Wer sich gegen Ende seines Studiums die Frage stellt, ob er eine wissenschaftliche Karriere anstrebt, kann Kilometer an Karriere-Literatur lesen - oder rund 25 Seiten Max Weber. Der Soziologe und Nationalökonom hat vor 100 Jahren, am 7. November 1917, in einer Münchener Buchhandlung seinen berühmten Vortrag über „Wissenschaft als Beruf“ gehalten – ein Vortrag, der in seiner Mischung aus Klarheit, Eleganz und Zuspitzung noch heute bespielhaft die beiden entscheidenden Fragen aufwirft, auf die alle Forscher, Theoretiker und Lehrer eine Antwort finden müssen.
Diese beiden Fragen sind, erstens: Wie halte ich die Spannung zwischen der Leidenschaft für mein Fachgebiet und der nötigen Wertneutralität meines Erkenntnisinteresses aus? Und zweitens: Wie halte ich den Widerspruch aus, dass ich mit meiner Arbeit an der „Entzauberung der Welt“, durch die Rationalisierung und Entdeckung ihrer Geheimnisse, ein Sinndefizit produziere? Denn natürlich nehmen alle Naturwissenschaften von sich selbst an, dass (ihr) Erkenntnisfortschritt wichtig und wertvoll ist. Das Ironische an dieser Selbstannahme ist bloß, dass sie empirisch nicht belegbar ist.
Max Weber erhellt die Blindstelle der Wissenschaft am „aktuellen“ Beispiel der Sterbehilfe: Die allgemeine Voraussetzung des medizinischen Betriebs sei, „dass die Aufgabe der Erhaltung des Lebens rein als solchen…bejaht“ werde - der „Mediziner erhält mit seinen Mitteln den Todkranken, auch wenn er um Erlösung vom Leben fleht, auch wenn die Angehörigen seinen Tod… wünschen und wünschen müssen.“ Allein ob das Leben lebenswert sei und unter welchen Bedingungen – danach frage die Medizin nicht. Systemtheoretisch gesprochen, bedeutet das: Wissenschaftler aller Bereiche, von Physik und Mathematik über Medizin und Jura bis hin zur Ökonomie folgen ihrer Eigenlogik und arbeiten an der Hervorbringung fachlicher Exzellenz. Die Frage nach dem „Sinn“ ihres Tuns aber beantworten sie nicht.
Im Gegenteil. Mit dem Expansionsdrang der Naturwissenschaften, mit dem Erforschen immer „größerer“ und „kleinerer“ Zusammenhänge (vom Weltraum bis zur Atomphysik) nehmen nicht nur ihr Grenznutzen und ihre Relevanz ab – sondern es vergrößert sich dadurch auch der Abstand der Naturwissenschaften zu den Tolstoischen Sinnfragen: Was sollen wir tun? Wie sollen wir leben?
Die moderne Wissenschaft kann uns angesichts dieser Dilemmata heute weniger denn je einen Weg zurück „zum wahren Sein“, zum Glück weisen. Max Weber erinnert in seinem Vortrag an ihre Anfänge, die noch geprägt waren vom naiven Glauben (!) an die Erlösung des Menschen durch szientistischen Eifer und positivistischen Geist: von der Überzeugung, dass Beobachtung die Exegese, Experimente die theologische Spekulation und Labore die Kirchen ergänzen (später dann: ablösen) könnten. Man erwartete von der exakten Naturwissenschaft anfangs „den Nachweis der Vorsehung Gottes in der Anatomie einer Laus“, so der niederländische Anatom und Biologe Jan Swammerdam im 17. Jahrhundert – und später dann diesseitige Erlösung vom Zeitalter der religiös motivierten Unwissenheit.
Max Weber indes war sich der Nebenfolgen des zivilisatorischen Fortschritts jederzeit scharf bewusst. Er lief nie Gefahr, „Aufklärung“ und „Vernunft“ als lineare Aufschwungbewegung der Menschheit zu missdeuten, im „Fortschritt“ allein einen segensreichen Prozess der menschlichen Vervollkommnung zu erblicken, mit „Wissenschaft“ bloß eine positiv konnotierte Kritik magischer, religiöser Weltbilder im Namen der Nützlichkeit zu verbinden. Wie auch? Die Chemie zum Beispiel feierte 1917 vor allem in Form von Chlor und Senfgas auf den Schlachtfeldern Europas vernichtende Erfolge.
