Meine Patientin kam eigentlich in die Klinik, um ein Präventivprogramm zu absolvieren, das vor Burn-Out schützen und etwas früher greifen soll als die üblichen Rehabilitationsmaßnahmen, zu denen die Patienten oft erst kommen, wenn es eigentlich schon zu spät ist. Doch schon im Aufnahmegespräch merkte ich, dass auch sie einen kritischen Punkt schon lange überschritten hatte und sich bereits mitten in einer Erschöpfungsdepression befand. Die Krankenschwester hatte bis zur Anreise gearbeitet und es nur mit Mühe und Not und Unterstützung ihres Mannes geschafft, die wichtigsten alltäglichen Dinge irgendwie zu regeln.
Zerstritten, freudlos, unter Druck, alleine
Freude hatte sie schon lange nicht mehr empfunden, ihren Interessen ging sie seit Monaten nicht mehr nach. Sie berichtete von allerlei Konflikten in ihrem Leben, die sowohl das Privat- als auch das Berufsleben betrafen. Mit ihrer Tochter hatte sie seit einiger Zeit nur äußerst sporadischen Kontakt, nachdem diese zu ihrem Lebensgefährten gezogen war, mit dessen Familie sich meine Patientin schnell heillos zerstritten hatte. Auf ihrer Station, berichtete sie, fühlte sie sich im Kollegenkreis alleine, weil sie ständig für jemanden einspringen musste und allerhand Aufgaben von selbst übernahm.
Das gleiche erwartete sie von ihren Kolleginnen, doch diese waren seltsam selten spontan verfügbar und zeigten ihr generell zu wenig Dankbarkeit. Auch mit ihrem Vermieter befand sie sich auf Konfrontationskurs, weshalb seit einiger Zeit nur noch ihr Mann mit diesem kommunizierte.
In acht Schritten zum Burn-Out
Es beginnt alles mit dem Wunsch, sich zu beweisen. Dieser aber treibt einen in den Zwang, sich noch mehr anzustrengen, noch mehr zu leisten bzw. es allen recht zu machen. Man nimmt jeden Auftrag an, sagt immer seltener Nein. Jettet von Termin zu Termin. Und nimmt abends Arbeit mit nach Hause.
(Quelle: Lothar Seiwert, Zeit ist Leben, Leben ist Zeit)
Man nimmt seine eigenen Bedürfnisse nicht mehr wahr. Schläft zu wenig, isst hastig oder gar nichts. Sagt den Kinobesuch mit Freunden ab.
Man missachtet die Warnsignale des Körpers, wie Schlafstörungen, Verspannungen, Kopfschmerzen, hoher Blutdruck, flaches Atmen, Konzentrationsschwäche.
Um wieder funktionieren zu können, greifen manche zu Drogen wie Schmerzmitteln, Schlaftabletten, Alkohol, Aufputschern.
Das eigene Wertesystem verändert sich. Die Freunde sind langweilig, der Besuch mit dem Kollegen im Café verschwendete Zeit. Die Probleme mit dem Partner oder Familie nimmt man einfach nicht mehr wahr. Man zieht sich zurück aus gesellschaftlichen Kontakten. Und endet oft in völliger Isolation.
Die Persönlichkeit verändert sich. Alles dreht sich nur noch darum, zu funktionieren, zu arbeiten. Gefühle und Emotionen werden verdrängt. Man verliert den Humor, reagiert mit Schärfe und Sarkasmus, empfindet Verachtung für Menschen, die das Faulsein genießen. Man verhärtet.
Man verliert das Gefühl für die eigene Persönlichkeit. Spürt nur noch Gereiztheit, Schmerzen, Erschöpfung, Überlastung, Angst vor einem Zusammenbruch. Und sonst nichts mehr. Keine Freude, keine Fröhlichkeit, keine Neugierde. Der Mensch funktioniert wie eine Maschine. Die Seele erstarrt.
Die wachsende innere Leere, genährt von dem Gedanken "Wenn ich nicht arbeite, was bin ich dann?", führt zur Depression, zur völligen Erschöpfung, zum Zusammenbruch, zum Ausgebranntsein.
Als wir in den späteren Gesprächen anfingen, ihre eigenen Anteile an diesen Konflikten zu thematisieren, stellte sich ein Muster heraus: Sie hatte an sich selbst den Anspruch, ein umgänglicher Mensch zu sein, weshalb sie sich immer schon stark bemüht hatte, freundlich aufzutreten und nicht nachtragend zu sein. Tatsächlich wirkte sie auf mich von Anfang an sehr herzlich und humorvoll, trotz ihrer angeschlagenen Stimmungslage; in unseren Gesprächen, in denen an sie keine Erwartungen gestellt wurden und sie für ihre Stimmungen nicht verurteilt wurde, hielt sich dies auch bis an das Ende der Maßnahme.
