Die Beine auf einem Riesenball, den Firmennamen wie ein x-beliebiges Mode-Label auf auf das T-Shirt gedruckt: Wenn Kolja Hebenstreit sich so vor seinen Laptop fläzt, erinnert der 29-Jährige mehr an einen braven Pennäler denn an einen heißen Jungunternehmer.
Das war vor gut eineinhalb Jahren noch anders. Damals wollte sich Hebenstreit noch mit allen Mitteln von den Samwer-Brüdern abheben, die mit ihrem Unternehmen Rocket Internet die Web-Szene der Hauptstadt dominieren. Also kaufte er sich eine Fahne mit dem Logo seiner Internet-Firma Team Europe und hielt diese, wo es sich anbot, in die Luft. Immerhin hatte sich sein Team Europe, das er 2008 zusammen mit dem Gründer des Online-T-Shirt-Bedruckers Spreadshirt, Lukasz Gadowski, auf die Beine stellte, zeitweise an bis zu 16 Berliner Startups beteiligt, um aus ihnen erfolgreiche Internet-Firmen zu machen.
Doch die Zeiten haben sich geändert. Die Flagge hat Hebenstreit in der Team-Europe-Zentrale in der Mohrenstraße in Berlin-Mitte eingemottet. „So würde ich heute nicht mehr auftreten“, sagt er selbstkritisch. Eben noch hipper Web-Unternehmer, hat der Ex-Fahnenträger sich selbst und seiner Firma weniger Show und mehr Realismus verordnet: „Wir haben unser Portfolio bereinigt und stellen nun unsere Unternehmen in den Mittelpunkt“, sagt er.
Wie bei Team Europe ist es überall in Deutschlands Internet-Hochburg. Nach mehreren Boomjahren mit immer neuen vermeintlich immer heißeren Unternehmensgründungen hat der Hype rund um die Internet-Szene in der Hauptstadt spürbare Dämpfer erhalten. Startup-Stars, noch gar nicht so lang aus der Taufe gehoben, mussten an neue Eigentümer verkauft werden, um nicht zahlungsunfähig zu werden. Brutkästen wie Team Europe warfen Schützlinge raus, die die Erwartungen der Investoren nicht erfüllten. Erste größere Pleiten schrecken die Branche auf.
Kapital für Startups
Jüngster Fall ist das Startup HausMed. „Aufgrund drohender Zahlungsunfähigkeit haben wir Ende Januar Insolvenz angemeldet“, musste Geschäftsführer Sascha Bilen am Mittwoch einräumen. Die Idee, Nutzer beim Abnehmen, Stressabbau oder Blutdrucksenken zu beraten, floppte. „Wir haben einen großen Apparat aufgebaut bei Umsätzen, die sich nicht wie erwartet entwickelt haben“, so Bilen. Der Deutsche Hausärzteverband und der Gründer der Versicherungsvermittlung AWD, Carsten Maschmeyer, hatten HausMed finanziert und können das Geld nun abschreiben.
„Das 37. E-Commerce-Nischenunternehmen im Web oder die 28. App braucht halt niemand“, spottet Andreas Thümmler, Gründer von Corporate Finance Partners (CFP). Der „Andi“, wie der 39-Jährige in Berlin heißt, kennt die Szene wie kaum ein Zweiter. Thümmlers CFP kümmert sich seit Jahren um Kapital für Startups und deren Exit, den gewinnbringenden Ausstieg von Gründern oder Kapitalgebern.
Großsprecher verlassen Großartige
Zog Berlin bis zuletzt immer mehr Investoren und Internet-Freaks an, trennen sich nun offenbar die Großsprecher von den Großartigen. „Die jetzige Phase der Konsolidierung ist gesund und reinigend“, sagt Klaus Hommels. Der 46-Jährige hatte mit seinem Züricher Investmentunternehmen Lakestar bisher einen guten Riecher bewiesen und frühzeitig in den Internet-Telefondienst Skype (heute Microsoft) sowie das Business-Netzwerk Xing investiert. „Je früher Startups ohne valides Geschäftsmodell verschwinden, umso besser – denn dann fließt in jene Unternehmen auch weniger Geld“, sagt Hommels.
Noch bis vor einem halben Jahr herrschte ungetrübte Aufbruchstimmung an der Spree, nicht zuletzt beflügelt durch den Erfolg des Internet-Klamottenversenders Zalando aus dem Reich der Samwer-Brüder. Die Szene sonnte sich in Zahlen der landeseigenen Investitionsbank Berlin. Der zufolge war die Zahl der Unternehmen in der digitalen Wirtschaft der Hauptstadt zwischen 2009 und 2011 von knapp 4600 auf 5350 gestiegen, der Gesamtumsatz aller Startups von 7,4 Milliarden auf fast 9,0 Milliarden Euro geklettert und das Heer der Mitarbeiter auf rund 62.400 Beschäftigte angeschwollen. Damit hatte Berlin die Wettbewerber München, Hamburg und Frankfurt deutlich hinter sich gelassen. Neuere Zahlen sind nicht verfügbar.
