Sitzenbleiben wird abgeschafft Schulpolitik auf dem Weg ins Schlaraffenland

Wer das Sitzenbleiben abschaffen will, wie es die meisten Bundesländer vorhaben, löst die Grundlagen unseres bewährten Schulsystems auf. Die Beglückungsphantasien der Bildungspolitiker schaffen die Schule als Schule des Lebens ab.

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Ministerpräsidentin Hannelore Kraft (SPD) am 15.02.2013 in einer Schulklasse der Hermann-Gmeiner-Grundschule in Hamm. Sie nimmt teil am Modellvorhaben «Kein Kind zurücklassen». Quelle: dpa

Frühere Schülergenerationen würden eine solche Nachricht nicht für möglich halten. Niedersachsens designierte Kultusministerin Frauke Heiligenstadt will das Sitzenbleiben abschaffen, ihre Düsseldorfer Kollegin Sylvia Löhrmann hat gleiches vor. In Hamburg ist das bereits geschehen. Die meisten anderen Bundesländer sind auf demselben Weg. Dem Weg ins Schüler-Schlaraffenland.

Die Schulpolitik im 150. Todesjahr Jakob Grimm erscheint märchenhaft. Aber im Gegensatz zu den Gebrüdern Grimm schafft sie keine Fiktion, sondern Realität. Man muss sich klarmachen, was das Abschaffen der Möglichkeit des Sitzenbleibens in letzter Konsequenz bedeutet. Es ist zusammen mit der ohnehin von allen Landesregierungen nach Kräften angeheizten Entwertung der Noten der nächste konsequente Schritt zur völligen Auflösung des bisherigen Begriffs vom Abitur als Reifezeugnis für ein akademisches Studium. Wenn Eltern frei entscheiden können, welche Schule ihr Kind besuchen soll, und Schüler nicht mehr an den Hürden der „Versetzung“ scheitern können sollen, dann bedeutet das im Endeffekt nichts anderes als das garantierte Abitur. Denn welcher Lehrer wird noch einen Schüler durch die Abiturprüfung rasseln lassen, wenn er nicht mal mehr einen die Klassenstufe wiederholen lassen kann. In letzter Konsequenz darf dann auch nicht mehr von einer Abitur-„Prüfung“ gesprochen werden.

So wie sich die imaginären Bürger des Schlaraffenlands darauf verlassen können, dass ihnen die Delikatessen von alleine in den Mund fliegen, können sich bald die real existierenden Schüler darauf verlassen, dass ihnen das Abitur zuflattert. Im schlimmsten Fall sollen die Pädagogen durch "individuelle Förderung" helfen.

Heiligenstadt glaubt, sich Sitzenbleiber „nicht mehr leisten“ zu können. Hinter solchen Worten wird das fatale ideologische Bündnis deutlich, das die Bildungsreformpolitik seit Jahren antreibt: Vulgärökonomistisches Effizienzdenken und linker Aberglaube an die unbegrenzte Bildbarkeit aller Menschen. In den Worten von NRW-Kultusministerin Löhrmann: Bildung ist die Sozial- und Wirtschaftspolitik des 21. Jahrhunderts. Für die einen steht als Ziel der auf Marktbedürfnisse geschliffene Arbeitnehmer im Vordergrund, für die anderen ein durch Abschaffung traditioneller Selektionskriterien von jeglicher Diskriminierung prophylaktisch befreiter Mensch.   

