zum Schuleintritt in ihren Arbeitsgedächtnisleistungen, phonologischen und numerischen Kompetenzen gefördert werden, um das Risiko von Schulversagen zu vermindern“, fordert Mähler. Wenn ein Kind deutliche Entwicklungsverzögerungen zeige, dies früh erkannt und mit Fördermaßnahmen kombiniert werde, stiegen die Entwicklungschancen beträchtlich. Die „phonologische Bewusstheit“ zu trainieren, könne mit Präventionsprogrammen gelingen. Dabei entwickeln die Kinder ihren Sinn für die Lautstruktur von Sprache, hören Melodien und Silben, erkennen zum Beispiel dass im Wort "Auto" kein "i" ist. Eine wichtige Voraussetzung, um die Schriftsprache zu erlernen.
Ob auch die möglicherweise angeborene Quelle für schwache Schulleistungen - Defizite im Arbeitsgedächtnis - durch spezielles Training auszutrocknen ist, können die Psychologen noch nicht sagen. Das wollen sie nun in einer zweiten Studie prüfen.