Zwar gab es bis zuletzt Erfolgsmeldungen. So konnte die hochgelobte Berliner Musikplattform Soundcloud Ende Januar 60 Millionen Dollar frisches Geld bei ihrem US-Risikokapitalgeber Institutional Venture Partners einsammeln. Im November hatte der US-Investor Sequoia Capital, der durch Beteiligungen an Apple, Google und YouTube bekannt wurde, knapp 20 Millionen Dollar in das Startup 6Wunderkinder gepumpt. Das bietet einen digitalen Notizzettel namens Wunderlist für Handys. Durch die neuen Finanzierungsrunden wird Soundcloud nunmehr mit 700 Millionen Dollar und 6Wunderkinder mit rund 60 Millionen Dollar bewertet.
Ernüchterung
Solche Vorzeige-Investments können aber nicht verhehlen, dass die Berliner Internet-Szene eine Läuterung durchlebt. Noch sind Startup-Manager wie 6Wunderkinder-Chef Christian Reber nicht um markige Sprüche verlegen: „Wir haben sechs Millionen Nutzer, Ziel sind 100 Millionen und mehr. Wir wollen richtig, richtig groß werden“, sagte der 27-Jährige im November. Doch in den Augen einer Szenegröße, die ungenannt bleiben will, ist Rebers Wunderlist nicht viel mehr als eine App für Arbeitsabläufe. „Das gibt es schon mannigfach – und hat keinerlei Mehrwert.“
Richtig fortgeschritten ist die Ernüchterung bei den Chefs von Team Europe. „Zu viele Leute haben bei uns an zu vielen und zu kleinen Themen gearbeitet“, räumt Mitgründer Hebenstreit ein. Zusammen mit seinem Kompagnon Gadowski halbierte er deshalb in den vergangenen Monaten die Zahl der Firmenbeteiligungen glatt. Er verkaufte seine Anteile an dem Werbevermarkter Madvertise, an dem Online-Brillenladen Mr. Spex sowie dem Internet-Cerealienshop Mymuesli an die jeweiligen Gründer. Zudem ist Team Europe laut Branchenkreisen auch bei dem Spiele-Inkubator Hitfox sowie Kirondo, einem Secondhand-Marktplatz für Kinderklamotten, ausgestiegen.
Konzentration aufs Wesentliche
„An weniger Unternehmen gleichzeitig zu arbeiten ergibt bessere Ergebnisse, daher die Anteilsverkäufe“, hat Hebenstreit mittlerweile erkannt. Sein Hauptaugenmerk gilt heute dem europaweiten Pizza-Lieferdienst Delivery Hero, der in Deutschland als Lieferheld unterwegs ist. Bei einer Finanzierungsrunde unter Führung des amerikanischen Risikokapitalanbieters Insight Venture aus New York gelang es Delivery Hero Mitte Januar, fast 90 Millionen Dollar einzusammeln – eine der größten Kapitalkollekten in der Berliner Szene.
Neupositionierung, Verkauf von Beteiligungen und Konzentration aufs Wesentliche gehören mittlerweile zur Berliner Internet-Szene wie Dollar zu Startups. Grund für die Kurskorrektur sind die teilweise fragwürdigen Geschäftsmodelle der jungen Entrepreneure. Allmählich zeigt sich, dass es für den Erfolg eines neuen Portals nicht ausreicht, möglichst viele potenzielle Kunden zu erreichen.
Bekannte Kopien erfolgreicher Firmen
Rabattgutscheine übers Internet: Die Idee der US-Plattform Groupon lockte in Deutschland mehrere Nachahmer. Einen davon kaufte sich Google. Aber der erfolgreichste hieß Citydeal: Den Klon der Samwer-Brüder schnappte sich Groupon selbst – im Tausch gegen Firmenanteile, von denen die Citydeal-Gründer und Investoren später einen Teil für 170 Millionen Dollar verkauften.
Zwei Millionen individuelle Produkte, 130.000 Anbieter: „Die Einzigartige“ bedeutet der Name des Online-Marktplatzes Dawanda. Doch das Unternehmen ist ein Klon des US-Portals Etsy.
Rot statt blau – das war anfangs einer der wenigen Unterschiede zwischen Facebook und StudiVZ. Anfangs Marktführer in Deutschland, wurde StudiVZ 2009 von Facebook überholt. Heute fristet es ein Schattendasein.
