Frühere Schülergenerationen würden eine solche Nachricht nicht für möglich halten. Niedersachsens designierte Kultusministerin Frauke Heiligenstadt will das Sitzenbleiben abschaffen, ihre Düsseldorfer Kollegin Sylvia Löhrmann hat gleiches vor. In Hamburg ist das bereits geschehen. Die meisten anderen Bundesländer sind auf demselben Weg. Dem Weg ins Schüler-Schlaraffenland.
Die Schulpolitik im 150. Todesjahr Jakob Grimm erscheint märchenhaft. Aber im Gegensatz zu den Gebrüdern Grimm schafft sie keine Fiktion, sondern Realität. Man muss sich klarmachen, was das Abschaffen der Möglichkeit des Sitzenbleibens in letzter Konsequenz bedeutet. Es ist zusammen mit der ohnehin von allen Landesregierungen nach Kräften angeheizten Entwertung der Noten der nächste konsequente Schritt zur völligen Auflösung des bisherigen Begriffs vom Abitur als Reifezeugnis für ein akademisches Studium. Wenn Eltern frei entscheiden können, welche Schule ihr Kind besuchen soll, und Schüler nicht mehr an den Hürden der „Versetzung“ scheitern können sollen, dann bedeutet das im Endeffekt nichts anderes als das garantierte Abitur. Denn welcher Lehrer wird noch einen Schüler durch die Abiturprüfung rasseln lassen, wenn er nicht mal mehr einen die Klassenstufe wiederholen lassen kann. In letzter Konsequenz darf dann auch nicht mehr von einer Abitur-„Prüfung“ gesprochen werden.
So wie sich die imaginären Bürger des Schlaraffenlands darauf verlassen können, dass ihnen die Delikatessen von alleine in den Mund fliegen, können sich bald die real existierenden Schüler darauf verlassen, dass ihnen das Abitur zuflattert. Im schlimmsten Fall sollen die Pädagogen durch "individuelle Förderung" helfen.
Heiligenstadt glaubt, sich Sitzenbleiber „nicht mehr leisten“ zu können. Hinter solchen Worten wird das fatale ideologische Bündnis deutlich, das die Bildungsreformpolitik seit Jahren antreibt: Vulgärökonomistisches Effizienzdenken und linker Aberglaube an die unbegrenzte Bildbarkeit aller Menschen. In den Worten von NRW-Kultusministerin Löhrmann: Bildung ist die Sozial- und Wirtschaftspolitik des 21. Jahrhunderts. Für die einen steht als Ziel der auf Marktbedürfnisse geschliffene Arbeitnehmer im Vordergrund, für die anderen ein durch Abschaffung traditioneller Selektionskriterien von jeglicher Diskriminierung prophylaktisch befreiter Mensch.
Bildungspolitik kann das Scheitern nicht abschaffen
Die in Jahrtausenden bestätigte pädagogische Erfahrung, dass jede Schulbildung Unterschiede der Begabungen und Fähigkeiten zutage fördert, gilt vielen Bildungsreformern der letzten Jahre als Ausweis der Rückständigkeit. Die allzu menschliche Tatsache, dass die Geistesgaben ungleich verteilt sind und der Mensch, wie Kant so schön sagte, aus "krummem Holz" geschnitzt ist, kann aber nicht mal eine rot-grüne Regierung, die sich von den allerneusten „Erkenntnissen“ der Bildungsforschung leiten lässt, aus der Welt schaffen. Die Bildbarkeit jedes Menschen ist von individuellen Fähigkeiten und Defiziten bestimmt. Jede Schule wird daher immer Ungleichheiten der Schüler erzeugen - ob man diese nun in Noten klar benennt oder nicht. Gerade eine "individuelle Betreuung" wird, wenn sie tatsächlich stattfindet, auch individuelle Grenzen offenbar werden lassen.
Bildungspolitik kann die Schicksalshaftigkeit des Lebens, das Scheitern von Menschen an ihren individuellen Grenzen nicht aus der Welt schaffen. Sie kann nur das Scheitern verdecken und seine Realisierung nach hinten verschieben. Konkret heißt das, sie überlässt den Universitäten und anderen höheren Bildungseinrichtungen die unangenehme Aufgabe der Auswahl. Bis dahin kann sie sich mit Erfolgszahlen schmücken, die immer weniger mit wirklichen Bildungszielen zu tun haben. Wenn alle Abitur machen, ist ein Abitur nichts mehr wert. Notwendigerweise werden Aufnahmeprüfungen oder andere harte Selektionskriterien an die Stelle des früher selektiv wirksamen Abiturs treten. Im Endeffekt begibt sich die Bildungspolitik durch ihre gleichmacherische Beglückungsphantasie ihrer Kontrollmöglichkeiten. Die Kriterien für Bildungserfolg legen andere fest, zunächst die aufnehmenden Hochschulen, dann die Arbeitgeber.
Und die Schüler? Haben sie durch die Abschaffung der scharfen Noten und des Versetzungsrisikos irgendetwas gewonnen? Im Gegenteil, ihnen wird etwas genommen. Nämlich die Möglichkeit der Schullaufbahn als echte Schule des Lebens. Eines Lebens, das auch Rückschläge bedeutet. Eines Lebens, in dem eigene Versäumnisse geahndet werden. Eines Lebens, zu dem immer auch die Möglichkeit des Scheiterns, aber auch die Chance auf einen neuen Versuch gehört.