Alltag eines Psychotherapeuten

Negative Gefühle zu unterdrücken, macht krank

Die Diagnose: Depression. Psychotherapeut Geritt Müller hat damit sehr häufig zu tun. Lange unterdrückte Gefühle wie Angst, Trauer oder Wut suchen sich ihren Weg. Was Müller seinen Patienten rät.

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Wer negative Gefühle immer unterdrückt, wird auf Dauer krank. Quelle: dpa

Viele der Patienten, die eine psychosomatische Reha beginnen, haben die schlimmste Phase ihrer Erkrankung dank medikamentöser oder psychologischer Behandlung überstanden und sollen während der Rehabehandlung auf die Rückkehr an den Arbeitsplatz oder eine Ausschleichung der Medikamente vorbereitet werden. Mit einer solchen Patientin arbeitete ich kürzlich an der Vorbereitung auf den Berufsalltag.

Sie hatte eine schwere depressive Episode mit allen Begleiterscheinungen durchlebt, von der sie noch nicht vollständig genesen war, und war über eineinhalb Jahre arbeitsunfähig gewesen. Trotz einer deutlichen Besserung der Beschwerden beklagte sie noch Antriebsschwierigkeiten, leichte Stimmungstiefs, Schlafstörungen und außerdem Schmerzen am ganzen Körper, für die keine körperliche Ursache gefunden werden konnte.

Depression: Volkskrankheit mit Versorgungsdefiziten

Die Ingenieurin war noch während des Studiums Mutter geworden und hatte sich mit dem Berufseinstieg deutlich überfordert, was in der besagten Depression gipfelte. Sie hatte zuvor einen beeindruckenden Aufstieg aus einfachen Verhältnissen geschafft und wollte nun die Früchte ihres langen, selbstfinanzierten Studiums ernten. Ihre gesamte Kindheit über hatte sie unter einem tyrannischen Stiefvater und einer verschreckten, abhängigen Mutter gelitten. Aufgrund der ständigen Bedrohung durch den Stiefvater, der zwar selten körperliche, dafür aber immer psychische Gewalt ausübte, hatte sie früh lernen müssen, jegliche Emotionen zu unterdrücken.

Verdrängung kann zu chronischen Schmerzen führen

Emotionen wurden vom Stiefvater als Schwäche ausgelegt und mit Erniedrigung bestraft, so dass meine Patientin eine rationale, autonome Persönlichkeit entwickelt hatte. Dank ihres Ehrgeizes hatte sie es geschafft, parallel zu einer Ausbildung die Fachholschulreife zu erlangen und schließlich ihr Studium abzuschließen, ohne dabei auf Unterstützung durch ihre Familie zurückgreifen zu können.

Die rationale Herangehensweise an Probleme und Herausforderungen hatten sich dabei als große Stärke erwiesen, der schlechte Zugriff auf Emotionen und psychische Gesundheit stellten sich jedoch als Kehrseite der Medaille heraus: Die Verdrängung psychischer Probleme und negativer Emotionen mündet nicht selten in der Entwicklung diffuser Schmerzen, die leider häufig einen chronischen Verlauf haben.

Achten Sie auf Ihre Bedürfnisse

Patienten mit solchen Schmerzen durchlaufen häufig einen Marathon durch Arztpraxen, weil sie sich eine einfache medizinische Behandlung wünschen und zunächst nicht bemerken, dass sie durchaus psychische Schwierigkeiten haben.

Man geht heute davon aus, dass chronische Schmerzen – sofern sich keine körperlichen Ursachen finden lassen – wie die meisten psychischen Erkrankungen durch Probleme im Hirnstoffwechsel bedingt sind und somit theoretisch möglicherweise auch mit Medikamenten behandelt werden könnten, offenbar greifen die heute vorhandenen Präparate jedoch noch an den falschen Stellen an, so dass eine psychotherapeutische Behandlung den besten Erfolg verspricht.

Symptome einer Depression

Meine Patientin hatte mit ihrer ambulanten Therapeutin bereits mit der Aufarbeitung ihrer Kindheit begonnen und nebenbei die Emotionswahrnehmung verbessert. Nachdem sie sich im Klinikumfeld mit ihrem Sohn eingelebt hatte, konnte sie durch das ausgewogene Angebot an Sport, Entspannung und verschiedenen Therapien ihre andauernde Erschöpfung weiter reduzieren und ihre Wahrnehmung für Tätigkeiten, die ihr gut tun, verbessern. Hobbies und Freizeitaktivitäten waren ihr bis dato nicht wichtig gewesen, auch weil sie finanziell und emotional bisher immer auf sich allein gestellt war.

Fünf Wege aus der Depression

Ihr Mann, der selbst beruflich immer sehr eingebunden war, hatte in der Vergangenheit ebenfalls nicht viel Unterstützung anbieten können oder wollen. In den Einzelgesprächen arbeiteten wir deshalb vor allem daran, Bedürfnisse wahrzunehmen und zu kommunizieren und warum es hilfreich sein kann, sowohl bezüglich praktischer als auch emotionaler Aspekte Unterstützung einzufordern. Die Einstellung einer Haushaltshilfe, die Verbesserung der Kommunikation mit ihrem Mann und die Aufrechterhaltung von entspannenden Aktivitäten waren schließlich die Ziele, die meine Patientin für den Alltag erarbeitete, so dass sie mit einem guten Gefühl nach Hause zurückkehrte.

Geritt Müller heißt eigentlich anders. Er arbeitet als Psychotherapeut in einer Klinik im Sauerland. Um die Identität seiner Patienten zu schützen, und damit er freier schreiben kann, haben wir ihm einen anderen Namen gegeben.

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