Dauerhafte Erreichbarkeit Ein Plädoyer für den Smartphone-freien Urlaub

Bei der Auswahl des Hotels sind Preis und Lage egal, Hauptsache, schnelles Internet: Urlaub ohne Smartphone und Internet? Unvorstellbar. Nehmen Sie doch mal den Blick vom Display und genießen Sie die freie Zeit.

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Eine E-Mail vom Strand, ein Anruf aus den Bergen - Handy und Tablet begleiten den Urlauber fast überall auf Schritt und Tritt. Muss das wirklich sein? Quelle: dpa

Geht es Ihnen auch so wie CDU-Politiker Wolfgang Bosbach? Er habe zum ersten Mal seit 23 Jahren zwei Wochen Urlaub am Stück in Australien gemacht, gestand er kürzlich dem Magazin „stern“. Sein Plan: „bewusst abschalten“. „Aber schon nach einer Stunde habe ich auf mein Handy geguckt und war geradezu beleidigt, dass noch keiner angerufen hatte!“
Aus dieser relativen Bedeutungslosigkeit hat sich Bosbach vor ein paar Tagen mit seinem freiwilligen Abgang bei „Maischberger“ befreit. Mehr als 400 E-Mails warteten bereits am nächsten Morgen in seinem Postfach darauf gelesen zu werden. Und er kann sich glücklich schätzen, dass er ein Bundestagsbüro zur Beantwortung hat.

Trauen Sie sich, das Smartphone einen Tag auszulassen?

Na? Erkennen Sie sich wieder? Sind wir nicht alle ein bisschen Bosbach? Machen Sie doch mal das verwegene Experiment, sich einen Smartphone-freien Tag zu gönnen. Spätestens, wenn Sie dann abends wieder online sind, ist es vorbei mit der Erholung. Wenn sich der Mail-Counter in zweistellige oder dreistellige Höhen schraubt, denken Sie bestimmt: Hätte ich doch bloß mal früher nachgeschaut. Und: Wann soll ich die nur alle lesen? Das ist purer Stress.

Über die Autoren

Smartphones sind – das muss angesichts von zehn Jahren iPhone einmal ausgesprochen werden – Segen und Fluch zugleich. Sogar für einen analogen 73-er-Jahrgang wie mich ist es heute kaum mehr vorstellbar, dass man früher von unterwegs nur auf dem Papier arbeiten und telefonieren konnte. Und vor 20 Jahren nicht mal das.
Arbeit quasi „nebenbei“ machen zu können, ist mittlerweile Standard in deutschen Büros geworden. Auch eine Medienagentur lebt von schneller Kommunikation und fast permanenter Erreichbarkeit. Doch dieses „fast“ vernünftig hinzubekommen, das ist leider gar nicht so einfach. Schließlich arbeiten die meisten von uns nicht in Großkonzernen wie Volkswagen, in denen engagierte Betriebsräte einen E-Mail-Stopp nach Feierabend durchgesetzt haben.

Smartphones machen den Urlaub kaputt

Doch zum Glück gibt es da immer wieder diese Schlüsselmomente, nach denen man sein eigenes Handeln hinterfragt. Dr. Michael Winterhoff ist es gelungen, diesen Schlüsselreiz auszulösen. Er ist Bestsellerautor und – viel wichtiger – Kinderpsychiater und Psychotherapeut mit eigener Praxis in Bonn. Kürzlich sprach ich mit ihm über sein aktuelles Buch, in dem er für eine Wiederentdeckung der Kindheit plädiert. Klingt gleichermaßen nett wie sperrig. Warum Wiederentdeckung?

Im weiteren Gespräch wurde relativ schnell deutlich, worum es ihm eigentlich geht: „Smartphones machen unseren Urlaub kaputt“, ist eine seiner Thesen. Warum? „Weil selbst in der schönsten Zeit des Jahres Eltern mit ihren Kindern in Time-Slots sprechen“, so Winterhoff. Nach dem Motto: ‚Geh Du schon mal ins Meer, ich muss nur noch kurz die Mails checken.‘

Michael Winterhoff schilderte dann weiter, „was das mit Kindern macht“. Und gab damit die Antwort auf eine typische Frage bei „Markus Lanz“: „Wenn Mama oder Papa sogar im Urlaub den Tag in schmale Aufmerksamkeitsraster einteilen, geben sie ihren Kindern das Gefühl, dass es woanders noch schöner sein könnte“, sagt Winterhoff.

Die Folge: innere Unruhe, null Entspannung. „Letztlich verspielen Eltern die Chance, jenseits vom Alltag das eigene Kind zu entdecken“, so der Kinder-Experte.

Was daraus folgt, ist ein Plädoyer für einen Trip zurück in die 80er: Brettspiele, Baumhaus bauen, wandern, eher keine wilden Adventure-Parks, sondern viel Zeit für Ferien wie auf Saltkrokan oder in Bullerbü. So idyllisch eben, wie ich mir das in den bunten skandinavischen Ferienhäusern immer so vorstelle, während ich das „Cirkustält“ und den Spieltunnel „Busa“ bei IKEA in Köln-Ossendorf zur Kasse Richtung Hot Dog schiebe. Ja, ich gestehe, auch bei Inga Lindström im ZDF träume ich mich ab und zu mal ganz gerne weg. Natürlich nur wegen der schönen Landschaft.

88 Mal pro Tag checken wir das Handy

Was wären wir heute ohne Smartphones? 88 mal am Tag schauen wir darauf. Fast sechs mal pro Stunde. Mindestens. Denn ich könnte auch Studien zitieren, die zu noch beeindruckenderen Ergebnissen kommen. „Deutsche sind 43 Stunden in der Woche online“, ergab erst kürzlich eine Studie der Postbank. Viele dieser täglich 88 Blicke auf das Smartphone müssen sein, bin ich überzeugt. Doch wann endet die Pflicht, wo beginnt die Sucht?

In der mittlerweile übrigens nicht nur der streitbare Hirnforscher Manfred Spitzer eine Gefahr sieht. „Machen Smartphones dumm und krank?“ ist nicht nur ein knalliger und quotenträchtiger Talkshow-Titel, sondern eine ernsthafte Frage. Spätestens als vor ein paar Tagen Rettungskräfte in Hagen durch filmende Gaffer mit Handy dabei behindert wurden, zwei kleinen Kindern zu helfen, in die kurz zuvor ein Auto gerast war, als ihre Mutter mit ihnen auf dem Gehweg stand, frage ich mich umso mehr: Machen Smartphones tatsächlich noch mehr als „nur“ süchtig? Setzt da bei uns irgendeine Synapse aus, die für Vernunft zuständig wäre?

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