Schul-Studie Der Popanz der Bildungspolitik ist entzaubert

Gute Realschüler sind nicht weniger beruflich erfolgreich als Gymnasiasten, weil das traditionelle deutsche Schulsystem durchlässiger ist als seine Gegner behaupten. Eine bahnbrechende Studie.

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Englisch-Unterricht an einer Realschule in Niedersachsen. Quelle: dpa

Der große Popanz der Bildungsdebatten in Deutschland ist seit Jahrzehnten die angebliche Selektionswirkung des gegliederten Schulsystems: Kinder nach dem vierten Schuljahr in verschiedenen Schulformen zu unterrichten, von denen nur eines - das Gymnasium - zum Abitur führe, zerstöre die Lebenschancen der Nicht-Gymnasiasten. Vor allem aus der OECD mit ihren PISA-Studien und der Bertelsmann-Stiftung war immer wieder das Mantra von der angeblich so verheerenden Undurchlässigkeit des traditionellen deutschen Schulsystems zu vernehmen.

Nun belegt eine Studie des Instituts zur Zukunft der Arbeit in Bonn: Das mehrgliedrige deutsche Schulsystem hat keineswegs die beruflichen Chancen derer eingeschränkt, die nach der Grundschule nicht aufs Gymnasium gelangten. Die Analyse der Wirtschaftsprofessoren Christian Dustmann, Patrick Puhani und Uta Schönberg basiert auf umfangreichen Zensus- und Sozialversicherungsdaten der Geburtsjahrgänge 1961-1976 und konzentriert sich auf den Werdegang von Realschülern und Gymnasiasten, deren Leistungen an der Schwelle zwischen beiden Schulformen lagen. Langfristig gibt es zwischen diesen Schülergruppen keinen Unterschied bei den durchschnittlich erreichten Bildungsabschlüssen, der Beschäftigungsquote und dem erzielten Erwerbseinkommen. Der Grund: Weil die Schulformen gerade nicht so undurchlässig waren (und sind), wie das Trugbild der Bildungsforscher es behauptet.

Niemand habe die leistungsstarken Haupt- und Realschüler daran gehindert, entsprechend höhere Bildungsabschlüsse und damit auch Erwerbsmöglichkeiten zu erreichen. Realschüler und sogar Hauptschüler konnten und können, wenn sie gute Leistungen zeigten stets auf ein Gymnasium wechseln. Natürlich galt das umgekehrt auch für Gymnasiasten, die besonders schwache Leistungen zeigten. Letzteres wird übrigens auf Grund der politisch forcierten Steigerung der Abiturientenzahlen immer seltener praktiziert.

Eigentlich hätte es für diese Erkenntnis keiner Studie bedürft, sollte man meinen. Denn die Objekte der Untersuchung sind schließlich alle Ex-Schüler zwischen 38 und 53 Jahren, also sozusagen das gesamte deutsche Volk in den besten Jahren. Fast jeder Ex-Gymnasiast wird sich an Klassenkameraden erinnern, die aus der Real- oder Hauptschule kamen - und umgekehrt. Wie ist das eigentlich möglich, dass sich eine Gesellschaft einreden ließ, ihr Schulsystem selektiere Kinder? Dieser Popanz der Bildungsforschung ist auch über den konkreten Fall hinaus ein trauriger Beleg dafür, was eine meinungsbildende PR-Maschinerie anrichten kann.

Schade, dass die IZA-Studie erst jetzt und nicht bereits vor zwanzig Jahren gemacht wurde. Von dem durchlässigen und im Großen und Ganzen funktionierenden gegliederten Schulsystem von damals, als die Jahrgänge, die die Studie untersucht, noch zur Schule gingen, ist heute ohnehin nicht mehr viel übrig. Die weltweit vorbildliche arbeitsmarktorientierte Berufsbildung im dualen System (für das die Haupt- und Realschulen die allgemeinbildende Basis schufen) wird sträflichst vernachlässigt. Das Gymnasium ist zwar nicht abgeschafft, aber durch weitgehende Öffnung für den Elternwillen in den meisten Bundesländern und die politisch forcierte Absenkung des Niveaus längst eine de-facto-Gesamtschule geworden. Deutschlands Bildungspolitik hat sich dem verheerenden Zweckbündnis zweier Ideologien ausgeliefert: Dem zwischen linken Gleichheitsträumern und den ökonomistischen Aposteln der Humankapitaltheorie, die mit Hilfe von OECD und Bertelsmann-Stiftung die Mär von der allgemeinen Akademisierung als ewig sprudelnder Wachstumsbrunnen in die Welt setzten. Das Ergebnis ist eine end- und fruchtlose Strukturdiskussion auf den Trümmern eines einst weltweit vorbildlichen Schulsystems.

Zu den wenigen Profiteuren dieser Entwicklung gehören die Betreiber privater Schulen, deren Zahl ständig steigt. Sie bieten Kindern reicher Eltern die exquisiten Bildungschancen, die das staatliche gegliederte Schulwesen den Begabten unabhängig von der Herkunft bot. So entsteht allmählich das, was die Reformer zu bekämpfen vorgaben: eine für begabte aber mittellose Kinder unerreichbare, privilegierte Schulform. Hier sind die Brutstätten der neuen Feudalisierung. Ihre Rolle wäre auch mal eine großangelegte Sozialstudie wert.

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