Downshifting Abschied vom Aufstieg

Im besten Fall kennt die Karriereleiter nur eine Richtung: aufwärts. Warum sich Spitzenkräfte dennoch für den Schritt zurück entscheiden.

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Menschen auf einer Quelle: AP

Ob ihm heute etwas fehle? Kurt Müller muss kurz nachdenken. Sicher, in den ersten Wochen habe er das Gefühl vermisst, die Fäden in der Hand zu halten. Da war auf einmal dieses Informationsloch: Gerade war er noch über alle Schritte im Unternehmen informiert – dann, mit einem Mal und nur einen Tag nach seinem Rücktritt aus dem Vorstand, fielen die Entscheidungen ohne ihn. Er wurde nicht mehr informiert, keiner fragte ihn nach seiner Meinung.„Geschmerzt“ habe dieser Abnabelungsprozess schon. Anfangs. Auf jeden Fall. Das gibt der Bauingenieur freimütig zu. Der Gewinn, den er aus seiner Wahl gezogen habe, aber überwiege für ihn bis heute dennoch. Deutlich sogar.Fünf Jahre lang war Kurt Müller Finanzvorstand und Geschäftsführer von BWT Bau, einem der führenden Bauunternehmen in der Schweiz. Dann entschied er sich für seine berufliche Demission. Freiwillig, wie er betont. Er zog sich aus der Geschäftsführung zurück und rückte in eine Art Assistenzfunktion. „Ich bin die rechte Hand vom Chef“, sagt Müller heute, wenn ihn einer nach seiner aktuellen Position fragt. Darin klingt keine Bitterkeit, keine Wehmut oder gar Reue.  In seiner neuen Position leitet der 62-Jährige das Marketing – aber auch das nicht mehr mit voller Kraft. Denn Müller verzichtete vor acht Jahren nicht nur auf den Chefsessel, sondern reduzierte auch seine Arbeitszeit drastisch. Zunächst auf 70, mittlerweile sogar auf 60 Prozent. Warum tat er das? „Weil ich mehr Zeit haben wollte für meine Familie, für Freunde.“ Vor allem aber für sein gesellschaftliches Engagement. Müller saß lange im Gemeinderat seiner Heimatstadt, leitete ehrenamtlich den Verwaltungsrat eines überregionalen Pflegezentrums für Senioren. Mit dem Vorstandsposten wäre dieses Nebeneinander von Beruf, Familie und sozialem Engagement kaum vereinbar gewesen. „Ich will das aber nicht erst erleben, wenn ich 65 bin“, sagt Müller.

Runter statt rauf

Manager wie Müller sind Exoten: Spitzenkräfte, die bewusst auf Position, Prestige und Gehalt verzichten und einen Schritt zurückgehen: die Karriereleiter wieder hinunter. Doch ihre Zahl steigt. Wer sich bei Personalcoachs umhört, erfährt: Immer häufiger fragen Führungskräfte in jüngster Zeit nach einem eleganten Ausstiegsszenario. Sie wollen raus aus dem Hamsterrad von 60-Stunden-Wochen, Reisestress und ständiger Erreichbarkeit. Gerade junge Manager akzeptieren das Dogma „Höher ist besser“ nicht mehr unreflektiert, lehnen Karriere- und Gehaltssprünge zulasten ihres Privatlebens ab oder ziehen einer Führungs- die Fachkarriere vor. Längst hat das Phänomen, das in den USA bereits verbreiteter ist, einen einprägsamen Namen: „Downshifting“ – einen Gang herunterschalten. In einer Studie gaben 48 Prozent der amerikanischen Berufstätigen an, in den zurückliegenden fünf Jahren ihre Arbeitszeit verringert, eine Beförderung abgelehnt oder ihre Ansprüche und Berufsziele heruntergeschraubt zu haben. Freiwillig wohlgemerkt. Die Gründe dafür sind ganz unterschiedlich. Die einen stehen kurz vor einem Kollaps, einem Burn-out, weil die Arbeitsbelastung sie zu ersticken droht. Die anderen wollen mehr Zeit für die Familie haben, für ihre Kinder, für die pflegebedürftig gewordenen Eltern oder ganz einfach für sich selbst. Und es gibt auch jene Spitzenkräfte, die sich eingestehen: „Meine derzeitigen Aufgaben langweilen mich nur noch. Ich suche etwas Neues, Aufregenderes – jenseits des Routinejobs.“ Prominente Vorbilder gibt es durchaus. Am bekanntesten ist wohl Angie Sebrich, die ehemalige Kommunikationschefin des Musiksenders MTV. Heute leitet sie eine Jugendherberge in Bayrischzell und bekommt nur noch ein Drittel ihres damaligen Gehalts. Oder Claus Rottenbacher. Einst mit Ampere ein Star der New Economy. Doch nach einem Burn-out zog er sich zurück und verdient seinen Lebensunterhalt inzwischen als Kinderfotograf in Berlin.  Oder Ministerpräsident Matthias Platzeck, der nach nur fünf Monaten seinen Posten als SPD-Chef aufgab und erklärte: „Ich habe meine Kräfte überschätzt.“ Damals erntete er für seine Entscheidung und Ehrlichkeit viel Lob und Anerkennung.

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