Der ideale Wissenschaftler
Dass es heute im Silicon Valley wieder Tech-Jünger gibt, die sich vom „Fortschritt“ eine Lösung der Menschheitsprobleme versprechen – Max Weber hätte für sie wohl nicht mal mehr ein müdes, resigniertes Lächeln übrig. „Dass man… in naivem Optimismus die… Technik der Beherrschung des Lebens als Weg zum Glück“ feiert – einen solchen Unsinn wollte er schon in seinem Vortrag vor hundert Jahren am liebsten „ganz beiseite lassen“. Denn „wer glaubt daran? – außer einigen großen Kindern?“
Den idealen Wissenschaftler stellt sich Max Weber im Anschluss an den späten Goethe daher entsagungsvoll und unbedingt enttäuschungsresistent vor: „Was aber ist seine Pflicht? An die Arbeit gehen der Forderung des Tages gerecht werden.“ Im Einzelnen heißt das:
- Wissenschaft ist Spezialistentum „auf dem Boden ganz harter Arbeit“, so Weber. Wer nicht die Fähigkeit besitze, „sich… Scheuklappen anzuziehen und sich hineinzusteigern in die Vorstellung, dass das Schicksal seiner Seele davon abhängt: ob er diese, gerade diese Konjektur an dieser Stelle dieser Handschrift richtig macht, der bleibe der Wissenschaft nur ja fern“.
- Wissenschaft verlangt die Ausschaltung aller subjektiven Befindlichkeiten, die Verneinung allen Erlebnishungers: „Persönlichkeit auf wissenschaftlichem Gebiet hat nur der, der rein der Sache dient.“
- Der immanente Sinn von Wissenschaft liegt darin, dass sie prinzipiell unabschließbar, dass ihre Aufgabe nie vollendet ist: „Jede wissenschaftliche „Erfüllung“ bedeutet neue „Fragen“ und will „überboten“ werden und veralten.
Vor allem aber muss der Wissenschaftler sich selbst abverlangen, kein „Führer“, sondern ein „Lehrer“ sein zu wollen – ein Lehrer, der sich jederzeit bewusst ist, dass der Fortschritt die Welt nicht (nur) bereichert, sondern auch „entzaubert“ , weil Wissenschaft und Technik den Menschen von der beobachteten Natur distanzieren, ihn sich selbst entfremden – ihm die Möglichkeit nehmen, sich in der Welt als einer durchschauten Matrix aufgehoben zu fühlen.
Weber will der Wissenschaft daher alle Werte austreiben, sie auf strengste Neutralität hin verpflichten: Man habe sich den Pluralismus der Weltanschauungen und Kulturen nach der Ermordung Gottes durch Nietzsche als eine Art Rückkehr zum antiken Götterhimmel vorzustellen, in dem um Ordnungen und Werte gerungen wurde. Die Wissenschaft habe die Unvereinbarkeit der möglichen Standpunkte zum Leben zu akzeptieren, ihre Verhandlung den Propheten und ihre Diskussion den Marktplätzen zu überlassen, sprich: die Entscheidung des Wissenschaftlers für die einen oder anderen „Werte“, unter die er sein Leben zu stellen gedenkt, unbedingt vom Katheder fernzuhalten.
Unabhängig von der seither vieldiskutierten Frage, ob das logisch überhaupt möglich ist: seine Weltanschauung vor den Toren der Universität abzulegen – gerade heutigen Ökonomen, allen voran Michael Hüther etwa oder Marcel Fratzscher, die jeder Statistik einen politischen Spin beimischen, um als ökonomische Zielgruppen-Caterer zu reüssieren, sei die (abermalige) Lektüre des Vortrags von Max Weber dringend ans Herz gelegt.