Nach Ansicht Grünewalds haben die Deutschen das „dumpfe Gefühl, von dunklen Mächten der Finanzwelt bedroht zu werden. Man fühlt sich einem abstrakten Getriebe hilflos ausgeliefert.“ In diesem Getriebe immer schneller strampeln zu müssen, wie in einem kafkaesken Albtraum – das erschöpft. Und die Krise bleibt trotzdem.
Obwohl Deutschland besser dasteht als je zuvor – Wirtschaftswachstum heißt ja nichts anderes als, dass jedes Jahr ein neuer Produktionsrekord erzielt wird – mahnen doch alle hörbaren Stimmen zu neuen Anstrengungen. Bloß nicht auf den Lorbeeren ausruhen: Noch geht es uns gut, aber die Chinesen… Der globale Wettbewerb schläft nie. Wie eine Horde von Zombies ist er uns dauernd auf den Fersen.
Nicht nur ein paar wachstumskritische Vordenker, sondern vermutlich die meisten Menschen haben eigentlich den Glauben an die hergebrachte Maximierungskultur verloren. Die Gewissheit, dass „Reformen“, der aus ihnen folgende nächste Aufschwung und schließlich ewiges Wachstum uns aus der Krise führen werden, ist tot. Umso innbrünstiger muss der Glaube daran beschworen werden. Und die Deutschen sagen sich wie das fleißige Pferd Boxer in George Orwells „Farm der Tiere“: „Ich will und werde noch mehr arbeiten.“
Unternehmen und Politik befeuern die Flucht in die besinnungslose Betriebsamkeit mit Appellen an die Leistungssteigerung. Besonders deutlich wird das in der Demografie-Politik: Statt nach Wegen zur Lösung des eigentlichen Problems zu suchen und den Menschen mehr Zeit und Sicherheit zu verschaffen für Kinder, wird das Aussterben der Deutschen zu einem Personalproblem der Unternehmen interpretiert – aus dem Ende der Welt, wie wir sie kennen, machen die Effizienzapostel den Popanz des so genannten Fachkräftemangels. Der Lösungsvorschlag lautet: Mehr Menschen, vor allem Frauen, sollen noch mehr arbeiten.
Im 19. und frühen 20 Jahrhundert sprachen die Soziologen viel von der Entfremdung des Menschen von der Arbeit. Der Begriff ist irgendwann aus der Mode gekommen, einerseits weil er durch Karl Marx als kontaminiert galt, andererseits weil die konsumierbaren Früchte der Wohlstandsgesellschaft auch dem Arbeiter verfügbar wurden und das Problem scheinbar gelöst war. Doch was ist der Stolz der Arbeitenden auf ihre Erschöpfung statt auf ihr Schöpfertum anderes als eine Entfremdung? Während Marx und die Väter der Soziologie den Arbeiter vor Augen hatten, der jeden Tag die ewiggleichen Handbewegungen zu verrichten habe für ein Produkt, das er sich nicht leisten kann, hat heute der Angestellte im Großraumbüro den Sinn seiner Arbeit aus den Augen verloren. Er hat zwar studiert und verdient gut, aber am Abend weiß er vor lauter Erschöpfung nicht mehr, was er am Tage geschaffen hat.
Was kann man also tun? Man kann aufhören, auf die eigene Erschöpfung stolz zu sein, und vor allem aufhören, anderen Menschen allzu viel Anerkennung für deren Erschöpfung zu zollen. Arbeit an sich ist es nicht wert, überhöht zu werden. Wenn sie die Menschen auslaugt und erschöpft, muss sie begrenzt werden. Ihren Wert erhält Arbeit nur durch die Werke, die aus ihr hervorgehen. Diese Schöpfungen müssen gegen die Erschöpfung der Arbeitenden abgewogen werden.