Julian Nida-Rümelin ist ein Philosoph, wie er im Buche steht. Edel lockt sich sein Haar, lang sind seine Sätze, vielsprachig ist seine Publikationsliste. Kaum irgendwo könnte der Cäsarenkopf, Professor an der Ludwig-Maximilians-Universität und Ex-Beauftragter der Bundesregierung für Kultur und Medien, so fehl am Platze wirken wie beim Wirtschaftsforum der Industrie- und Handelskammer Trier.
Und doch ist Nida-Rümelin für viele der rund 200 versammelten Unternehmer der Grund, diesen sonnigen Montagabend nicht am Moselufer, sondern in einem Tagungsraum zu verbringen. Als er eintritt, klatschen die Geschäftsführer und Prokuristen. Als er gesprochen hat, jubeln sie. Denn der Intellektuelle ist gekommen, um für ehrliche Handarbeit zu werben und gegen höhere Bildung für die Massen, für die er den prägenden Titel „Akademisierungswahn“ gefunden hat. Eine Kostprobe: „Facharbeiter bilden den Kern unseres Wohlstandsmodells, wir sind doch nicht trotz, sondern wegen unserer guten Ausbildung international so erfolgreich.“ Nida-Rümelin erinnert daran, wie sehr das Ausland das sogenannte „duale System“ in Deutschland bewundere, diese einzigartige Kombination aus Berufsschule und Lehre. Und er macht sich Sorgen um dieses Erfolgsmodell: „Schon bald könnte die klassische Lehre in Deutschland eine Ausbildung zweiter Klasse sein.“
Sein Auftritt in Trier ist für den Professor nichts Ungewöhnliches, seit Monaten flattern ihm ähnliche Einladungen auf den Schreibtisch, von Handwerkskammern wie von Gymnasiallehrern. Als Nida-Rümelin 2013 erstmals vor dem Akademisierungswahn warnte, wirkte er wie ein einsamer Rufer. Mittlerweile hat er schon den zweiten Titel zum Thema vorgelegt, „Die Bildungskatastrophe“. Zur Vorstellung kam sogar die Bundesbildungsministerin.
Denn der Autor weiß die Zahlen auf seiner Seite. Im Sommer 2007 begannen 624 000 junge Menschen in Deutschland eine berufliche Ausbildung, 361 000 schrieben sich für ein Studium ein. Das war über Jahre die gewohnte Größenordnung: fast doppelt so viele Auszubildende wie Studenten. Ein paar Jahre später ist der gewaltige Abstand merklich geschrumpft. 520 000 neue Azubis gab es 2014 – und 501 000 Studienanfänger. Schreibt man die Entwicklung fort, werden in diesem Sommer erstmals mehr Menschen ein Studium beginnen als eine Ausbildung.
In einer knappen Dekade hat sich die deutsche Bildungslandschaft grundlegend verändert. Das Studium für alle war über Jahrzehnte ein Traum vor allem der Sozialdemokratie, die mehr Chancengleichheit und Aufstiegschancen forderte. Jetzt ist das Realität geworden, für Hunderttausende. Doch zugleich entsteht eine zweite Realität: Das akademische Versprechen hält nicht.
Hendrik Beyer kennt die Erzählungen über die Segnungen des Studiums von Kindesbeinen an. Schon seine Eltern haben studiert, ebenso die Großeltern. Als er das Gymnasium in Bitterfeld beendet hatte, stand der Entschluss über seine Zukunft bereits fest. „Über eine Ausbildung habe ich gar nicht nachgedacht“, erinnert sich Beyer. Die Entscheidung fürs Studium, sie war „gesetzt“.
Abbrecherquoten über 30 Prozent
Seitdem sind zehn Jahre vergangen. Heute ist Beyer 29, hinter ihm liegt ein Studium der Interkulturellen Wirtschaftskommunikation in Magdeburg. Erfolgreich? Eher nicht. Er hat viele Scheine gesammelt, aber seine Bachelorarbeit besteht nach drei Jahren Anlauf nur aus „unzusammenhängenden Absätzen“ – ohne Aussicht auf Vollendung im Computer gespeichert.
Der Abbrecher ist mit seiner Geschichte nicht allein. Denn was Beyer in seinem bürgerlichen Elternhaus gelernt hat, das gilt heute schichtübergreifend als Naturgesetz: ohne Studium kein beruflicher Erfolg. Höhere Durchschnittsverdienste und verschwindend niedrige Arbeitslosenquoten unter Akademikern gelten als Belege.
An die Universitäten strömen deshalb so viele junge Deutsche wie nie zuvor – aber es scheitern auch mehr denn je. Die Abbrecherquoten liegen im Schnitt bei deutlich über 30 Prozent, in manchen Ingenieur-Studiengängen kratzen sie an der 50-Prozent-Marke. 1999, bei der letzten großen Berechnung vor dem Bologna-Prozess, lagen sie noch bei 22 Prozent an den Universitäten und 17 Prozent an den Fachhochschulen. Dies sind die Schattenseiten des Booms.
„Wir erleben in den vergangenen Jahren eine totale Dominanz der kognitiven Bildung über alle anderen Formen“, klagt Julian Nida-Rümelin. Der Human-Development-Index der Vereinten Nationen etwa misst den Fortschritt der menschlichen Entwicklung anhand des Anteils „tertiärer Bildung“, also des Studiums. Alles andere gilt als minderwertig. „Wenn sich dieses Bild durchsetzt, stirbt die Ausbildung“, so der Professor.
