Ernährung In der digitalen Welt ist Essen Ersatzreligion

Essen dient längst nicht mehr nur der Sättigung. Und je digitaler unser Leben wird, desto wichtiger wird die soziale Funktion des Essens. Weil es das einzige ist, das wir noch selbst herstellen können.

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Die richtige Ernährung ist in der westlichen Welt zur Ersatzreligion geworden. Quelle: dpa

Starbucks verkauft in den USA pinke Einhorn-Frappuccinos, Ikea bietet neben Hotdogs und Köttbullar schon lange komplette Menüs oder Frühstück an und jetzt steigt auch noch Amazon mit seinem Online-Supermarkt Amazon Fresh in das lukrative Geschäft mit Essen ein. Amerikanische Teenager geben mittlerweile mehr Geld für Essen als für Kleidung aus.

All das ist Teil eines Phänomens: Essen ist das Zentrum unserer Kultur geworden. Es geht dabei nicht mehr nur darum, das körperliche Bedürfnis nach Nahrung zu stillen, es ist Statussymbol, Kontrolle und ein Zeichen von Bildung in einem. In ihrem Buch über die Beziehung der Millenials zu Nahrung, "A Taste of Generation Yum", beschreibt Autorin Eve Turow Paul unter anderen die Nahrungsmittel-Tabus der jungen Generation: vegan, paleo, glutenfrei. All diese Ernährungsformen seien ihr zufolge Symptom für dasselbe Bedürfnis nach Kontrolle über Ernährung und Körper - das im Zweifelsfall zu Essstörungen führen könne.

Alternative Ernährungsformen

Auch diejenigen, die sich nicht einzelne Lebensmittel verbieten, bestehen darauf zu wissen, woher jede einzelne Zutat eines Gerichts kommt. Das gibt ihnen das erfreuliche Erlebnis, sich zu beherrschen. "Es ist wirklich bereichernd", zitiert die Autorin die 27-Jährige Lola Milholland, die ihr Essen selbst herstellt. "Je mehr man züchtet, zieht und kocht, desto besser wird es. Man zieht daraus eine konstante Belohnung."

Wenn Verbraucher verarbeitete Lebensmittel ablehnen, so die Autorin, liege es nicht an gesundheitlichen Bedenken. Vielmehr rebelliere die junge Generation damit gegen die gesellschaftliche Ignoranz. Und sie wolle an einem physischen Prozess teilhaben - als Pendant zu ihrem digitalen Alltag.

Deswegen reicht es ihnen nicht, einfach nur Bio-Produkte zu kaufen. Essen habe bei der jungen Generation einen viel stärkeren sozialen Kontext. Die Jungen rotten sich in Restaurants zusammen, so Turow Paul, weil sie „Menschen sehen wollen, andere umarmen und mit ihnen essen wollen. Sie wollen am Ende eines Tages, den sie überwiegend in virtuellen Realitäten verbracht haben, etwas Konkretes tun.“

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Und wie auch Sport oder Musik sei Essen etwas, über das man sich mit Freunden und Fremden austauschen könne. „Es gibt so viele Geschichten über Essen“, bestätigt die 29-Jährige Elie Ayrouth, Gründer von Foodbeast. Foodbeast ist eine Plattform, bei der sich alles ums Essen dreht – von Rezepten über Trends bis zu Ernährungsrichtlinien. „Für viele ist selber kochen ein soziales Erlebnis“, beobachtet er. „Es geht darum, dass Freunde zu mir kommen und wir gemeinsam kochen oder dass ich für andere koche.“
Der Enthusiasmus für das Kochen und Essen ist allerdings kein reiner Eskapismus aus dem digitalen Leben. Beide bedingen sich gegenseitig. Denn die Bilder unseres Essens landen dann wieder bei Instagram und Co. Und die digitalen Trends, die dort stattfinden, schlagen sich wiederum in unserem Essverhalten nieder. Deshalb verkauft Starbucks jetzt auch pinken Einhorn-Frappuccino – weil das Internet Einhörner liebt.

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