Im hektischen Arbeitsalltag allerdings schien sie dazu zu neigen, frustriert ihren Ärger so lange herunterzuschlucken, bis das Fass überlief und sie schließlich zickig bis explosiv reagierte. Mit dieser Unberechenbarkeit konnten ihre Kollegen offenbar schlecht umgehen, meine Patientin ebenfalls – nach diesen zumeist kurzen Streitereien würde sie sich in der Regel lange Vorwürfe machen und sich zum Selbstschutz irgendwann absondern, berichtete sie.
So unterschiedlich reagieren wir auf Stress
Stressforscher schätzen, dass Stressanfälligkeit zu 30 Prozent genetisch bedingt ist.
(Quelle: Lothar Seiwert, Zeit ist Leben, Leben ist Zeit)
Frauen, die während der Schwangerschaft hohe Cortisolwerte aufweisen, bekommen stressanfälligere Babys.
Traumatische Erlebnisse in den ersten sieben Lebensjahren, der Zeit der Entwicklung der Identität, können lebenslänglich stressanfälliger machen.
Erfolgsorientierte, ehrgeizige, sehr engagierte, ungeduldige und unruhige Menschen sind besonders stressanfällig.
Feindseligkeit, Zynismus, Wut, Reizbarkeit und Misstrauen erhöhen das Infarktrisiko um 250 Prozent. Humor hingegen zieht dem Stress den Stachel. Eine Studie an 300 Harvard-Absolventen zeigte: Menschen mit ausgeprägtem Sinn für Humor bewältigen Stress besser.
Der wichtigste Faktor, der über Stressanfälligkeit bestimmt, ist die Kontrolle über das eigene Tun. Je mehr man den Entscheidungen anderer ausgeliefert ist, desto höher das Infarktrisiko.
Wer für seine Arbeit Anerkennung in Form von Lob oder einem angemessenen Gehalt bekommt, verfügt über eine bessere Stressresistenz.
Wer eine gute Stellung in der Gesellschaft hat, verfügt auch über einen Panzer gegen Stress. Das ist auch bei Pavianen zu beobachten: Gerät das Leittier durch einen Konkurrenten in eine Stresssituation, schnellt der Cortisolspiegel hoch, normalisiert sich aber rasch wieder. Bei den Rangniedrigeren ist der Cortisolspiegel ständig erhöht.
Einer der stärksten Stresskiller ist das Gebet. Studien belegen: Der Glaube an eine höhere Macht, die das Schicksal zum Guten wenden wird, beugt vielen Krankheiten vor.
Hinter der mangelnden Konfliktfähigkeit und der emotionalen Labilität steckte eine ungünstige Mischung aus mangelnder Selbstakzeptanz und dem nicht ganz zu meiner Patientin passenden Erziehungsstil ihrer Eltern. Diese hatten meine Patientin stets dazu erzogen, dass jegliche Konflikte schlecht und unnötig seien. Sie neigte aber immer schon zu spontaner Emotionalität, die sie deshalb stets unterdrücken musste. So konnte sie eine ihrer wichtigsten Eigenschaften nie schätzen und akzeptieren lernen.
Zwischen berechtigter und unberechtigter Kritik unterschieden
Die therapeutische Arbeit bestand deshalb im wesentlichen aus Selbstwertarbeit. Ausgeglichene, selbstsichere Menschen können in der Regel gut unterscheiden zwischen berechtigter Kritik, die sie annehmen und für sich nutzen können, und negativen Stimmungen, die mit ihnen wenig oder nichts zu tun haben und die sie ihrem Gegenüber zuschreiben können.
Auch meine Patientin konnte es während des Aufenthalts etwas besser schaffen, sich für ihre emotionalen Reaktionen nicht mehr so stark zu verurteilen und das Gute in ihrer emotionalen Persönlichkeit zu finden. Ihre Patienten, berichtete sie, schätzten sie oft für ihre verständnisvolle und herzliche Art – mit genügsamen, zufriedenen Menschen kam sie in der Regel sehr gut klar.
Zum anderen arbeiteten wir daran, vermeintlich oder tatsächlich kritische Aussagen ihr gegenüber entweder versöhnlich anzunehmen oder sich sachlich zu verteidigen, um ein Aufstauen und späteres Explodieren von Emotionen zu verhindern. Im Entlassungsgespräch berichtete sie, einen Konflikt mit einer Mitpatientin ruhig geklärt zu haben und die Bindung zu ihr dadurch sogar intensiviert zu haben, und nahm sich vor, zu Hause mit einem Psychotherapeuten weiter daran zu arbeiten.
Geritt Müller heißt eigentlich anders. Er arbeitet als Psychotherapeut in einer Klinik im Sauerland. Um die Identität seiner Patienten zu schützen, und damit er freier schreiben kann, haben wir ihm einen anderen Namen gegeben.