Aber ist eine Ausbildung immer die Verheißung, die Nida-Rümelin ausmalt? Menschen wie Johannes Vollert passen nicht in das schlichte Schema. Er begann als Hauptschüler in Feldkirch bei Rosenheim, es folgte eine Ausbildung als Industrieelektriker bei einem lokalen Mittelständler. Vollert, heute 29, sattelte eine Meisterschulung drauf, danach erhielt er einen Posten als Werkstattleiter. Die Bezahlung war gut, aber die Routine ernüchternd. Er hatte mit Anfang 20 „ausgelernt“ – schon der Begriff offenbart die Grenzen, die der beruflichen Bildung gesetzt sind. Vollert gab sein sicheres Leben als Industriemeister für das Studium auf, zuvor absolvierte er einen Vorbereitungskurs für die Fachhochschulreife. Jetzt steht er kurz vor dem Maschinenbaudiplom und hat ein Jobangebot. „Das Studium“, sagt er, „war die beste Entscheidung meines Lebens.“
Man muss die Klagen der Akademisierungsmahner angesichts solcher Aufstiegsgeschichten relativieren – auch weil die Klagen seltsam vertraut klingen. „Ein Hauptübel unseres höheren Schulwesens liegt in der Überzahl gelehrter Schulen und in der künstlichen Verleitung zum Besuch derselben“, mäkelte bereits Otto von Bismarck 1890. Zwar erwarben zu jener Zeit nur zehn Prozent der Bürger ein Abitur, die Warnung vor einem „Abiturientenproletariat“ bestimmte dennoch schon damals die Debatte. Unter dem Stichwort „Bildungsinflation“ wiederholte sie sich um 1930, eine weitere Diskussionswelle über eine „Akademikerschwemme“ gab es 1992. Doch die Schreckensszenarien sind nie wahr geworden.
Lohnt der Hochschulabschluss noch?
Viele Ökonomen sehen Bildung daher eher als eine Serie pragmatischer Abwägungen, als Investment, das der Markt belohnt. „In einer Marktwirtschaft gibt es niemals einen ,Mangel‘, sondern nur falsche Preise“, stellt Ludger Wößmann, Leiter des ifo-Zentrums für Bildungsökonomik, fest. Wäre der Bedarf an Fachkräften tatsächlich höher als an Akademikern, „müssten die Betriebe eben höhere Löhne für Ausbildungsberufe zahlen“. Das Bildungssystem sollte möglichst faire Preise schaffen und eine hohe Durchlässigkeit aufweisen. Dann wird Bildung zur Investitionsentscheidung: Lohnt es sich, Zeit und entgangenen Verdienst für einen Hochschulabschluss zu opfern?
Dass immer mehr junge Menschen diese Frage mit Ja beantworten, registrieren auch die Unternehmen. 2014 stellten nur noch 20,2 Prozent aller Betriebe Lehrlinge ein, 0,5 Punkte weniger als im Vorjahr. Damit ist die Quote zum sechsten Mal in Folge rückläufig. Wahrscheinlich haben viele Betriebe schlicht resigniert, denn auch die Anzahl der unbesetzten Ausbildungsplätze hat 2014 mit gut 37 000 einen Höchststand erreicht.
Die drohende Überakademisierung ist somit ein Kreislauf, den keiner will, obwohl alle dazu beitragen. Die Eltern, indem sie ihre Kinder darauf eichen, hohe Abschlüsse zu sammeln. Die Betriebe, indem sie es sich sparen, in den Nachwuchs zu investieren. Und die Politik, die ihre milliardenschwere Förderung höherer Bildung auf geistige Kompetenzen verengt hat. Nötig wäre beides: ein einfacherer Zugang für Menschen ohne Abitur. Aber auch bessere Aufklärung, was ein Studium für Anforderungen stellt.
Modellprojekt in Aachen
Die RWTH Aachen etwa, eine der Universitäten mit den höchsten Abbrecherquoten, bietet dieses Jahr zum ersten Mal ein „nulltes Semester“ für Maschinenbau an. Gemeinsam mit der Fachhochschule Aachen erhalten Interessierte seit April die Möglichkeit, ohne Risiko ein Studium zu beginnen. Sie starten als Gasthörer und können Scheine erwerben, müssen aber nicht. Intensive Studienberatung kommt hinzu. „Jeder kann so in Ruhe bis zum Wintersemester feststellen, welches Studium am besten zu ihm passt – falls überhaupt“, erklärt Jonas Gallenkämper. Der Mathematiker betreut das Projekt, für das sich mehr als 200 potenzielle Studenten eingeschrieben haben. Einziges Pflichtfach ist Mathematik, für viele später die höchste Hürde im Studium.
Genau dieser Realitätscheck ist der Bildungsrepublik vor lauter Kennzahlen und Systemdebatten abhanden gekommen. Das Studium bietet ein einzigartiges Maß an Freiheiten – man kann sich darin aber auch verlieren. Bildung bleibt am Ende eine individuelle Entscheidung, die zum Erfolg führt, wenn sie nicht gesellschaftlichen Moden, sondern der persönlichen Anlage folgt.
Bis zum 30. Lebensjahr hat es gedauert, bevor Studienabbrecher Hendrik Beyer diese Selbsterkenntnis überkam. Vor wenigen Wochen hat er seine Exmatrikulation erhalten. Sie war das schriftliche Eingeständnis: „Meine Talente liegen anderswo, aber nicht in der einsamen Arbeit am Schreibtisch.“ Er besuchte vor ein paar Wochen eine Messe für Studienabbrecher – und wurde fündig. Bald will er eine Lehre zum Luftverkehrskaufmann beginnen. Anderthalb Jahre Ausbildung liegen noch vor ihm. Dann dürfte er, wenn auch mit Umwegen, auf dem Arbeitsmarkt angekommen sein.