Bildungspolitik kann das Scheitern nicht abschaffen

Wo die Schulen am besten sind
Schülerinnen schreiben am 28.02.2012 in einem Gymnasium in Frankfurt am Main ein Diktat Quelle: dpa
Schülerinnen und Schüler der Klassen drei und vier der Grundschule Langenfeld Quelle: dpa
SaarlandStärken: Im Saarland machen 51,9 Prozent das Abitur. Das ist über Bundesdurchschnitt und befördert das Land damit in die Spitzengruppe im Ländervergleich. Auch in puncto Integration ist das Saarland weit vorne: Nur 4,3 Prozent aller Schüler sind vom Regelschulsystem ausgeschlossen und werden in speziellen Förderschulen unterrichtet.Schwächen : Wirkliche Schwächen haben die Schulen beziehungsweise das Bildungssystem im Saarland laut dem Chancenspiegel nicht. In den einzelnen Bereichen der Kategorien Durchlässigkeit und Kompetenzförderung bewegt sich das Bundesland immer im Mittelfeld. So hat ein Kind auf einer sozial starken Familie eine dreimal höhere Chance, aufs Gymnasium zu gehen als ein Kind aus einer schwächer gestellten Familie. Das ist unschön, aber immer noch überdurchschnittlich gut. 15,9 Prozent aller Schüler in der Primar- und Sekundarstufe 1 besuchen eine Ganztagsschule (Bundesdurchschnitt: 26,9 Prozent). Ländervergleich: Untere Gruppe. Auch das Verhältnis 1:3,3 beim Wachsel der Schulform (pro Schüler, der von der Real- oder Hauptschule "aufsteigt", wechseln 3,3 Schüler vom Gymnasium auf die Realschule beziehungsweise von Real- zu Hauptschule) liegt noch unterhalb des Bundesdurchschnitts von 1:4,3. Auch im Lesen sind saarländische Schüler aud den vierten und neunten Klassen mittelmäßig. huGO-BildID: 25450255 ARCHIV - Schüler und Schülerinnen schreiben am 28.02.2012 in einem Gymnasium in Frankfurt am Main ein Diktat. Zu den Ergebnissen der Koalitionsrunde vom Wochenende gehört das Ziel, noch in dieser Wahlperiode eine Grundgesetzänderung zu erreichen, die das Kooperationsverbot von Bund und Ländern in der Bildungspolitik aufhebt. Foto: Frank Rumpenhorst dpa +++(c) dpa - Bildfunk+++ Quelle: dpa
Eine behinderte Schülerin sitzt am 01.11.2011 im Gebäude einer Integrierten Gesamtschule Quelle: dpa
Constanze Angermann steht vor dem Finale des Schreibkampfes "Frankfurt schreibt! - Der große Diktatwettbewerb" vor einer Tafel Quelle: dpa
 Ein Schulkind bearbeitet Schulaufgaben Quelle: dpa
Malstunde in der deutsch-chinesischen Kita im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg Quelle: dpa

Die in Jahrtausenden bestätigte pädagogische Erfahrung, dass jede Schulbildung Unterschiede der Begabungen und Fähigkeiten zutage fördert, gilt vielen Bildungsreformern der letzten Jahre als Ausweis der Rückständigkeit. Die allzu menschliche Tatsache, dass die Geistesgaben ungleich verteilt sind und der Mensch, wie Kant so schön sagte, aus "krummem Holz" geschnitzt ist, kann aber nicht mal eine rot-grüne Regierung, die sich von den allerneusten „Erkenntnissen“ der Bildungsforschung leiten lässt, aus der Welt schaffen. Die Bildbarkeit jedes Menschen ist von individuellen Fähigkeiten und Defiziten bestimmt. Jede Schule wird daher immer Ungleichheiten der Schüler erzeugen - ob man diese nun in Noten klar benennt oder nicht. Gerade eine "individuelle Betreuung" wird, wenn sie tatsächlich stattfindet, auch individuelle Grenzen offenbar werden lassen.

Bildungspolitik kann die Schicksalshaftigkeit des Lebens, das Scheitern von Menschen an ihren individuellen Grenzen nicht aus der Welt schaffen. Sie kann nur das Scheitern verdecken und seine Realisierung nach hinten verschieben. Konkret heißt das, sie überlässt den Universitäten und anderen höheren Bildungseinrichtungen die unangenehme Aufgabe der Auswahl. Bis dahin kann sie sich mit Erfolgszahlen schmücken, die immer weniger mit wirklichen Bildungszielen zu tun haben. Wenn alle Abitur machen, ist ein Abitur nichts mehr wert. Notwendigerweise werden Aufnahmeprüfungen oder andere harte Selektionskriterien an die Stelle des früher selektiv wirksamen Abiturs treten. Im Endeffekt begibt sich die Bildungspolitik durch ihre gleichmacherische Beglückungsphantasie ihrer Kontrollmöglichkeiten. Die Kriterien für Bildungserfolg legen andere fest, zunächst die aufnehmenden Hochschulen, dann die Arbeitgeber.

Und die Schüler? Haben sie durch die Abschaffung der scharfen Noten und des Versetzungsrisikos irgendetwas gewonnen? Im Gegenteil, ihnen wird etwas genommen. Nämlich die Möglichkeit der Schullaufbahn als echte Schule des Lebens. Eines Lebens, das auch Rückschläge bedeutet. Eines Lebens, in dem eigene Versäumnisse geahndet werden. Eines Lebens, zu dem immer auch die Möglichkeit des Scheiterns, aber auch die Chance auf einen neuen Versuch gehört.       

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