Kurz nachdem in den USA Twitter gestartet war, ging in Deutschland Frazr auf Sendung. Als Twitter im Jahr 2009 bereits mehr als eine Million Nutzer in Deutschland zählte, gab Frazr auf.
DailyDeal und Citydeal
Das bekam Fabian Heilemann schmerzhaft zu spüren. Der studierte Jurist aus dem westfälischen Hameln hatte Ende 2009 gemeinsam mit seinem Bruder Ferry das Online-Rabatt-Portal DailyDeal gegründet. Ungefähr zeitgleich hatte Oliver Samwer, einer der drei Samwer-Brüder, mit Citydeal ein ähnliches Portal aus der Taufe gehoben und damit die Geschäftsidee vermeintlich geadelt. Und tatsächlich: Die Samwers verkauften Citydeal im Mai 2010 für 126 Millionen Dollar an das US-Vorbild Groupon, das inzwischen an der Börse ist. Eineinhalb Jahre später, im September 2011, zogen die Heilemann-Brüder nach und verscherbelten DailyDeal angeblich für 114 Millionen Dollar an den US-Internet-Riesen Google.
Doch die große Rabatt-Party vor gut zwei Jahren ist vorbei, geblieben ist ein schlimmer Kater. Die Aktie von Groupon notiert heute rund 60 Prozent unter dem Ausgabekurs. Google hat jedes Interesse an DailyDeal verloren. Im Frühjahr 2013 räumten die Heilemann-Brüder ein, sie hätten DailyDeal zurückgekauft und würden das Unternehmen nun wieder „in Eigenregie“ führen. Ob für den Rückkauf von DailyDeal Geld floss und gegebenenfalls wie viel, verschweigen beide Seiten.
Profitabilität
Immerhin haben die Heilemanns aus dem Flop die Konsequenz gezogen und trimmen DailyDeal nun in erster Linie auf Profitabilität, statt die Wachstumsfantasien potenzieller Investoren zu beflügeln. Dadurch komme DailyDeal inzwischen ganz ohne Risikokapital aus, sagt Fabian Heilemann und ergänzt: „Die Szene ist insgesamt sensibler bezüglich Geschäftsmodellen geworden, die Geld verbrennen.“
Die kritischere Sicht der Risikokapitalgeber hinterlässt inzwischen deutliche Spuren in Deutschlands Internet-Dorado. Kürzlich noch hipp und heiß, nähren Unternehmen wie das Meinungsportal Amen oder der Erlebnis-Marktplatz Gidsy zunehmend die Skepsis der Investoren. Die beiden Startups wurden über Deutschland hinaus bekannt, nachdem der amerikanische Hollywood-Star Ashton Kutcher über seine Beteiligungsgesellschaft A-Grade 2011 und 2012 in sie investiert hatte.
Verflogene Euphorie
Doch die Euphorie ist verflogen. Gidsy, 2011 von dem Niederländer Edial Dekker gegründet, scheint in den Tiefen des Internets versunken zu sein. Der Online-Reiseführer mit angeschlossenem Internet-Marktplatz für spezielle Dienstleistungen wie Weinproben reüssierte einfach nicht. Dekker und sein zehnköpfiges Team hatten gut eineinhalb Jahre in einem Industrieloft in Kreuzberg vor sich hin gewerkelt, ohne ein funktionierendes Geschäftsmodell zu finden. Vor zehn Monaten schluckte die in Berlin und Zürich ansässige Buchungsplattform GetYourGuide den Emporkömmling.
Nicht viel besser erging es Amen. Das Portal, 2012 von Felix Petersen zum Leben erweckt, sollte Urteile von Kunden über Currybuden in Berlin oder über die neuesten Kinofilme im Web verbreiten. Wie Petersen damit jemals Geld verdienen wollte, blieb sein Geheimnis. Die Nutzer verstanden die Vorzüge von Amen nicht richtig und blieben immer häufiger weg. Amen geriet zusehends in Schlagseite. Ende August schließlich kam es zum Notverkauf an den Berliner Musikvideoanbieter Tape.tv unter Führung von Conrad Fritzsch, einem ehemaligen Werbefilmer, der nun in der ehemaligen australischen Botschaft der DDR residiert.
Aber Tape.tv bewegt sich als Online-Musiksender ebenfalls auf einem Markt, in dem die Geschäfte schwieriger geworden sind. So schluckte bereits Ende 2012 der amerikanische Online-Radio-Betreiber Senzari das Berliner Musik-Startup WahWah.fm. Gründer Philipp Eibach wollte damit einen sozialen Radio-Streaming-Dienst im Web bauen: Nutzer sollten Lieder, die sie gerade hören, für andere freigeben. Doch die Idee scheiterte an Lizenzproblemen, das Unternehmen kam auch nach zweimaligem Umbau und Neustart nicht auf die Beine. Der neue Eigentümer Senzari stellte den vermeintlichen Hoffnungsträger WahWah.fm im vergangenen Jahr ein.
Börsenkandidaten und ihr Geschäftsmodell
Online-Händler für Kleidung
Homepage-Baukasten
Content- und Werbeplattform
Online-Prospektwerbung
Hersteller von Online-Spielen
Marktplatz für Selbstgemachtes
Hersteller der Teamwork-App Wunderlist
Distributor von Online-Spielen
Online-Essen-Bestellservice
Preisvergleichsservice
Fitness-Apps
Buchungsplattform für Freizeitaktivitäten und Tourismus
Big Data Management
Hotel-Preisvergleich
Online-Kunstauktionshaus
Parfum
Selbst vor Pleiten ist die Berliner Internet-Community nicht mehr gefeit, wie Matti Niebelschütz inzwischen weiß. Der studierte Jurist hatte, so schien es, eine unverwüstliche Geschäftsidee: die Online-Parfümerie MyParfum. Weil die Preise der Duftwässerchen in Läden wie Douglas gepfeffert sind, galt das Angebot maßgeschneiderter Duftkreationen für weniger Geld fast als Lizenz zum Gelddrucken. Investoren öffneten bereitwillig ihre Schatullen, die Mitarbeiterzahl vervierfachte sich von 15 auf 60, in der Vorweihnachtszeit flimmerte sogar Werbung über die Fernsehschirme.
Im März 2013 folgte jedoch das jähe Erwachen. Niebelschütz rauschte mit MyParfum in die Pleite, weil sich das Wachstum nicht wie erhofft einstellte und ihm die Kosten entglitten waren. Im Sommer entschied er sich schließlich, sein Unternehmen aus der Insolvenz zurückzukaufen. MyParfum ist heute eine Klitsche mit 10 statt einst 60 Mitarbeitern.
Kein Risikokapital in Berlin
Experten rechnen damit, dass es solche Pleiten oder Notverkäufe in der Berliner Internet-Wirtschaft noch häufiger geben wird. Grund dafür sind nicht nur erfolglose Geschäftsmodelle, sondern auch fehlende Risikokapitalgeber. „Der Großteil der namhaften Risikokapitalunternehmen sitzt in den USA und London – um Berlin machen die aber weiterhin einen großen Bogen“, sagt Finanzierungsspezialist Thümmler.
Wie weit Berlin auf diesem Gebiet trotz aller Erfolge noch immer abgeschlagen ist, belegen Zahlen des Bundesverbands deutscher Kapitalbeteiligungsgesellschaften (BVK) aus dem vergangenen Jahr. Demnach wurden in Berlin im Jahr 2012 bei 130 Unternehmen insgesamt rund 184,3 Millionen Euro Risikokapital investiert. Im kalifornischen Silicon Valley dagegen haben Venture-Capital-Firmen bei insgesamt 1224 Transaktionen umgerechnet 11,2 Milliarden Euro lockergemacht. Das ist 60-mal so viel.
Die tiefere Ursache für den himmelweiten Abstand sieht Berlin-Kenner Thümmler im weitesten Sinn in der Infrastruktur der Hauptstadt für Risikokapitalgeber, die nicht ansatzweise mit dem Silicon Valley mithalten kann. „Diese Investoren pflegen einen eigenen Lebensstil mit Eliteschulen für ihre Kinder und Luxusimmobilien. Und auch die internationale Anbindung ist wegen der Verzögerung beim neuen Berliner Flughafen eine Katastrophe“, sagt Thümmler. Wenn Berlin es nicht schaffte, diese Klientel anzuziehen, sei der Internet-Hype für die Stadt bald zu Ende.
Steuern
Zu einem weiteren Problem der Berliner Internet-Wirtschaft könnte die Standortfrage in Kombination mit der Steuerlast werden. „Amerikanische Fonds verknüpfen ein Investment oft damit, dass der Hauptsitz eines Startups in die US-Steueroase Delaware verschoben wird“, sagt Investor Hommels. Das verheiße für die Hauptstadt nichts Gutes. „Damit verschwindet das betreffende Unternehmen aus Berlin – gewissermaßen eine Expatriierung qua Finanzierung.“
Kenner glauben, dass es bei einem Ende des Hypes um den Internet-Standort Berlin aber auch Gewinner geben wird: Startups, die weitgehend im Verborgenen arbeiten und sich auf Unternehmen als Kunden kaprizieren. „Das wären dann vor allem Startups aus Bereichen, die vermeintlich unsexy sind“, prognostiziert Investor Hommels, „zum Beispiel Business to Business oder neue Technologien.“